Italien: Solidarität und keine Barmherzigkeit

Hintergrund

Die Enttäuschung in der italienischen Gesellschaft gegenüber der EU zu Beginn der Coronakrise hat sich mittlerweile in Zuversicht gewandelt. Nun richten sich die Erwartungen finanzieller Solidarität besonders auf die kommende deutsche EU-Ratspräsidentschaft.

Solidarität und keine Barmherzigkeit: Das Bild einer Euromünze an eine Wand projiziert.

Italienische Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft

Die Unfähigkeit des Europäischen Rats am 26. März 2020, eine klare Entscheidung für eine solidarische, gemeinschaftliche Finanzierung der Krisenfolgen der Corona-Pandemie, insbesondere für die am stärksten betroffenen Mitgliedsstaaten, zu treffen, hatte in Italien heftigste Reaktionen der Regierung Conte, der Medien und der Bevölkerung ausgelöst.

Contes starke Worte „dann machen wir es eben allein“ markierten das Risiko eines Weges, der nicht nur zum Ende des Euro sondern der EU überhaupt führen könnte. Auf dem Höhepunkt der Virusverbreitung war in weiten Teilen der italienischen öffentlichen Meinung die Skepsis gegenüber der Europäischen Union in offene Feindschaft umgeschlagen. In erster Linie war Deutschland dafür verantwortlich gemacht worden. Das Bild des „hässlichen Deutschen“ wurde aufgegriffen und verbreitet. 

Die große Enttäuschung von der EU und von Deutschland

Das Verhältnis Italiens zur EU und zu Deutschland hat sich in den letzten sechs Wochen allerdings wieder entspannt. Dazu haben beigetragen: Kommissionspräsidentin von der Leyen, die nach sehr unglücklichen Äußerungen gegen jede Erwägung von Eurobonds in einem Brief an Conte am 8. April einen ganz neuen Ton einschlug; Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, die nach ihrer früheren mit Empörung beachteten Äußerung, die EZB sei nicht dazu da, die italienischen Schulden abzufedern, umfangreiche Zugeständnisse machte; die italienfreundlichen Artikel, die in den wichtigsten deutschen Medien im April erschienen und auch die konkreten Vorbereitungsschritte für ein vielgefächertes Finanzierungspaket der EU.

Heute schaut Italien und schauen die Italiener/innen überwiegend mit Zuversicht auf die Europäische Union und besonders auch auf die kommende deutsche Präsidentschaft. Gleichwohl bleibt viel zu tun, um die europa- und deutschlandfeindlichen Tendenzen bei den Oppositionsparteien kontrastieren zu können und den Vertrauensverlust in der Bevölkerung auszugleichen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EZB vom 5. Mai, von den Medien beachtet wie vielleicht nie zuvor eine Entscheidung eines deutschen Gerichts, bedeutet allerdings einen gewaltigen Rückschritt. 

Italien setzt seine Hoffnung in den geplanten Recovery Fund

Die Erwartungen an dieses historische zweite Semester 2020 und an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beziehen sich natürlich in erster Linie auf das Finanzpaket und den geplanten Recovery Fund. In einem Brief an die Kommissionspräsidentin vom 8. Mai, forderten Frankreich, Spanien, Griechenland, Portugal und Zypern, dass der Recovery Fond überwiegend nicht rückzahlbare Subventionen bereitstellen und spätestens Ende September zur Verfügung stehen solle.

Zudem solle er von dem siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen abgedeckt werden und bei der Verteilung die von der Krise am meisten betroffenen Länder vorrangig berücksichtigen. Es sollten präzise Vorgaben für die Verwendung gemacht werden. Voraussetzung wäre eine schnelle Verabschiedung des Rahmenhaushalts sowie eine Vorverlegung der Kreditbelastbarkeit auf dieses Jahr. 

Italien erwartet Solidarität - nicht Barmherzigkeit 

Für Italien geht es in erster Linie darum, die Zinsbelastung für die Staatsschulden, die unvermeidlich weiter ansteigen werden, herabzudrücken, das heißt den „Spread“, das Verhältnis zu dem BUND-Zinssatz, zu vermindern. Italien zahlt gegenwärtig 76 Milliarden Euro im Jahr, 3,6 Prozent des BSP, allein an Zinsen.

Bei dem Finanzpaket handelt es sich nicht um einen Akt der Barmherzigkeit, sondern um einen Ausdruck der EU als Solidargemeinschaft von Staaten angesichts der, wenn auch in verschiedenem Ausmaß, alle betreffenden Krise. Notwendige Kontrollen sollten mittels einer einzuführenden europäischen Finanz- und Wirtschaftssteuerung stattfinden. 

Im Bereich der europäischen Asyl- und Migrationspolitik erwartet Italien, dass die EU während der deutschen Präsidentschaft entscheidet, wie sie die 2016 von der Kommission vorgeschlagene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems angehen will. Von den sieben vorgeschlagenen Gesetzesvorhaben sind mindestens zwei nach wie vor äußerst umstritten: die Reform des Dublin-Systems und die Umwandlung der EU-Richtlinie zum Asylverfahren in eine Verordnung bei gravierenden Beschränkungen des Asylrechts.

Vor allem in Bezug auf „Dublin“ wird die Überwindung des Verantwortungsprinzips erwartet, wonach de facto allein den Staaten mit sensiblen Meeresgrenzen die Gesamtverantwortung für praktisch alle Asylsuchenden angelastet wird. Damit verbunden müsste dringend ein verbindlicher Rahmen für die Umverteilung der aus Seenot geretteten und in den Mittelmeerländern ausgeschifften Migrant/innen geschaffen werden.

Angesichts der Unwilligkeit einer Reihe von Mitgliedsstaaten müsste notfalls das Prinzip des „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ Anwendung finden. Es wird auch daran erinnert, dass die Kommission in ihrem „Dublin“-Vorschlag die Gesamtkosten für die Aufnahme eines Asylsuchenden mit 250.000 Euro veranschlagt hat. Das könnte die Bemessungsgrundlage für den von der EU zu finanzierenden Anreiz zur Beteiligung an der Umverteilung sein.

Italien erwartet darüber hinaus stärkere Anreize der EU für die nachhaltige Umstrukturierung von Industrie und Infrastrukturen in Hinblick auf die green economy, die Erreichung der Klimavorgaben, den Ausbau der erneuerbaren Energiequellen sowie den schrittweisen Abbau der Abhängigkeit von Rohstoffimporten aus Drittländern. Schon jetzt ist Italien dafür mit 36 Prozent erneuerbaren Stromenergiequellen, (geplant bis 2030) auf 55 Prozent aufzustocken, relativ gut aufgestellt.

In jüngster Zeit haben wichtige italienische Medien beklagt, dass die bestehenden und geplanten Leistungen der EU für Italien und andere Mitgliedsstaaten nicht ausreichend bekanntgemacht und im öffentlichen Bewusstsein positiv wahrgenommen werden.

Um europafeindlichen Tendenzen entgegenzusteuern sind in Italien deshalb die Erwartungen groß, dass unter der deutschen Ratspräsidentschaft eine schlagkräftige Kommunikationsstrategie entwickelt wird. So wie der Marschallplan noch nach 70 Jahren den meisten Menschen ein Begriff ist, sollte auch das 2 Billionen schwere EU-Finanzpaket in seiner historischen Dimension erkennbar gemacht werden.