Der Kampf um das Bleiberecht in den 1990er Jahren - oder „Das Private ist das Politische.“

Kommentar

Die Rechte der ehemaligen VertragsarbeiterInnen der DDR wurden hart erkämpft. Karin Hopfmann berichtet über die Proteste und Bemühungen der Bewegung, die sie hautnah miterlebt hat.

Kinder sitzen vor einem Banner, Demo gegen die Abschiebung von ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter/innen

Ohne den gut gefüllten Stehordner mit der Aufschrift: „VertragsarbeiterInnen DDR“ in meinem privaten Archiv wäre dieser Beitrag kaum möglich, denn die Erinnerung an Details verblasst über die Jahrzehnte und die Bibliotheken und Archive sind zur Zeit geschlossen.

Als ich die Anfrage für diesen Beitrag erhielt, hatte ich eine Assoziation: Ohne den erfolgreichen Kampf einer Minderheit von ehemaligen VertragsarbeiterInnen und ihrer UnterstützerInnen um ein Bleiberecht in den Jahren 1990 bis 1997, zu denen ich zählte, hätte mein Sohn Caspar nicht die Tochter eines vietnamesischen Vertragsarbeiters kennengelernt und geheiratet. Es gäbe meinen Enkelsohn David Nam nicht. So eng hängt das Private mit dem Politischen oft zusammen, so passiert Geschichte.

Das Foto von einer Demonstration und Straßenblockade gegen die Abschiebung von DDR-VertragsarbeiterInnen und für das Bleiberecht im Sommer 1992 in Berlin-Mitte steht am Beginn des persönlichen Spannungsbogens. Vor einem großen Transparent sitzt der Blondschopf Caspar, damals sieben Jahre alt, neben seiner Schwester und der kleinen Mi, der Tochter einer vietnamesischen Kollegin. Er war dabei, das ist sogar dokumentiert. Natürlich hat er keine Erinnerung an dieses Ereignis. Meine Schwiegertochter Dung (geboren 1991 in Vietnam) staunte, als ich ihr die Vorgeschichte ihrer Einreise nach Deutschland im Jahr 1996 erzählte. Ihr Vater, seit 1988 Vertragsarbeiter in Rathenow (Brandenburg), kehrte nach dem Verlust seiner Arbeit 1990 zunächst zu Frau und Kindern nach Vietnam zurück. Er hatte nach der ersten Bleiberechtsregelung 1993 die Möglichkeit, wieder nach Deutschland zu kommen und seine vier Kinder nachzuholen, eins nach dem anderen.

Aufenthalt nur mit Genehmigung

Vor mir liegt die Materialsammlung „Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an ehemalige DDR-Vertragsarbeitnehmer aus Angola, Mosambik und Vietnam – Bleiberechtsregelung vom 17. Juni 1993“, herausgegeben vom Arbeitskreis gegen Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern. Die Aufenthaltsbefugnis war ein Aufenthaltstitel nach dem seit 1991 geltenden Ausländergesetz der Bundesrepublik Deutschland. Sie bedeutete die Erteilung eines auf höchstens zwei Jahre befristeten und mit Vorbedingungen verbundenen Aufenthaltes. So unbefriedigend diese Lösung für die nicht ausreisewilligen VietnamesInnen und uns war, sie war hart erkämpft und ein erster Schritt für Tausende ehemalige VertragsarbeiterInnen auf einen zumindest befristeten legalen Aufenthalt.

Die Regelung trat fast genau drei Jahre nach einer Verordnung in Kraft, die am 13. Juni 1990 noch von der letzten DDR-Regierung erlassen wurde. (Siehe dazu den Beitrag von Almuth Berger in dieser Dokumentation.) Zuerst wurden im Mai 1990 die bilateralen Verträge der DDR mit Vietnam geändert und dann kam die Änderungsverordnung mit den erleichterten Kündigungsmöglichkeiten der VertragsarbeiterInnen. Einige Vorteile für die VertragsarbeiterInnen brachte die Verordnung allerdings auch: Sie durften nach einer Kündigung bis zur ursprünglich vorgesehenen Dauer ihrer Arbeitsverträge bleiben. Das war lediglich eine Zwischenlösung mit der Perspektive, letztlich ausreisen zu müssen, mehr nicht.

