Planet Berlin im Covid-19-Modus: Suarezstraße

Kolumne

Ivana Sajko lebt mit ihrem achtjährigen Sohn in Berlin-Kreuzberg. Nachrichten hörte sie wieder auf kroatisch, als Zagreb mitten im Lockdown vom Erdbeben erschüttert wurde.

Bild vom Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts und ein Selfie von Ivana Sajko

Die guten alten Zeiten

Alles begann, als mein achtjähriger Sohn Yves die Phrase "die guten alten Zeiten" verwendete. Es war in der zweiten Märzhälfte, und die guten alten Zeiten lagen gerade einmal zehn Tage hinter uns. In diesen besseren Zeiten war er Zweitklässler, der in die Schule ging, er hatte Gitarrenunterricht und trainierte Kickboxen in der Nachbarschaft, an Wochenenden nahmen wir gerne die Ringbahn in Richtung Osten und sahen uns eine der Projektionen im Planetarium oder ein Puppenspiel in der Schaubude an, danach fuhren wir nach Kreuzberg, um auf der Terrasse vom Südblock Pommes zu essen. Wir schlenderten häufig an den Antiquariaten in der Suarezstraße vorbei, kauften japanische Knabbereien in den Geschäften in der Kantstraße und beendeten den Spaziergang oft in unserem Lieblingskino, in dem einst vor langer Zeit Bowie sang.

Wir besuchten mit den Fahrrädern Flohmärkte und kauften für wenig Geld alte Postkarten und Dinos aus Plastik. Im Frühjahr fuhren wir gerne von der Haltestelle, die sich vor unserem Haus befindet, mit dem Bus bis nach Tempelhof, wo im Zirkus Cabuwazi Werkstätten für Jonglieren und Seillaufen organisiert wurden, danach nahmen wir eine Abkürzung über den Hasenheide-Park bis zum Hermannplatz und suchten uns dort einen Ort, wo wir günstig etwas essen konnten. Wir hatten mehrere Richtungen und Routen, einige waren geeigneter für das Wochenende, andere für den Abend, weitere waren gut für Regen und wieder andere waren für die warmen Tage reserviert. In den guten alten Zeiten pflegten wir die Idee einer Stadt, die man bereisen kann.

„Happy Birthday“ und Füchse im Grunewald

Dann plötzlich begann Yves im Badezimmer zweimal Happy Birthday zu singen und ich den Passanten auf den Straßen auszuweichen. Der verzweigte Blutkreislauf der Stadt wurde auf stille Straßen reduziert, die in den Wald führen, und auf den Pfaden im Grunewald trafen wir mehr Füchse als Menschen. Die Antiquariate auf der Suarezstraße blieben geschlossen, und die Gegenstände in den Schaufenstern ähnelten alten Menschen, die hinter den verstaubten Fenstern eingesperrt waren. Ich gestand Yves, dass ich Angst hatte. Er erklärte mir, dass der Grund dafür mein Sternzeichen im chinesischen Horoskop sei – Hase, er dagegen sei Drache. Er habe keine Angst.

Um meine Ängstlichkeit zu verringern, hörte ich auf, Nachrichten in kroatischer Sprache zu lesen. Schlechte Nachrichten in englischer Sprache zu lesen, machte mich weniger betroffen, während die Nachrichten in deutscher Sprache nur lückenhaft zu mir vordrangen, da meine Kenntnisse dieser Sprache lückenhaft sind, deshalb hatten sie keine Attribute und hörten sich wie Wetterprognosen an – sie waren vergleichsweise heiter. Die Erdkugel dagegen hatte die klaustrophobischen Dimensionen eines überfüllten Raumes angenommen. Doch wir waren nicht alle in diesem Raum zusammengepfercht. Man konnte eindeutig die Klassenunterschiede zwischen denjenigen sehen, die in ihren geräumigen Quarantänen bleiben konnten, und jenen, die keine andere Wahl hatten, als mit gefüllter Lunge in einen überfüllten Wagen der Linie U7 einzutauchen. Ich las mich quer durch die Bücher über Seuchen, zum Beispiel „Plagues in the World History“, und versuchte die aktuellen Ereignisse den Kontinuitäten der Geschichte zuzuordnen, in der jede Krise aufs Neue die Brutalität und die Ungerechtigkeit unserer angeblichen Normalität entlarvt. Ich wusste, dass wir trotz unserer bescheidenen Verhältnisse zu den Privilegierten gehörten. Wir hatten genügend Ersparnisse, um irgendwie alle abgesagten Projekte zu überstehen, genügend Optimismus, um weiterhin Pflanzen auf unserem Balkon zu züchten, und genügend Freunde, um sich nicht einsam zu fühlen in der Stadt, die wir als unser Schicksal gewählt haben. In guten wie in schlechten Tagen.

