Ohne Frankreich kann eine deutsche EU-Präsidentschaft nicht gelingen

Hintergrund

Noch könnte Europa nachhaltig aufgestellt und gestärkt aus der Pandemie-Krise hervorgehen. Aber nur, wenn das deutsch-französische Tandem funktioniert. Die Pläne für einen Wiederaufbaufonds über 500 Milliarden Euro markieren eine Kehrtwende in die richtige Richtung.

Französische Nationalfahne an einem Gebäude über einer roten Ampel

„Deutsche Ärzte haben mir das Leben gerettet“, sagt Jean-Michel Marsal. Der schwer an Covid-19 erkrankte Franzose aus Mülhausen war angesichts der völlig überlasteten Krankenhäuser im Elsass in ein Krankenhaus nach Freiburg geflogen worden. Als er aus dem Koma erwachte, hörte er erstaunt nur deutsch um sich herum. Er erzählte seine Geschichte in den französischen Hauptnachrichten. Die Aufnahme von Schwerkranken aus Frankreich war ein wichtiges Zeichen deutsch-französischer Solidarität. Ermöglicht vor allem durch einige Bundesländer wie etwa Baden-Württemberg.

Den Totalschaden gerade noch abgewendet

Auf der Ebene von Berlin und Paris war von Partnerschaft oder gar einem Tandem über zwei Monate im Krisenmodus angesichts des Coronavirus und seiner Folgen allerdings weit und breit nichts zu sehen. Noch nicht einmal ein deutsch-französischer Ministerrat per Videokonferenz wurde einberufen. Einen Totalausfall der deutsch-französischen Beziehungen und das damit verbundene Risiko einer Isolierung in Europa, vor allem gegenüber Südeuropa, wollte und konnte sich die deutsche Bundesregierung letztlich doch nicht leisten. Das hätte einen Totalschaden für die im Juli beginnende EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands bedeuten können. Mit der am 18. Mai vorgestellten gemeinsamen Initiative konnten Paris und vor allem Berlin gerade noch einmal die Kurve bekommen. Damit aus diesem gemeinsamen Plan nun europäische Realität wird – dafür müssten beide Seiten nun wieder wirklich an einem Strang ziehen und mit ihrer traditionellen Rolle als zugkräftige Lokomotive die deutsche EU-Ratspräsidentschaft dazu nutzen, Europa in dieser Krise zu stärken.

Erst vor einem Jahr unterzeichneten Frankreich und Deutschland feierlich eine Neufassung des Elysée-Vertrages: Den Aachener Vertrag, der im Januar dieses Jahres in Kraft trat. Ein Jahr mit wichtigen Jubiläen für beide Seiten: Am 8. Mai jährte sich das Ende des 2. Weltkrieges und der deutschen Nazi-Herrschaft über Europa zum 75. Mal. Das europäische Projekt war bekanntlich eine Antwort darauf, gestartet am 9. Mai vor 70 Jahren mit der Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman in Paris. Was seitdem zwischen den einstigen „Erzfeinden“ erreicht wurde, sollte mit dem Aachener Vertrag jetzt verstärkt und vertieft werden:

„Sie leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“,

wird dort unter anderem vereinbart. Nun ist der Kampf gegen das Covid-19-Virus sicher kein Krieg, wie ihn etwa der französische Präsident zwischenzeitlich ausgerufen hatte. Kriege sind gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Staaten, die durch Menschen verursacht und verantwortet und von Menschen auch wieder gestoppt werden können. Der Coronavirus ist weder ein menschlicher Angriff noch ein Krieg, aber in seiner Bedrohung und seinen verheerenden Auswirkungen zweifellos eine zentrale Sicherheitsfrage, die für große Unsicherheiten diesseits und jenseits des Rheins sorgt und beide Gesellschaften an ihre Grenzen bringt, vor allem das so brutal getroffene Frankreich. Mit dem Aachener Vertrag sollte auch das Zusammenwachsen der Grenzregionen weiter vorangebracht werden:

„Beide Regierungen beabsichtigen, in Grenzregionen die Beseitigung von Hindernissen zu erleichtern, um grenzüberschreitende Vorhaben umzusetzen und den Alltag von Menschen, die in Grenzregionen leben, zu erleichtern.“

Geschlossene Grenzen statt Coronabonds

Nur war eine der ersten Maßnahmen, die Deutschland als Reaktion auf die Krise ergriff, das einseitige Schließen der Grenzen zu Frankreich – fast punktgenau zum 25-jährigen Jubiläum des Schengen-Vertrages. Im französischen Fernsehen war zu sehen, wie Französinnen und Franzosen an den Grenzübergängen Richtung Deutschland gestoppt und zurückgewiesen wurden, während Deutsche weiter ungehindert nach Frankreich reisen konnten. Bis heute legt Präsident Macron großen Wert darauf, dass Frankreich keine einzige seiner Grenzen als erste von ihrer Seite geschlossen hätten – so waren etwa die Grenzen zu Italien immer offen.

