Die EU und China: Zwischen Kooperation und systemischer Rivalität

Interview

Wie sehen die EU-China Beziehungen in Zukunft aus? Welche Prioritäten müssen gesetzt werden? Interview mit Reinhard Bütikofer und Janka Oertel.

Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europäischen Parlaments, und Janka Oertel, Direktorin des Asienprogramms des ECFR, im Gespräch mit Katrin Altmeyer, Leiterin des Asienreferats der Heinrich-Böll-Stiftung.

Katrin Altmeyer: Ich würde gerne mit der EU-China Strategie beginnen, die im März 2019 veröffentlicht wurde und zum Ziel hat eine gemeinsame umfassende China-Politik einzuleiten. Wie hat diese die Diskussion in Brüssel verändert? Wie haben die Mitgliedstaaten darauf reagiert? Und wie könnte eine Strategie aussehen, die dem Papier folgt?

Reinhard Bütikofer: Die Veröffentlichung dieses Papiers war ein großer Durchbruch. Ein Befreiungsschlag. Dieser kam auch zustande, weil die Kommission ein paar der in Brüssel üblichen bürokratischen Wege umging, indem sie nicht allen Bedenkenträgern erlaubte, den Text windelweich zu waschen, bevor er ans Licht der Welt kam. Das ging gleichzeitig mit einem geringeren Ausmaß an Beteiligung etwa der Mitgliedsstaaten einher. Das Papier traf insgesamt auf viel positive Resonanz, weil es sehr geschickt unterschiedliche Perspektiven europäischer China-Politik verband. Unterschiedliche Positionen konnten sich damit anfreunden. Denn das Papier besagt ja nicht, dass wir nicht mehr mit China kooperieren wollten, weil wir systemische Rivalen sind. Es beendet allerdings die Dominanz der Win-Win-Rhetorik. Doch inzwischen zeigt sich ein Manko; Kooperation und Wettbewerb mit China müssen eigentlich davon informiert sein, dass wir substanziell systemische Rivalen sind. Dass die Dynamik einer Systemkonvergenz nicht existiert, sondern dass die Divergenzen zunehmen. Das einfache Nebeneinanderstellen von Kooperation, Wettbewerb und Rivalität bleibt da ungenau.

Janka Oertel: Die Frage des Umgangs mit China wurde über die Jahre immer zentraler, mit dem Strategic Outlook Dokument vom März 2019 konnte am Ende der Amtszeit der letzten Kommission ein wichtiger Akzent gesetzt werden. Gleiches gilt für die Konnektivitäts-Debatte. Beide großen Themen müssen jetzt weitergetragen werden. Mit China muss sich die neue Kommission intensiv und früher als gehofft auseinandersetzen, denn leider ist der Konsens von 2019 schon wieder veraltet. Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale – es reicht nicht mehr aus, die nur zu benennen, es muss konkret definiert werden, die Schwerpunkte haben sich verschoben. Eine Chinapolitik, die die systemische Rivalität ernstnimmt, heißt, in bestimmten Bereichen klare Grenzen zu ziehen und sich auch gegen Kooperation zu entscheiden, wo diese Spielräume einschränkt und Abhängigkeiten erhöht. Die aktuelle 5G-Debatte ist ein Beispiel dafür: Wir hatten in Deutschland monatelang Zeit einen eigenen Weg zu definieren – konsequent europäisch, wirtschaftlich sinnvoll, mit einem klaren Blick für Sicherheitsfragen. Jetzt müssen wir die Auswirkungen der US-Exportbeschränkungen klar im Blick haben und reagieren wieder mehr als dass wir agieren. Es ist traurig, dass wir nicht in der Lage dazu gewesen sind selber zügig eine eigenständige und klare politische Entscheidung zu treffen, Deutschland hätte hier eine echte Vorreiterrolle einnehmen können.

Wie kann denn der Spagat gelingen mit einem rivalisierenden System eine konstruktive Politik zu betreiben? Wo kann die EU Prioritäten setzen? Wo seht ihr, insbesondere mit Blick auf das Format 17+1 besonders große Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten?

