Sechste Präsidentschaft Lukaschenkas im Zeichen des Protests

Hintergrund

Der belarusische Präsident Aljaksandr Lukaschenka kandidiert erneut und erntet starken Protest.

Bild des Unabhängikeitsplatzes in Minsk, Weißrussland

Für den 9. August sind in Belarus Präsidentschaftswahlen ausgerufen. Der bisher erste und einzige Präsident des Landes Aljaksandr Lukaschenka sucht Legitimität für seine sechste Amtszeit. Bevor er 1994 im Alter von 39 Jahren zum ersten Mal als ein junger Kritiker der Korruption zum Präsidenten gewählt worden war, gab es dieses Amt nicht. Sehr schnell hatte der junge Hoffnungsträger die Verfassung geändert und wurde zum Diktator. Viele seiner Gegner und Kritiker verschwanden. Oppositionelle Parteien gibt es so gut wie gar nicht, die Protestdemonstrationen sind de facto verboten. Sogar von einem Thronfolger ist seit Jahren die Rede – sein jüngster Sohn Mikalaj (15) nimmt seit Jahren kronprinzengleich an amtlichen Terminen teil. Der Wirtschaftseinbruch, das katastrophale Management der Corona-Epidemie und populäre Gegenkandidat/innen lassen Lukaschenkas Unterstützung in der Bevölkerung nun jedoch so tief wie nie sinken.

Konkurrenz wird aus dem Weg geschafft

Schon im Frühjahr wurde klar – diese Wahlen werden anders sein. Im Mai hatte der in der Bevölkerung beliebte Banker Wiktar Babaryka seine Kandidatur angekündigt. Babaryka war bis Mitte Mai Vorstandvorsitzender der Belgazprombank und als aktiver Unterstützer nationaler Kultur bekannt. Mit seiner Stiftung finanzierte er unter anderem die Übergabe tausender Exemplare von Büchern der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch an Bibliotheken im ganzen Land. Er sorgte dafür, dass ein Original der ersten Übersetzung der Bibel in die belarusische Sprache nach Belarus zurückgeholt wurde. Auch die Gemälde von Mark Chagall und anderen belarusischen Künstlern brachte er ins Land.

Daher ist Babarykas Popularität nicht überraschend. Zudem erhielt er Unterstützung nicht nur von Swetlana Alexijewitsch, die in Belarus als unbestrittene moralische Autorität gilt, sondern auch von Uladzimir Matzkewitsch, einem Patriarchen der belarusischen Opposition, der in der Vergangenheit meist Wahlboykotte propagierte. Babaryka sammelte rekordverdächtige 435.000 Unterschriften für seine Kandidatur – so viel hatte kein Kandidat bisher gesammelt. Wenig überraschend wurde Babaryka am 12. Juni zusammen mit seinem Sohn Eduard, dem Leiter seines Wahlstabes, wegen Verdacht der Steuerhinterziehung und Geldwäsche verhaftet. Am 14. Juli entschied die Zentrale Wahlkommission, Babaryka wegen Fehlern in seiner Einkommenserklärung und angeblicher Unterstützung seiner Kampagne aus dem Ausland von der Kandidatur auszuschließen.

Wegen Formfehlern in den Unterstützungsunterschriften abgelehnt wurde die ebenfalls stark beachtete Kandidatur von Valer Tsapkala, einem prominenten früheren belarusischen Diplomaten und Unternehmer.

Ein weiterer aussichtsreicher Kandidat – der Blogger Sergej Tsichanouwskyj – wurde Anfang Juni verhaftet. Ihm wurden Geldwäsche und Androhungen gegenüber der Wahlkommission vorgeworfen. Angeblich wären bei einer Demonstration zu seiner Unterstützung Drohparolen gegen die Leiterin der Wahlkommission Jermoschina zu hören. Jermoschina leitet die Wahlkommission seit 1996 und begleitete Lukaschenko bei allen seinen Wahlen. Auch über 900.000 US Dollar sollte die Polizei während einer 12-stündigen Durchsuchung Tsichanouwskyj Wohnung gefunden haben.

