Zum Recht auf Bildung in Zeiten der Pandemie

Analyse

Bildung ist systemrelevant. Doch Kinder, Jugendliche und deren Familien gehören schon jetzt zu den großen Verlierern der Corona-Krise. Was geschehen muss, um das Recht auf Bildung auch in Zeiten der Pandemie zu garantieren, analysieren wir anhand von fünf Handlungsfeldern.

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Ein Kind trägt schwarze Kopfhörer und lächelt

1.  Vorrang für Bildung!

Am 16. März 2020 wurden pandemiebedingt Kitas und Schulen in Deutschland geschlossen. Auch wenn die Länder diese Bildungseinrichtungen in den letzten Wochen schrittweise wieder geöffnet und für das nächste Schuljahr die Rückkehr zum Regelbetrieb angekündigt haben: Kinder und Jugendliche und deren Familien gehören schon jetzt zu den großen Verlierern der Corona-Krise. Internationale Studien zeigen, dass die meisten Schüler/innen während der Schulschließungen in ihrer Lernentwicklung deutlich zurückfallen, und dabei verlieren diejenigen, die es aufgrund ihrer sozialen Benachteiligung ohnehin schon schwerer haben, besonders viel.

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich noch weiter, Bildungsarmut und wachsende Ungleichheit sind die Folge. Es sind aber nicht allein die schwer aufzuholenden Bildungsdefizite, die sich nachteilig auf Bildungs- und Erwerbsbiografien auswirken. Hinzu kommen die massive Einschränkung der für die Entwicklung von Kindern notwendigen sozialen Kontakte, die Belastung von Eltern und Familien, ein erhöhtes Risiko von Misshandlungen und sexueller Gewalt sowie die Gefährdung besonders vulnerabler Gruppen (z. B. Kinder mit Behinderungen).

Diese Effekte wurden in den letzten Monaten unterschätzt. Die elementare Bedeutung von Kitas und Schulen für Kinder und Jugendliche wurde unterschätzt. Bildung ist systemrelevant. Bei künftigen Entscheidungen über pandemiebedingte Maßnahmen, die den Bildungsbereich betreffen, muss daher eine neue Abwägung zwischen den Erfordernissen des Infektions- und Gesundheitsschutzes einerseits und dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung andererseits erfolgen, wobei Letzterem hohe Priorität eingeräumt werden sollte. Klug wäre es deshalb auch, wenn bei Entscheidungen über Bildungseinrichtungen in Zukunft die für Bildungspolitik verantwortlichen Minister/innen mit am Tisch säßen, etwa in Pandemieräten, die auf Länderebene eingerichtet werden könnten. Denn auch für das kommende Schuljahr sind ein regional, landes- oder bundesweit erhöhtes Infektionsgeschehen und – damit verbunden – weitere kita- und schulbezogene Maßnahmen absehbar.

Im Kern geht es auch für den Bildungsbereich um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, die das Infektionsgeschehen eindämmen sollen. Ziel aller Schließungsmaßnahmen und Hygienepläne konnte nie sein, jegliche Infektion zu verhindern, sondern Infizierte zügig zu erkennen, Kontaktpersonen zu identifizieren und die Folgen von Erkrankungen für das Gesundheitssystem beherrschbar zu halten. Die Teilpräsenz von Kindern und Jugendlichen hat bis heute nach mehreren Wochen der Lockerung zu keiner erhöhten Zahl von Infektionen geführt. Medizinische Expert/innen verweisen auf Studien, nach denen sich jüngere Menschen seltener infizierten und die Krankheit zumeist erheblich milder verlaufe. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 11. Juni 2020 zudem klargestellt, dass die Nichteinhaltung des Mindestabstands von 1,5 Meter keine unzumutbare Gesundheitsgefährdung für Lehrkräfte darstellt. All dies sollte ermutigen, für das neue Schuljahr von der Prämisse auszugehen, dass das Abstandsgebot zunächst in allen Kitas und Grundschulen entfällt und damit nach den Sommerferien ein Unterrichtsbetrieb in voller Klassenstärke möglich wird. Zügig sollten danach auch die älteren Schüler/innen Unterricht im Regelbetrieb erhalten.

Eine schnelle Öffnung von Kitas und Schulen muss jedoch zwingend einhergehen mit einer regelmäßigen Testung. Die verbesserte Technologie und die erheblich erweiterten Kapazitäten in Deutschland ermöglichen inzwischen die Testung auch großer Gruppen in den Bildungseinrichtungen, die je nach Infektionsgeschehen für alle oder für repräsentative Stichproben von Lehrkräften und Schüler/innen erfolgen kann.