Janka Oertel: Der absolut zentrale Faktor ist, dass China-Politik zu Hause beginnt und dass das nur mit einer starken EU funktionieren kann. Wir müssen auch die unbequemen Szenarien durchdenken und genau hinhören, wie sich die Prioritäten auf chinesischer Seite verschieben, um besser darauf vorbereitet zu sein, was auf uns zukommen könnte. Chinas Klimapolitik ist ein Beispiel dafür. Wir brauchen China für den Klimaschutz, aber wir sehen gerade wenig Ambition von Seiten Pekings wirklich zu handeln. Hier müssen wir den Druck deutlich erhöhen. Wenn China ein Partner für den Klimaschutz sein will, muss sich das auch in den Handlungen und nicht nur in Erklärungen zeigen.

Absolut zentral ist zudem europäische Solidarität. In der Anfangsphase der Corona-Pandemie war es viel zu leicht für China in Europa Punkte zu sammeln. Wir müssen uns selbstbewusst unsere eigene Politik gestalten. Aber das erfordert ein hohes Maß an Konzentration auf die eigenen Stärken und Interessen. In Bezug auf 17+1 ist es ganz wichtig zu überlegen, was die siebzehn eigentlich untereinander bedeuten können. Zwölf EU-Mitgliedsstaaten und fünf EU-Beitrittskandidaten! Wir haben ganz großes Interesse daran, eine enge Integration zwischen diesen zwölf und fünf zu befördern. Denn letzten Endes haben all diese Länder Handlungskompetenzen und eigene Interessen und können dazu beitragen Europas Verhältnis zu China konstruktiv zu gestalten. Das Format hat sich seit der Gründung weiterentwickelt und sich dadurch auch für die Mitglieder entzaubert.

Es gibt von chinesischer Seite eine klare Prioritätensetzung dessen wie der wirtschaftliche Aufschwung nach der Krise gelingen soll. Dies beinhaltet vor allem eine massive Förderung des heimischen Technologie-Sektors. Wir reden über 600.000 5G- Base Stations bis zum Ende des Jahres, und zwei Billionen US Dollar Investitionen über die kommenden fünf Jahre. Dies könnte China einen echten Vorsprung bei 5G-basierten Technologien verschaffen. Europa muss dringend nachziehen und investieren. In die Green Economy und in die Digitalisierung. Die Frage ‚Wo sollen wir investieren, welche Jobs müssen wir sichern?‘ kann zu einer Zerreißprobe werden. Auch in China ist das sichtbar. Wir müssen uns in Europa auch genau überlegen, ob wir die Corona-Krise als Neustart-Moment betrachten oder weitermachen wollen wie bisher. Die Neuausrichtung unseres Verhältnisses zu China gehört insbesondere für die Frage wie die europäische Wirtschaft der Zukunft aussehen soll an zentraler Stelle.

Reinhard Bütikofer: Federica Mogherini hat mehrfach von der Supermacht Europa gesprochen. Sie ist nicht die einzige, die nahelegte, die Rolle Europas könne darin gefunden werden, eine Art G3-Welt mit China, den USA und der EU als drei machtpolitischen Polen zu konstruieren. Diese G3-Welt wird es nicht geben. Ideal aus europäischer Perspektive wäre eine Welt, in der es gelingt, Elemente des Multilateralismus so zu stärken und weiterzuentwickeln, dass damit die Konkurrenz der zwei Supermächte eingehegt werden kann. Europa soll dabei eine führende Rolle spielen. Das kann nur gelingen, wenn Europa auf Gleichgesinnte in anderen Weltgegenden zugeht. Gerade AkteurInnen aus dem globalen Süden sollten dafür gewonnen werden, weil sie so ein höheres Maß an eigener Handlungskompetenz erreichen. Über die richtigen Allianzen müssen wir auch innerhalb der EU nachdenken. Präsident Macron hat bei seinem letzten China-Besuch eine deutsche Ministerin mitgenommen. Das war ein gutes politisches Signal. Aber nur deutsch-französisch reicht nicht. Warum kann die Bundesregierung nicht systematisch unsere europäischen Partner an den Beziehungen mit China beteiligen? Europäisch denken!