Kuchen für die nahen Freunde

Einmal in der Woche buk ich vegane Kuchen und verteilte sie an Freunde. Nur an die, die in der Nähe wohnen, da viele allzu weit entfernt leben. Tihana war schon seit Wochen in der Wohnung in Bologna eingeschlossen, und auf die Frage, wie es ihr gehe, antwortete sie mir nur: Dämonische Gedanken und alltäglicher Kampf. Srećko war in Wien steckengeblieben, wo er erfolglos versuchte, sein neues Buch zu beenden, wobei er das Gefühl hatte, dass er trotz all der abgesagten Termine nicht Zeit gewinne, sondern verliere. Tena war mit ihrer Familie in Glasgow, zum Glück, wiederholte sie mit Nachdruck, zum Glück waren sie von London weggezogen, denn die Lage dort war schrecklich, genauso wie in New York, von wo aus es Ivan gelungen war, mit einem rettenden Flug nach Split zurückzufliegen. Siniša durfte die kleine Wohnung in Belgrad nicht verlassen, so dass ihm Bojan das Essen brachte. Miloš wollte von Paris nach Mexiko fliegen, wo seine Enkelin gerade geboren worden war. Doch er flog nicht. In Zagreb starb in dieser Zeit ein Mann, den ich kannte. Seine Freunde versammelten sich bei der Beerdigung, hielten Abstand, jeder in der eigenen Pose der Trauer, als hätten sie sich zufällig am selben Ort befunden. Dragan schrieb mir aus San Diego, dass er und seine Familie das Haus überhaupt nicht verlassen. „Das Schlimmste kommt noch“, sagte er. „Ich kann mir das nicht ausmalen und ich kann mich darauf nicht vorbereiten“, antwortete ich. „Mach dir keine Sorgen, das geht vorbei“, sagte er. „Du warst während des Krieges in Sarajevo“, sagte ich, „du weißt wohl Bescheid“. „Drei volle Jahre dachte ich, dass es nie zu Ende gehen würde, aber es ist doch zu Ende gegangen.“ „Wird das jetzt auch mit uns so sein?“, fragte ich ihn. „Ja, da wir verrückt und voller Liebe sind.“

Zagreb wird vom Erdbeben getroffen

Da wir uns nicht berühren konnten, bekam unsere Sprache Arme und Hände, in der Umarmung der Sprache konnte man Wärme und das Herzklopfen spüren. „Alles ist in Ordnung. Nichts ist in Ordnung. Zwischen den beiden Extremen gibt es einen Millimeter Raum, in den ich mein eigenes Leben presse“, schrieb mir Goran aus Zagreb. Einen Tag, nachdem mich seine Nachricht erreicht hatte, wurde Zagreb vom stärksten Erdbeben der letzten 140 Jahren getroffen. Ein Turm der Kathedrale knickte ab, Häuser stürzten ein, in den Straßen lagen Ziegelsteine, Schornsteine und zertrümmerte Autos. Den ganzen Tag hindurch versuchte ich meine Eltern und Freunde zu erreichen. Wieder begann ich Nachrichten in kroatischer Sprache zu lesen.

Der Journalist Marko Kostanić beschrieb in einem Internetportal den Morgen des 22. März, an dem es die beiden stärksten einer ganzen Reihe von Erdbeben gegeben hatte: „Man sollte also auf die Straße gehen, aber die Menschen meiden, die sich dort bewegten, genauso wie die Gebäude, die sich vielleicht erneut bewegen werden. Wir waren alle mit widersprüchlichen choreographischen Aufgaben, unserer persönlichen Einschätzung des Risikos und glimmernden Impulsen existentieller Angst konfrontiert. Da es kalt war, stand ich nicht an einer Stelle, sondern ging auf und ab, wobei ich versuchte, die choreographischen Widersprüche mit größtmöglicher Präzision zu bewältigen. Das äußerst Bizarre dieser Situation unterdrückte immer mehr die ursprüngliche Angst, und mit der Zeit fühlte ich mich in die Rolle eines ethnographischen Voyeurs, der das Verhalten von Menschen in einer zweifach extremen Situation zu dokumentieren und zu verstehen versuchte. Die Menschen sahen eigentlich wie Amateurtänzer aus, die zu einer komplexen Vorstellung zeitgenössischen Tanzes verpflichtet waren. Allerdings fehlte nicht nur die vierte Wand wie bei jeder Theaterbühne, sondern es drohte auch die Gefahr, dass sich die Erde unter uns öffnen könnte.“

Mit Abstand zusammenhalten

In diesem kurzen Absatz war das Wesen der paradoxen Situation konzentriert, das ich die ganze Zeit spürte: Wir müssen mit Abstand zusammenhalten, wir müssen aushalten, obwohl wir nicht wissen wie, wir müssen vorwärts schreiten, obwohl wir keine Ahnung haben, wohin, wir müssen an die guten alten Zeiten glauben, obwohl es sie nur aus der Perspektive der Zukunft gibt, im Blick rückwärts, und das ist, ob wir es wollen oder nicht, die einzige Zeit, in der wir sie leben können.

 

Aus dem Kroatischen von Alida Bremer

Ivana Sajko wurde 1975 in Zagreb geboren. Sie ist Autorin, Dramatikerin und Regisseurin. Ihre Theaterstücke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und auf internationalen Bühnen gespielt. Sie wurde bereits mit wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem für "Rio Bar" als bestes Prosawerk.


Über die Kolumne:
Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.
In der Kolumne erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.