Planet Berlin im Covid-19-Modus: Karl-Marx-Allee

Kolumne

Als gebürtige Berlinerin und Kind vietnamesischer Eltern durchstreift Chi Nguyen gerne die Straßen auf der Suche nach Bedeutung, Hochgefühlen und Wundern. Zurzeit am liebsten auf der Karl-Marx-Allee.

Eingang U-Bahnhof Strausberger Platz

Wohnen in der schönsten Straße

Sich eindeutige Lebensziele zu setzen und sie zu verfolgen ist schwer. Die längerfristige Zukunft vorausplanen, war noch nie so richtig mein Ding. Eins meiner Ziele war, wenn auch anfangs eher so halb ironisch gemeint: Eines Tages möchte ich in der Karl-Marx-Allee wohnen. Dass ich dieses Ziel bereits mit Anfang 20 von meiner Liste streichen kann, erscheint mir immer noch wie ein wirrer Traum. Aber die Sterne standen für mich zur richtigen Zeit in der richtigen Konstellation, kurz vor Beginn der Corona-Krise durfte ich in meine erste eigene Wohnung in der schönsten Straße Berlins ziehen.

Die Karl-Marx-Allee, einst Große Frankfurter Straße und von 1950 bis 1961 Stalinallee erstreckt sich über knapp drei Kilometer durch Friedrichshain und Mitte. Seit dem Lockdown scheint sie, – wie der Alexanderplatz, auf den ich aus meiner Wohnung aus schauen kann – wie in einem Sonntagmorgen erstarrt. Die breiten Gehwege eignen sich ausgezeichnet für Spaziergänge oder meine bevorzugte Fortbewegungsmethode: Fahrradfahren. Aus irgendeinem Grund scheint es auf der Seite, auf der ich meine Radtour beginne, immer schattig zu sein. Dazu kommt oft ein kalter, bei mir Kopfschmerzen auslösender Gegenwind, durch den ich mich erstmal kämpfen muss. Um zum attraktiven Teil der Allee zu kommen, muss ich auch immer erst an einer riesigen Baustelle vorbei, die vom Alexanderplatz bis zum Straußberger Platz verläuft. Erst dort fängt der Abschnitt mit den eindrucksvollen Gebäuden im Stil des sozialistischen Klassizismus an, die die Karl-Marx-Allee so großartig machen. Im Kontrast dazu prägen Plattenbauten aus der späteren DDR das kurze Stück, das zum Bezirk Mitte gehört. Das zugegebenermaßen nicht sehr schön anzusehen ist, aber dennoch voller spannender Geschichte steckt, die es für mich noch weiter zu erforschen gilt.

Zwischen Fahrradfahren, Homeoffice und Existenzängsten

Diese Radtouren genieße ich sehr. Wirklich! Frische Luft tut gut. Bewegung auch. Ich sehe aber auch kein Problem darin, die meiste Zeit eine Couch-Potato zu sein.

Wenn ich mal nicht Fahrrad fahre, sitze ich meistens auf meinem Sofa. Von dort verrichte ich auch meine Arbeit im Home Office. Mein Job bei einem Nachrichtensender zwingt mich, konstant das aktuelle Geschehen, das derzeit bekanntlich vom Coronavirus dominiert wird, zu verfolgen. Das führt dazu, dass ich mir viele Sorgen mache. In dieser Zeit besonders um meine Familie.

Meine Mutter betreibt zusammen mit ihrem Lebensgefährten ein Restaurant in Berlin Wilmersdorf. Vor fast vier Jahren steckten sie alles, was sie hatten, in dieses Restaurant. Die Zeiten, in denen sie Angst um die eigene Existenz hatten, sollten vorbei sein. Wer hätte damals schon mit einer Pandemie gerechnet?

Meine Mutter kam aus Vietnam nach Deutschland und arbeitet hart

Ich denke an alle Geschichten, die mir erzählt wurden. Geschichten, die von jahrelanger harter Arbeit handeln. Jahre, die immer noch nicht enden wollen. Wenn ich eins über Vietnames*innen weiß, dann dass sie unglaublich ausdauernd sind. Hartnäckig, anpassungsfähig und stark. Meine Mutter ist eine davon. Sie kam als junge Frau, ungefähr in meinem Alter, nach Deutschland, verbrachte die ersten Jahre damit, die Sprache zu lernen und mit verschiedenen Gastronomiejobs über die Runden zu kommen. In Vietnam war sie Krankenschwester. Als ich in der Grundschule war, fing sie eine Ausbildung zur Floristin an, denn Blumen und Pflanzen sind ihre Leidenschaft. Das sagt sie heute immer noch. Einige Jahre vor dem Restaurant führte sie auch einen Blumenladen. Der konnte sich aber leider nicht halten. Sie vermisst zwar die Arbeit als Floristin, hat aber genug Pflanzen im Restaurant und zu Hause, wo ihr grüner Daumen weiterhin zum Einsatz kommt.