Die geänderten Regierungsverträge mit Vietnam, Angola und Mosambik und die letzten Entscheidungen der DDR-Behörden vom Juli 1990 liefen darauf hinaus, die arbeitslos gewordenen oder vor der Entlassung stehenden VertragsarbeiterInnen mit finanziellen Anreizen zum Verlassen der DDR zu bewegen. Ausreisewillige erhielten eine Abfindung von 3.000 Mark (der DDR, später Deutsche Mark), eine Ausgleichszahlung in Höhe von 70 Prozent der letzten drei Monatslöhne und ein Flugticket nach Vietnam. In den Einigungsvertrag wurden die Änderungsverordnung und die Abfindungsregelungen übernommen.

Gleichbehandlung für alle!

Dort wurde allerdings nicht festgelegt, welcher Aufenthaltstitel für diejenigen gelten sollte, die noch einige Jahre oder auf Dauer bleiben und in Deutschland arbeiten wollten und sich gute Chancen ausrechneten, das zu schaffen. Für sie begann der Kampf um eine Bleiberechtsregelung, den sie nicht allein gewinnen konnten. Ihre Selbstorganisation stand noch in den Kinderschuhen und politische Aktionen waren den meisten VietnamesInnen fremd und bis dahin ohnehin verboten.

Wir Ostdeutschen, auch gerade erst im Aufbruch in eine neue Gesellschaft und in der Gründungsphase unserer migrationspolitisch ausgerichteten  Vereine, versuchten sie nach Kräften zu unterstützen und eine Lobby für sie aufzubauen. Unsere Motivation war einfach: Wir forderten eine Gleichbehandlung mit den ehemaligen „GastarbeiterInnen“ aus Italien, Griechenland, Spanien, Jugoslawien und der Türkei in den alten Bundesländern und waren gegen eine Schlechterstellung ihnen gegenüber. Wir traten für eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung nach acht Jahren Arbeitsaufenthalt bzw. eine befristete Aufenthaltserlaubnis in den Jahren bis dahin ein.

Das Jahr 1992 wurde zum Höhepunkt der Aktionen für eine Bleiberechtsregelung. Ich erinnere mich an die „Vietnamkonferenz –  Probleme und Perspektiven der Integration von vietnamesischen ArbeitnehmerInnen in den neuen Bundesländern“  des Arbeitskreises gegen Fremdenfeindlichkeit am 12. und 13. März 1992 in Berlin. Die Dokumentation mit den Redebeiträgen ging Mitgliedern des Bundestages und weiteren PolitikerInnen zu, um sie rechtlich und politisch zu informieren und Initiativen einzufordern. Ich erinnere mich auch an eine Petition/Resolution der neu gegründeten Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg an die Bundesregierung, an die Gründung eines Initiativbündnisses für die Sicherung des Bleiberechts und an die bereits erwähnte Demonstration/Straßenblockade in Sichtweite des Roten Rathauses in Berlin-Mitte im Sommer 1992.

Menschenkette des Aktionsbündnisses
Demonstration/Straßenblockade des Aktionsbündnisses im Sommer 1992 gegen die Abschiebung von DDR-VertragsarbeiterInnen, für das Bleiberecht (1/Menschenkette)

Unter dem Titel „Die ausländischen Arbeitnehmer sollen bleiben! Wann fällt eine Entscheidung?“ veröffentlichten die Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg eine Chronik der bundesweiten Initiativen für ein Bleiberecht. Unterstützt wurden sie von Initiativen in der Zivilgesellschaft, Kirchen und von einzelnen PolitikerInnen. So unter Druck gesetzt, beauftragten die Regierungschefs von Bund und Ländern am 17. Dezember 1992 die Innenminister der Länder, sich mit der Lage der ehemaligen VertragsarbeiterInnen der DDR zu befassen und „eine humanistische Lösung unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer und der erreichten Integration“ zu finden.