Die im Interesse der Kinder und Jugendlichen dringend gebotene, möglichst rasche Wiederaufnahme des regulären Kita- und Schulbetriebs braucht Mut und Vorsicht, gute Vorbereitung und Flexibilität zugleich. Die von einer Expert/innenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung am 28. Mai vorgelegten detaillierten Empfehlungen für das Schuljahr 2020/21 bieten dafür einen hervorragenden Wegweiser. Mit dieser politischen Intervention wollen wir diese fundierte Stellungnahme nicht doppeln, sondern in einigen Punkten verstärken und ergänzen. Im Kern geht es um den Vorrang, der dem Recht auf Bildung in Zeiten der Pandemie eingeräumt werden sollte.

2.  Lernstände ermitteln – Lernrückstände aufholen!

Zum Beginn des neuen Schuljahres werden die Kompetenzstände der Schülerinnen und Schüler gegenüber früheren Schuljahren erheblich heterogener ausfallen. Die Spreizung der Lernstände zwischen denjenigen, die im Fernunterricht ohne schulische und häusliche Unterstützung vom systematischen Lernen abgekoppelt wurden, und denen, die Hilfsangebote bekamen und diese, zum Teil mit elterlicher Unterstützung, auch nutzen konnten, nimmt zu. Daher sollte gleich zu Beginn des Schuljahres auf der Basis aussagekräftiger Individualdiagnostik in jeder Schule für jedes Kind eine belastbare Feststellung der tatsächlichen Ausgangslage für das kommende Schuljahr erfolgen, um anschließend eine gezielte (kompensatorische) Förderung zu gewährleisten. Zentraler Maßstab sind dabei die in den Bildungsstandards beschriebenen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen.

In vielen Ländern sind in der Vergangenheit durch Qualitäts- und Landesinstitute Instrumente und Aufgabenformate entwickelt worden, die Lehrkräfte webbasiert nutzen können. Neben der Feststellung der Lernausgangslagen zum Schulstart in der Jahrgangsstufe 1 und beim Übergang in die Sekundarstufe (Jahrgang 5 bzw. 7) ist der Einsatz solcher Instrumente auch in den anderen Jahrgangsstufen geboten. So können auch die im Rahmen der Vergleichsarbeiten (VERA) im Jahrgang 3 und 8 in den Ländern vorhandenen kompetenzorientierten Aufgaben für individualdiagnostische Verfahren genutzt werden. Es wäre daher sinnvoll, im kommenden Schuljahr den Einsatz von VERA 3 und 8 nicht auszusetzen, sondern gezielt zur Lerndiagnostik zu nutzen. Die in einigen Ländern bereits gewährte Unterstützung der Lehrkräfte bei der Korrektur und Auswertung durch Externe sollte ausgeweitet werden, um die Lehrkräfte zu entlasten.

Für Kinder und Jugendliche mit größeren Lernrückständen sollten an allen Schulen gezielte individuelle Unterstützungsangebote eingerichtet werden, z. B. die in den USA bereits erfolgreich erprobten Tutorenprogramme (vgl. den Vorschlag von Robert Slavin und Ekkehard Thümler). Hierfür können Lehramtsstudierende, auch Studierende anderer Fachrichtungen oder Teach First Fellows gewonnen werden. Diese Angebote sollten so lange vorgehalten werden, bis wesentliche Rückstände aufgeholt sind.

Neben der individuellen Förderung geht es aber auch darum, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob und in welchem Maße die jetzige Schüler/innengeneration durch die temporäre Schließung von Schulen kurz- und langfristig benachteiligt wird. Deshalb sollten Verfahren wie VERA 3 und 8 auf der Basis repräsentativer Schulstichproben eingesetzt werden, um die Lernstände zu Beginn des neuen Schuljahres im Rahmen des Systemmonitorings verlässlich einschätzen zu können. Ein Jahr später sollten die Testungen in den Jahrgängen 4 und 9 dann wiederholt werden, weil durch eine längsschnittliche Erhebung differenzielle Lernentwicklungen festgestellt werden können. Nur so kann auch die Wirksamkeit der in den Ländern geplanten Unterstützungsmaßnahmen überprüft werden.