Der entscheidende Punkt in Bezug auf 17+1 ist, diese Länder dabei zu unterstützen, sich unter sich zu verständigen. Im Moment liegt das ganze Management des 17+1 Prozesses faktisch in chinesischer Hand. Das muss ja wirklich nicht sein. Die Bundesregierung sollte gegenüber 17+1 eine konstruktive Haltung an den Tag legen und gleichzeitig versuchen, das Format zu relativieren, indem man Wege anbietet wie europäische Partner von der deutschen Stärke mitprofitieren können. Dass der Großteil der kleineren Länder sehnsüchtig wartend danebensteht und darauf hoffen muss, dass irgendwann einige Brosamen von der Deutschen Tische fallen, ist einfach keine europäische Politik.

Im Zuge der COVID-19 Pandemie zeigen sich die Handelsverflechtungen sehr viel stärker und Fragen von wirtschaftlicher Abhängigkeit haben eine neue Dimension bekommen. Gleichzeitig versucht China auch bilateralen Einfluss auszubauen. Wie beurteilt ihr die langfristigen Folgen der Pandemie für die Rolle der EU?

Janka Oertel: Es gibt von chinesischer Seite eine klare Prioritätensetzung dessen wie Geld ausgegeben wird, um die eigene Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, ganz vorne im Technologie-Sektor. Die Maßgabe bis zum Ende des Jahres sechshunderttausend 5G-Stations zu bauen ist enorm und könnte China einen qualitativen Vorteil bei allen auf 5G aufbauenden Technologien bringen. In Europa sollte gleichzeitig in zwei Dinge investiert werden: Green Economy und Digitalisierung. Die Frage ‚Wo sollen wir investieren, welche Jobs müssen wir sichern?‘ kann zu einer Zerreißprobe werden. Auch in China ist das sichtbar. Wir müssen uns in Europa auch genau überlegen, ob wir das als Neustart-Moment betrachten. Jedoch muss klar sein: die Neudefinitionen unseres China-Verhältnisses ist die absolut zentrale unterliegende Prämisse für die Frage, wie unsere Wirtschaft gestaltet werden kann.

Reinhard Bütikofer: Die Corona-Krise ist insofern ein historischer Markstein als China zum ersten Mal mit großem Selbstbewusstsein als globale Macht auftritt, den Rahmen für internationale Fragen vorgeben will und glaubt, das auch ein Stück weit zu können. Das schlägt sich etwa in der Haltung in Konflikten in der unmittelbaren chinesischen Peripherie nieder. Wie in Hongkong, gegenüber Taiwan, gegenüber Indien und Bhutan, bei den Senkaku-Inseln und im Südchinesischen Meer. Peking spielt aggressiv auf machtpolitische Expansion.

Was mich optimistischer stimmt ist, dass die EU nicht stillsteht, bei allen Problemen. Was mit dem Recovery Fund verabredet wurde, ist ein unerhört wichtiger Sprung über den deutschen Schatten bei der Integration der Europäischen Wirtschaftspolitik. Das hilft den Binnenmarkt zu stärken, unseren ökonomischen Stützpfeiler. International zeigt sich am Beispiel der WHO wie ‚Leadership through Multilateral Cooperation‘ funktionieren kann. Es waren die Australier und die Europäer, die am deutlichsten eine Untersuchung über die Entwicklung der Corona-Krise, einschließlich Chinas Rolle dabei, forderten. China war dagegen, die USA verzogen sich trotzend. Es ist trotzdem gelungen, Unterstützung von etwa 130 Ländern zu gewinnen, so dass es einen Erfolg gab.