Bis zum 30. April 1993 sollte ein begrenzter genereller Abschiebestopp gelten. Mitgeliefert wurde ein erster Lösungsvorschlag mit teils wirklichkeitsfremden, teils ungesetzlichen Regelungen wie z.B. die an eine Vorrangprüfung gebundene Arbeitserlaubnis. Das bedeutete in der Praxis: Wenn ehemalige VertragsarbeiterInnen ein konkretes Arbeitsangebot von einem potentiellen Arbeitgeber vorlegten, wurde zunächst vom Arbeitsamt geprüft, ob das Angebot von einem/einer arbeitssuchenden Deutschen oder einer anderen rechtlich bevorteilten Person angenommen werden kann. Eine Familienzusammenführung mit EhepartnerInnen und Kindern aus Vietnam sollte ausgeschlossen werden.

Einsatz für die Rechte ehemaliger DDR-VertragsarbeiterInnen

Gegen diesen Satansvorschlag galt es, noch einmal mobil zu machen. Es wurden zahlreiche kritische Stellungnahmen von Betroffenen, RechtsexpertInnen, Ausländerbeauftragten und weiteren in der Sache Engagierten organisiert. Einige Initiativgruppen für die Sicherung des Bleiberechts ehemaliger DDR-VertragsarbeiterInnen luden für den 13. März 1993 zu einer Manifestation in das Haus der Demokratie in Berlin ein und legten eine Erklärung zum Vorschlag des Bundesinnenministers und einen Forderungskatalog vor.

Die in wesentlichen Punkten überarbeitete Bleiberechtsregelung vom 17. Juni 1993 war für uns ein Schritt in die richtige Richtung, keine Lösung. Hierzu muss man wissen, dass die Regierungen in Bonn und Hanoi 1995 ein Regierungsabkommen über eine geplante Rückführung von 40.000 VietnamesInnen gegen 100 Millionen DM Entwicklungshilfe abgeschlossen hatten. Es zielte hauptsächlich auf die Rückführung solcher VietnamesInnen, die nach dem Ende der DDR in die Bundesrepublik gekommen waren und war aus Sicht der Bundesregierung nötig, weil nach damaligem vietnamesischem Recht VietnamesInnen, die ihr Heimatland illegal verlassen hatten, ein Rückkehrrecht verwirkt hatten.

Das Abkommen machte aber auch Druck auf ehemalige VertragsarbeiterInnen, die legal aus Vietnam ausgereist waren. Im Alltag war die Bleiberechtsregelung ein Hürdenlauf mit nicht enden wollenden Hindernissen. Ich habe die Bemühungen, dem ein Ende zu setzen, ab 1995 auf politischer Ebene auch als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses unterstützen können.

Dann endlich, 1997, entschloss sich die Bundesregierung zu einer Neuregelung des Bleiberechts für ehemalige VertragsarbeiterInnen. Wenn diese bestimmte Vorbedingungen erfüllten, konnten sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten und erhielten für sich und ihre Familien eine Perspektive in Deutschland.

Hut ab vor denjenigen, die es geschafft haben.

Hochzeitsfoto von Caspar und David Nam
Die junge deutsch-vietnamesische Familie Dung, Caspar und David Nam im Januar 2018 (Hochzeitsfoto)

Dazu könnte ich den Vater und die Stiefmutter meiner Schwiegertochter noch einmal befragen. Ich habe ihnen über meine Schwiegertochter eine kleine Foto-Text-Dokumentation über unseren Kampf für das Bleiberecht im Sommer 1992 auf den Straßen in Berlin geschickt. Sie wussten natürlich nicht, dass Caspar damals dabei war und freuten sich über diese unerwartete Geschichte. Das Dokument wird für den kleinen David Nam aufbewahrt. Ich bin sicher, seine „Vorgeschichte“ wird ihn einst interessieren. Einstweilen sitzt der Zweieinhalbjährige gerade beim Schreiben dieses Beitrages neben mir am Tisch und sagte gerade: „Oma schäftigt.“ und ist ganz geduldig, als wüsste er, dass es auch um ihn geht.