3.    Inklusion braucht besondere Aufmerksamkeit in Zeiten der Pandemie!

Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf brauchen ebenso wie solche in sozial schwieriger Lage in Zeiten der Pandemie besondere Aufmerksamkeit und Förderung. Bei Notbetreuungen und Angeboten zum Aufholen von Lernrückständen müssen sie einbezogen werden. Sie sollten so schnell wie möglich das volle Lernangebot als Präsenz-unterricht erhalten. Für das digitale Unterrichtsangebot müssen geeignete Materialien bereitgestellt, der Kontakt zu den Schüler/innen und den Erziehungsberechtigten gehalten und regelmäßig Feedback über den Lernfortschritt gegeben werden. Wie alle anderen Schüler/innen sollten auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bei der Vergabe von digitalen Endgeräten berücksichtigt werden; dabei sind behinderungsbedingte Bedarfe zu beachten. Individuelle Assistenz muss auch bei Fernunterricht zur Verfügung stehen, z. B. Schulhelfer/innen. Ebenso müssen die Therapieangebote gesichert, ggfs. frei praktizierende Therapeut/innen finanziert werden.

Der Übergang von der Schule in die Ausbildung ist in diesem Herbst, insbesondere für Jugendliche mit Behinderungen, extrem schwierig. Die Betriebe sind aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen ohnehin zurückhaltend beim Angebot von Ausbildungsplätzen. Hier müssen besondere, möglichst duale Formate im Übergangssystem entwickelt werden, die einen zeitlich flexiblen Übergang in Ausbildung ermöglichen. Wenn bei allen Anstrengungen keine Vermittlung möglich ist, sollten gerade Jugendliche mit Behinderung ein weiteres Jahr in der Schule verbleiben können.

4. Steuerungsverantwortung wahrnehmen – Aufgaben und Zuständigkeiten klären!

Fast alle Schulgesetze in Deutschland haben den Schulen eine große Eigenverantwortung übertragen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie wichtig es ist, dass von den politischen Vorgaben über das Verwaltungs- und Schulaufsichtshandeln bis zu Schulen und Lehrkräften klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten erkennbar sind und diese auch wahrgenommen werden. Gerade jetzt brauchen Schulleitungen, Lehrkräfte, Schüler/innen und Eltern Klarheit, Transparenz und Verlässlichkeit. Es darf nicht sein, dass z. B. die Quantität des Unterrichtsangebots, die Gestaltung von Präsenz- und Fernunterricht, die Erreichbarkeit von Lehrkräften oder das Feedback zu den Lernfortschritten der Schüler/innen in so hohem Maße auseinanderdriften. Es gab und gibt viele Schulen und Lehrkräfte, die höchst engagiert den Kontakt zu ihren Schüler/innen gehalten und diese gefördert haben, aber eben auch viele andere, bei denen diese Angebote sehr zu wünschen übrig ließen. Häufig gab es nicht einmal in der einzelnen Schule einen Überblick und verbindliche Absprachen über das Ange-bot, das jeweils gemacht wurde. Eigenverantwortung heißt nicht Unverbindlichkeit oder Beliebigkeit.

Von der Kultusministerkonferenz über die Bildungsministerien und Schulverwaltungen der Länder, die Schulaufsichten bis zu den Schulleitungen: Alle Ebenen müssen ihrer Steuerungsverantwortung gerecht werden. Ebenso sind klare und verbindliche Standards sowie politische Vorgaben für den Fernunterricht, für das Verhältnis von Präsenz- und Fernunterricht, für die Erreichbarkeit und das Feedback von Lehrkräften für die Schüler/innen festzulegen und vor allem konsequent umzusetzen. Zur Eigenverantwortung gehört im Übrigen auch die Rechenschaftslegung, sowohl gegenüber der Schulöffentlichkeit als auch der Schulaufsicht. Hierzu gibt es sehr gute Beispiele.

Um den Herausforderungen für den Unterricht in Zeiten der Pandemie gerecht werden zu können, braucht es darüber hinaus die Bereitstellung von Unterstützungssystemen wie Lernplattformen, die von Schüler/innen und Lehrkräften genutzt werden können. Innerhalb einer Schule muss sichergestellt sein, dass die Lehrkräfte bzw. Teams die Arbeit koordinieren, die Schulleitung muss einen Überblick über das Angebot zum Fernunterricht der eigenen Schule haben. Schulintern müssen die Zuständigkeiten für die digitale Kommunikation geklärt sein und die Kompetenz des pädagogischen Personals ggfs. auch durch schnelle Fortbildungen gesichert oder erworben werden.