Tagelang wartete ich in der Online-Warteschlange der Investitionsbank Berlin, um die Soforthilfe für sie zu beantragen. Wie viele sich wohl auch für ihre Eltern durch das Dickicht der deutschen Bürokratie schlagen müssen?

Ich füllte den Antrag an einem Sonntagabend aus. Am darauffolgenden Dienstag schickte mir meine Mutter einen Screenshot vom Kontostand. Dezente Erleichterung machte sich breit.

Mit der staatlichen Hilfe lässt sich aber nur ein Teil der Kosten decken. Unter Einhaltung der Covid-19-Bestimmungen öffnet meine Mutter immer noch sechs Tage die Woche das Restaurant. „Lieber ein bisschen Umsatz jeden Tag als gar keinen“, sagt sie. Sie hat sich ihre Nähmaschine von Zuhause mit ins Restaurant genommen und näht zwischendurch Gesichtsmasken.

Nicht nur der Trubel im Dong Xuan Center in Lichtenberg ist zum Erliegen gekommen

Das Dong Xuan Center in Lichtenberg, in dem auch meine Mutter regelmäßig für sich und das Restaurant einkauft, ist das Zentrum der vietnamesischen Community in Berlin. Es ist bekannt für die unzähligen, langgestreckten Lagerhallen mit Restaurants, Läden, die jeden erdenklichen Schnickschnack verkaufen, gut sortierten Asiamärkten, günstigen Nagelstudios und Friseuren. Seit die Pandemie durch Europa fegt, haben alle Geschäfte, bis auf die Asiamärkte, geschlossen. Der Trubel, der sonst einem Markt in einer Hanoier Seitenstraße gleicht, ist zum Erliegen gekommen.

Ich lese Artikel über Vietnames*innen, die ihren Vorrat an Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel aus ihrem Großhandel für Nagelstudiobedarf an Krankenhäuser spenden. Artikel über ehemalige Vertragsarbeiter*innen, die sich zusammentun, um Stoffmasken für Bedürftige zu nähen, um der Stadt etwas zurückzugeben. Ich lese aber auch Artikel über vermehrte rassistische Übergriffe gegen asiatisch gelesene Menschen. Freund*innen erzählen mir, wie sie auf offener Straße beleidigt werden, ihnen Coronawitze hinterhergerufen werden.

Vieles fühlt sich zurzeit schwer an. Die Unsicherheit, wie lange wir als verwöhnte Gesellschaft noch Verzicht üben müssen. Die Nachrichtenlage, die, egal wie rational ich auch sein mag, in mir eine unterschwellige Panik, angesteckt zu werden, auslöst. Abgesehen von allen anderen Krisen, die durch Corona so weit in den Hintergrund gerückt sind, dass man sie einfach ausblenden kann.

„Quarantine Cooking“

Ich versuche mich auf Momente der Leichtigkeit zu fokussieren. Zum Beispiel beobachte ich täglich meine Pflanzen beim Wachsen. Meine Monstera hat seit dem Lockdown drei neue Blätter bekommen. Zeit meinem Hobby Kochen nachzugehen, habe ich auch genug. Aus einem vietnamesischen Haushalt kommend, bin ich quasi mit einer Leidenschaft für das Essen geboren. Ich habe sogar eine Serie auf Instagram gestartet, die ich liebevoll „Quarantine Cooking“ nenne. Ob das jemanden wirklich interessiert, ist mir dabei egal. Meine Mitbewohnerin scheint sich aber über meine Kreationen zu freuen. Generell verbringe ich sehr viel Zeit in Sozialen Netzwerken. Während eines Instagram-Live Schreibworkshops von Rupi Kaur habe ich mein erstes Sonett geschrieben. Auch der Aufenthalt auf Streaming-Plattformen hat sich in den letzten Wochen wahrscheinlich verdreifacht. Meine „Songs des Jahres Playlist“ wurde um viele neue Lieder erweitert und einige Filme kann ich von meiner „Must Watch Liste“ streichen.

Und auch wenn meine eigene Quarantäne in Wahrheit mehr als nur erträglich ist, kann ich es kaum erwarten, wieder mit Freunden beim Späti am Rosenthaler Platz zu sitzen, endlich die Grießmühle im Exil zu besuchen und bei Kimchi Princess ein Bibimbap zu löffeln. Ich will der Sonne beim Untergehen auf dem Tempelhofer Feld zusehen und den Landwehrkanal entlang spazieren. Mich unter der Woche aufs Wochenende freuen und mich über die Menschenmassen am Alexanderplatz aufregen. Ich will zurück in die Uni und auch zur Arbeit gehen können. Diese Leichtigkeit will ich zurück.

Doch bis das wieder möglich ist, drehe ich weiter geduldig meine Runden auf der Karl-Marx-Allee.

 

Chi Nguyen studiert Kulturjournalismus an der Universität der Künste und arbeitet nebenbei bei einem Fernsehsender.

 


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.