In der Technologie-Politik ist nicht nur das schiere Volumen der Investitionen relevant, sondern wir brauchen mehr Öffentlichkeit für konzeptionelle Diskussionen. China bastelt an einer eigenen Cyber Currency, die absolute Staatskontrolle über die Wirtschaft ermöglichen würde. Das wäre eine ganz neue Dimension totalitärer Utopie. Und wo sind wir? Im Rahmen der International Telecommunication Union arbeitet China daran, die Weltgemeinschaft auf ein neues Internet Protokoll einzuschwören, eines Top-down-Internet, das jeder autoritären Regierung einen Zensur-Schalter bieten würde. Es gibt durchaus Gegenvorstellungen zum Beispiel vom Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI). Aber diese Debatten genießen noch zu wenig politische Aufmerksamkeit.

Janka Oertel: Viele der intellektuellen Grundlagen werden derzeit in Brüssel gelegt, nicht immer gelingt der Transfer in die Mitgliedstaaten.

Reinhard Bütikofer: Ich bin nicht nur für einen all-of-government-Ansatz, sondern es geht um die Kompetenz unserer ganzen Gesellschaft, adäquat mit der chinesischen Herausforderung umzugehen. Über institutionelle Grenzen hinweg Kompetenz aufzubauen ist zentral. Schweden zeigt da interessante Ansätze mit einer nationalen China-Strategie und einem China-Kompetenz-Zentrum.

Ich möchte noch etwas darüber sprechen was aus eurer Sicht die wichtigsten Themen für die zukünftigen EU-China Beziehungen sind? Jetzt wo das „Leipzig-Format“ abgesagt oder verschoben wurde ist der Ausgangspunkt ja ein anderer.

Reinhard Bütikofer: Bei den Verhandlungen über das Investitionsabkommen muss Substanz über Geschwindigkeit gehen. Es kann nur dann einen Erfolg bei diesem Investitionsabkommen geben, wenn Beijing sich an drei Fronten substantiell bewegt: Beim Marktzugang, bei faireren Konkurrenzbedingungen, was insbesondere die Rolle der Staatsunternehmen betrifft, und bei der Nachhaltigkeit. Europas Markt ist sehr offen und der Chinas eben nicht. Deshalb können wir uns nicht einfach auf halbem Wege treffen. Das wäre eine strategische Niederlage. Ansonsten dürfen in den hochrangigen Kontakten mit der chinesischen Führung Streitpunkte generell nicht ausgeklammert werden. Beispielsweise die Frage der brutalen Unterdrückung in Xinjiang mit massenhaften Zwangssterilisierungen und systematischer uigurischer Zwangsarbeit. In Bezug auf Belt and Road sollten wir zum Beispiel sehr kritisch thematisieren, dass darüber eine intensive chinesische Kohlepolitik forciert wird.

Janka Oertel: Seit der Entscheidung mit Blick auf das Sicherheitsgesetz in Hong Kong ist die Frage ob Peking sich künftig noch an einmal getroffene Verabredungen und international Verträge hält neu zu bewerten. Das rüttelt an den Grundfesten unserer Beziehungen.

Wir müssen uns in Europa über eine Verringerung der Abhängigkeiten von China Gedanken machen, um unsere Verhandlungspositionen in allen Fragen, die uns wichtig sind zu stärken. Ein geringerer Fokus auf China, ist dabei nicht das Ende der Globalisierung und der Beginn von Zerfall der Wirtschaftsordnung und Protektionismus. Es bedeutet vor allem aktiver auf unsere Partner in Ost-, Süd- und Südostasien aber auch in Afrika zuzugehen, neue Kooperationen auszuloten.
Zusätzlich merken wir, dass wir mit Blick auf China nicht nur dringend gute Koordinationsmechanismen außerhalb sondern auch innerhalb der EU brauchen. Es wäre sehr wertvoll, wenn man es auch ohne einen anstehenden Gipfel innerhalb der deutschen Ratspräsidentschaft schafft, dafür nachhaltige Strukturen zu etablieren. Deutschland hat hier eine besondere Verantwortung. Wir müssen China-Politik im europäischen Interesse machen, wenn unsere europäischen Partner darin kein Vertrauen haben, tragen auch wir dazu bei, dass China Europa spalten kann.

Vielen Dank Euch beiden für das Gespräch.

Das Interview wurde am 25. Juli 2020 geführt.