Empörung in der Gesellschaft

Die belarusische Zivilgesellschaft hat auf diese Verhaftungen empört reagiert. Schon Mitte Juni begannen die Leute sich unaufgefordert zu „Protestketten“ zu versammeln. Da die Demonstrationen in Belarus de facto unter Androhung drakonischer Strafen verboten sind, stellten sich die Menschen auf den Straßen mit Abstand zueinander auf – und formierten lebendige Ketten, einige mit der Länge von bis zu zwei Kilometern. Auch die Unterschriften für die Kandidatur der Ehefrau vom verhafteten Sergej Tsichanouwskyj – Swjatlana – wurden gesammelt. Sie sollte nun stellvertretend für ihren verhafteten Mann kandidieren, wurde zugelassen, und ist nun eine von vier Kandidat/innen neben Lukashenka.

Auch friedliche Formen des Protests blieben nicht unbestraft. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden in Belarus innerhalb des letzten Monats über 700 Personen aufgrund ihrer Beteiligung an Protestaktionen verhaftet – die neuesten Zahlen von den Protesten gegen die Wahlkommissionsentscheidung am 14. Juli noch nicht einberechnet. Am bisherigen Höhepunkt der Proteste am 19. Juni wurden an nur einem Tag 120 Menschen verhaftet, darunter Journalist/innen von Reuters, Radio Liberty, vom unabhängigen TV Sender Belsat und von anderen Medien. Sogar Souveniershops wurden zum Ziel von Polizeiangriffen. So wurden im Shop Symbal.by über 20 Personen festgenommen – der Shop verkaufte die Anti-Lukaschenka-Symbolik wie z.B. Aufkleber mit der Überschrift „3%“ – so wenig Unterstützung soll Lukaschenka laut der Opposition haben. Ob das Geschäft offen bleibt oder nicht – die Graffitis „3%“ kann man heute im ganzen Land sehen: auf Gebäuden, Bushaltestellen, Werbeflächen.

Ausgang ist noch ungewiss

Wie erfolgreich die aktuelle Protestbewegung in Belarus diesmal sein kann, ist noch schwer zu sagen. Aljaksandr Lukaschenka kann nach wie vor auf einen massiven Polizei- und Sanktionsapparat zur Unterdrückung von Protesten zählen, muss aber mit vielen Herausforderungen umgehen. Neben der schwankenden Wirtschaft leidet Belarus besonders stark an der Ausbreitung der Covid-19-Epidemie. Belarus blieb eines der wenigen Länder, die auf offizielle Eindämmungsmaßnahmen weitgehend verzichtet haben – zugunsten der Wirtschaft. Es sei ausreichend, so sagte Lukaschenko in vielen Interviews, „Wodka zu trinken und Traktor zu fahren“, um gesund zu bleiben.

Das Land ist inzwischen im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl von gut 9 Millionen eines der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder in Europa, selbst nach der amtlichen Statistik. Niemand kennt die echten Zahlen. Ärzt/innen und Journalist/innen, die über die Fälle von Covid-19 berichteten, wurden polizeilich verfolgt. Laut den Menschenrechtler/innen besuchten die KGB-Mitarbeiter sogar die Familien von hospitalisierten Personen und verlangten schriftliche Erklärungen über ihr Schweigen. Das Verhalten des Präsidenten und seiner Behörden im Vorfeld der Wahl hat zu einem massiven Vertrauensverlust gegenüber Lukaschenka geführt, der nicht länger als sorgsamer Vater der Nation präsentiert werden kann.

Auf wirtschaftliche Hilfe Russlands und darauffolgende Erhöhungen sozialer Ausgaben kann Lukaschenka diesmal kaum setzen. Die Beziehungen sind seit längerem angespannt und Moskau kämpft selbst gegen die Folgen der wirtschaftlichen Stagnation und die Corona-Krise. Vergünstigungen für Belarus beim Rohstoffeinkauf aus Russland werden abgebaut. Als Lukaschenko die Moskauer Siegesparade Ende Juni besuchte und seine Verbündeten-Treue demonstrierte, bekam er offensichtlich keine Zusage russischer Hilfe. Ein geschwächter Lukaschenka mit noch größerer Abhängigkeit von Russland könnte sogar in Putins Interesse liegen. Im Falle eines Machtvakuums nach einem Sturz von Lukaschenka wäre eine massive Einflussnahme Putins zu erwarten, dessen Medien und Geheimdienste in Belarus stark präsent sind und einem russlandfreundlichen neuen Präsidenten ins Amt helfen könnten.