Nach dem Wiedererrichten der Schlagbäume durch Deutschland gab es alarmierende Berichte, wie längst überwunden geglaubte Ressentiments wiederkehrten: Franzosen sollen beschimpft, mit Eiern beworfen und ihre Autokennzeichen auf deutschen Parkplätzen zerkratzt worden sein. Währenddessen wurde der französische Nachbar so viel stärker vom Covid-19-Virus getroffen, kamen die Krankenhäuser dort an ihre absoluten Belastungsgrenzen, mussten Schwerkranke per Flugzeug und Zug durch das ganze Land transportiert werden und wurde für zwei Monate eine strikte Ausgangssperre verhängt. Fast 30.000 Menschen verloren dort ihr Leben aufgrund des Coronavirus. 

Statt Zusammenhalt in dieser so ernsten Situation klaffte vor allem auch in der Frage einer notwendigen wirkungsvollen gemeinsamen europäischen Antwort auf den wirtschaftlichen Einbruch ein tiefer Graben zwischen Berlin und Paris. Frankreich stand an der Seite von Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und anderer Staaten wie Luxemburg, Belgien und Irland die – wie übrigens auch das Who-is-Who der Wirtschaftsexpert/innen in Deutschland - ein Programm von 1.000 bis 1.500 Milliarden für Europa forderten, ermöglicht durch vergemeinschaftete Schuldentitel, den sogenannten Coronabonds. Die Große Koalition in Berlin verweigerte sich dem hartnäckig, dabei der ideologischen Linie seit der Eurokrise und den Griechenland-Hilfen folgend, jede Form gemeinsamer europäischer Schuldenaufnahme abzulehnen. Stattdessen versuchte Berlin, das beschlossene europäische Paket von über 500 Milliarden für unterschiedliche Formen der Kreditvergabe an und in die Mitgliedsstaaten, etwa über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), als starkes Zeichen europäischer Solidarität in der Krise zu verkaufen.

Deutschland unterstützte lange nur die eigene Wirtschaft

Angesichts von über 1000 Milliarden, mit denen allein die deutsche Bundesregierung der deutschen Wirtschaft unter die Arme greift, verfing das außerhalb von Deutschland und insbesondere in Paris nicht. Laut EU-Kommission entfallen allein auf Deutschland 51 Prozent aller Wirtschaftshilfen in der EU, Frankreich liegt mit 17 und Italien mit 15,5 Prozent weit abgeschlagen davon. Insbesondere auch in Paris wurde zunehmend mit Befremden registriert, dass die deutsche Wirtschaft dadurch mit einem deutlichen Wettbewerbsvorteil aus der Krise heraus wieder durchstarten könnte. Eine Wirtschaft übrigens, die aufgrund ihrer Exportorientierung angesichts der starken Einschränkungen im weltweiten Warenverkehr ganz besonders auf den europäischen Binnenmarkt angewiesen sein wird. In diese bereits angespannte Lage platzte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches in ganz Europa und insbesondere auch in Paris großes Unverständnis und heftiges Kopfschütteln auslöste. Nicht nur, dass damit in einer ohnehin sehr heiklen Situation der Euro und die Eurozone in gefährliche Fahrwasser geraten könnte. Mit Unmut wurde an der Seine zur Kenntnis genommen, dass eine deutsche Verfassungsinstitution einer europäischen Institution Regeln vorschreiben will. Keine guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche deutsche EU-Ratspräsidentschaft.

Letztlich wirkte dieses Urteil offenbar wie der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die bisherige Linie der deutschen Bundesregierung wie ein Kartenhaus zusammenstürzen lies: Während Berlin vor allem damit beschäftigt war, die Anwendung der Stabilitätskriterien und einer damit verbundenen Austeritätspolitik in Europa einzufordern, überließen Merkel & Co der Europäischen Zentralbank (EZB) die Rettung des Euro und den Einsatz für einen Zusammenhalt der Eurozone mittels des berühmten „Whatever it takes“ des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi. Frankreichs Präsident Macron wurde mit seinen Vorschlägen für ein gemeinsames Budget der Eurozone, eine/n Eurofinanzminister/in sowie einer entsprechend stärker vergemeinschafteten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die demokratisch legitimiert und kontrolliert ist, von Berlin lange hingehalten und dann kühl abgewiesen. Für einen solchen scheinheiligen europapolitischen Kurs der deutschen Bundesregierung wurde dann ausgerechnet die EZB vom deutschen Bundesverfassungsgericht abgewatscht, welches dafür eigentlich nicht zuständig ist.