In fast allen Ländern gibt es Qualitätsrahmen für Schulqualität, die zur Orientierung oder als verbindliche Vorgabe für externe oder interne Schulevaluationen genutzt werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Schule und Unterricht im Rahmen der Pandemie sollten diese Qualitätsrahmen zeitnah um die Aspekte des Distanzunterrichts ergänzt und darauf bezogen Qualitätsmerkmale und Indikatoren entwickelt werden. Damit könnten Schüler/innen, Eltern, Lehrkräfte und Schulaufsichten feststellen, wie gut es den Schulen gelingt, diesen Anforderungen gerecht zu werden. In einzelnen Ländern ist dies bereits erfolgt oder in Arbeit (z. B. in Rheinland-Pfalz und in Berlin und Brandenburg).

Länder, in denen eine systematische externe Schulevaluation stattfindet, sollten im kommenden Schuljahr ihre Instrumente und Verfahren zur Beurteilung der Qualität der Medienbildung und der Digitalisierung unterrichtlicher Lernprozesse so ergänzen, dass sie Schulen ein Feedback geben können, welche Entwicklungsbedarfe es, vor allem im Bereich des Fern-unterrichts, gibt. Der Einsatz der externen Schulevaluation sollte dabei vorrangig in solchen Schulen geplant werden, die aufgrund von schwierigen Rahmenbedingungen vor den größten Herausforderungen stehen. Im Anschluss an die Rückmeldung der Evaluationsergebnisse muss diesen Schulen gezielt ein Entwicklungsbudget zur Verfügung gestellt werden und eine weitere Schulbegleitung erfolgen. Hier sollte auch auf Mittel aus dem DigitalPakt Schule zurückgegriffen werden können.

5. Lehrkräfte verbindlich fortbilden – digitale Formate besser nutzen!

In den Ländern sollte verbindlich vorgegeben werden, dass in jeder Schule in Abhängigkeit von der Schulgröße ein fester Stamm an Lehrkräften über eine zertifizierte Kompetenz zur Entwicklung und Steuerung digital gestützter Lernprozesse verfügen muss. Die Festlegung der dafür erforderlichen Kompetenzen und Standards sollte länderübergreifend im Rahmen der Umsetzung der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ erfolgen.

Nach der Feststellung, welche Lehrkräfte bereits über eine einschlägige Expertise verfügen, legt jede Schule – z. B. im Rahmen ihres Konzepts für die Beantragung von Mitteln aus dem Digitalpakt – dar, wie sie dafür Sorge tragen will, dass sie über ausreichend qualifiziertes Personal verfügt. Soweit dazu Fortbildungen erforderlich sind, müssen dieser innerhalb eines Schuljahres stattfinden. Nur so kann gesichert werden, dass Schulen künftig imstande sind, den digitalen Anforderungen an den Unterricht während einer pandemiebedingten teilwei-sen oder vollständigen Schulschließung gerecht zu werden.

Bei der Fortbildung sollten insbesondere Formate angeboten werden, bei denen Lehrkräfte und Schüler/innen einer Schule (Schwerpunkt Sekundarstufe I/II) gemeinsam die Nutzung von virtuellen Lernräumen üben und sich auf den Fall eines erneuten Fernunterrichts vorbereiten. Darüber hinaus ist bei der Fortbildung ein länderübergreifender Austausch, etwa im Rahmen der regelmäßigen Treffen der Landesinstitute, geboten. Webbasierte Fortbildungsmodule (Webinare usw.) sollten deutschlandweit allen Schulen zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang könnte das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) eine koordinierende Funktion übernehmen.

Unsere Gesellschaft hat die Corona-Krise bislang gut gemeistert. Dennoch haben Kinder und Jugendliche durch monatelangen Ausschluss von ihren Bildungseinrichtungen Verluste erlebt und Schäden erlitten. Es ist unsere Verantwortung, diese Schäden so gut es geht auszugleichen. Diese Aufgabe ist prioritär und nicht aufschiebbar. Alle, die im und für das Bildungswesen Verantwortung tragen, müssen sich dem stellen, entschlossen und sofort.

Berlin, 23.6.2020

Das vorliegende Papier beruht auf Diskussionen der Fokusgruppe Bildungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung. Zu besonderem Dank verpflichtet ist die Stiftung den federführend verantwortlichen Autor/innen Hans-Jürgen Kuhn, Michael Voges und Sybille Volkholz für ihren Einsatz und ihre besondere Gabe, komplexe Diskussionen in ein stringentes und konzises Papier zu überführen. Neben den Autor/innen hat die Fokusgruppe Bildungspolitik folgende Mitglieder: Philipp Antony, Cornelia von Ilsemann, Sylvia Löhrmann, Prof. Dr. Kai Maaz, Katja Stamm, Hannelore Trageser.