Der Wiederaufbaufonds ist eine Kehrtwende in Merkels Europapolitik

Eine Kehrtwende war entsprechend überfällig – kam dann aber doch überraschend. Mit der am 18. Mai vorgestellten gemeinsamen Initiative tritt ein deutsch-französisches Tandem endlich wieder einma kräftig in die Pedale, insbesondere mit dem vorgeschlagenen Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro, für den sich die EU und damit alle Mitgliedstaaten gemeinsam verschulden sollen. Zugutekommen sollen diese Mittel als direkte Finanzierung und Investitionen - und eben nicht Kredite - zielgerichtet Ländern und Regionen, die besonders von der Pandemie und ihren Folgen betroffen sind.

Das ist ein großer Schritt für die deutsche Bundesregierung und eine bemerkenswerte Kehrtwende in Merkels Europapolitik nach nun fast fünfzehn Jahren im Amt. In nur wenigen Wochen wurden damit drei vermeintlich unumstößliche Tabus vor allem konservativer Politik in Deutschland geschleift: Die Abkehr von der heiligen Kuh der „schwarzen Null“, das Aussetzen der Maastricht-Kriterien und jetzt die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme. Diese darf nicht Bonds heißen und wird als Teil des insgesamt noch zu verhandelnden und zu beschließenden mehrjährigen Finanzrahmens der EU von der Kommission verwaltet und verantwortet – aber im Kern geht es genau in die Richtung, die Präsident Macron seit längerem einfordert. Entsprechend wurde dieser für seinen Erfolg gefeiert in der französischen Presse. In einer Situation, in der die französische Regierung stark kritisiert wird für ihr Krisenmanagement.

Viel wichtiger ist allerdings, dass Berlin und Paris damit gemeinsam einen möglichen Kompromiss aufzeigen, für den sie jetzt kräftig werben müssen. Insbesondere gegenüber Ländern, deren Reaktionen umgehend kritisch bis ablehnend ausfielen: den Niederlanden, Österreich, Schweden und Dänemark. Frankreich kann jetzt in Richtung Südeuropa als Brückenbauer fungieren und Deutschland in Richtung dieser Länder sowie gegenüber Mittel- und Osteuropa.

Deutschland und Frankreich müssen beispielhaft vorangehen

Fraglich ist allerdings, ob die 500 Milliarden ausreichen werden. Das Europäische Parlament hat in seiner Resolution 2000 Milliarden als notwendig gefordert und beschlossen. Fraglich ist auch, ob dieser Wiederaufbaufonds wirklich vorrangig für einen European Green Deal eingesetzt wird – wofür sich die deutsch-französische Initiative klar ausspricht. Die jetzt so umfangreichen Mittel zur Krisenbewältigung können nur einmal aufgebracht werden. Umso wichtiger ist es, damit die notwendige sozial-ökologische Transformation hin zu einem klimaneutralen Europa bis spätestens 2050 voranzubringen. Es wäre völlig widersinnig, von der Pandemie-Krise in die Klimakrise zu schlittern – und diesmal sehenden Auges und in vollem Bewusstsein der möglichen Folgen. Hier wird der Teufel im Detail liegen, wie die gegenwärtigen Diskussionen um den Wiederaufbauplan zeigen, den die Kommission Ende Mai präsentieren will und wofür die deutsch-französische Initiative eine wichtige Referenz sein wird.  

Nur müssten Deutschland wie Frankreich dafür auch jeweils selbst beispielhaft vorangehen in Bezug auf ihre jeweiligen Programme für die Unterstützung im eigenen Land. Das gilt für staatliche Hilfen für die Luftfahrtindustrie, die an einen ökologischen Umbau wie das Streichen von Inlandsflügen gekoppelt werden, was in Frankreich zumindest in Ansätzen geschieht, während Deutschland hier nichts unternimmt. Das gilt genauso für mögliche Unterstützungen der Autoindustrie, die so ausgestaltet werden sollten, dass damit die Wende zur Elektromobilität vorangebracht werden kann. Mit deutsch-französischen Leuchtturm-Projekten, etwa im Bereich der Wasserstofftechnologie, die dann auch weiteren europäischen Partnern offenstehen, könnte eine Dynamik erzeugt werden, der sich auch Länder wie Polen und Tschechien nur schwer entziehen könnten.

Noch könnte Europa nachhaltig aufgestellt und gestärkt aus dieser schweren Pandemie- Krise hervorgehen. Dafür wird das Halbjahr der EU-Präsidentschaft Deutschlands entscheidend sein. Nur mit einem funktionierenden deutsch-französischen Tandem kann diese zu einem Erfolg werden.