All children left behind: Die Bildungskatastrophe in den USA

Kommentar

Inmitten einer Phase neuer Rekorde von COVID19-Infektionen und einer in weiten Teilen des Landes vollends außer Kontrolle geratenen Epidemie, beginnt nach und nach das neue Schuljahr in den USA. Das politische Versagen im Umgang mit der Corona-Epidemie zeitigt hier besonders dramatische gesellschaftliche Folgen.

Iowa Teachers Drive for Lives
Teaser Bild Untertitel
Protest gegen die Schulöffnungen in den USA.

Über 76 Millionen Schülerinnen und Schüler in den USA, die seit der landesweiten Schulschließung im Frühjahr Zuhause geblieben sind, stehen vor einem ungewissen Herbst. Deren Eltern müssen - ebenso wie die 13.000 Schulbezirke des Landes - schier unmögliche Abwägungen treffen zwischen öffentlicher Gesundheitsvorsorge, ökonomischen Zwängen und dem Wohlbefinden und den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder.

Der unmögliche Abwägungsprozess für und wider Schulöffnungen

In Washington, DC und den angrenzenden Städten, einer Gegend mit etwa einer Million schulpflichtigen Kindern, wurde in den letzten Wochen entschieden, mindestens bis Mitte November den Schulunterricht für alle Altersklassen komplett virtuell abzuhalten. Dies ist analog zu der breiten Mehrheit der großstädtischen Schulbezirke, in denen auf absehbare Zeit keinerlei Unterricht vor Ort stattfinden wird. Diese Entscheidungen sind unter anderem dem großen Druck der Lehrergewerkschaften zu verdanken, welche im gesundheitlichen Interesse ihrer Mitglieder alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um eine Zwangsöffnung von Schulen zu verhindern.

Aber auch viele Eltern sprachen sich in Umfragen gegen eine Wiedereröffnung von Schulen aus. Bemerkenswerterweise sind dies vor allem Eltern aus sozial schlechter gestellten Vierteln und Angehörige von Minderheiten. Das scheint auf den ersten Blick paradox, denn gerade in diesen Vierteln sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Schulschließungen schon jetzt besonders umfassend. Doch gerade dort, wo fast jeder Mensch bereits Angehörige durch COVID19 verloren hat, ist angesichts der Lage das Überleben der Familienangehörigen im wahrsten Sinne des Wortes die wichtigste Priorität und alle anderen Erwägungen sekundär.

In einem bewegenden Beitrag für die Washington Post beschreibt Jeff Gregorich, ein Schuldirektor aus Arizona anschaulich die unmögliche Situation, vor der er und seine Schule steht. Er schildert den politischen Druck, die Schule komplett zu öffnen, mit der Androhung des republikanischen Gouverneurs, seiner schlecht ausgestatteten Schule ansonsten fünf Prozent der Mittel zu streichen. Er schildert das soziale Elend vieler Familien und das Ausmaß, in dem sein Bezirk, seine Angestellten und die Familien seiner Schüler*innen vom Virus betroffen sind. Und er schildert, in welchem Maße er sich allein gelassen fühlt, Entscheidungen zu treffen, für die er weder qualifiziert noch hinreichend ausgestattet ist.

Die meisten Schulbezirke verfehlen aktuell das wichtigste Kriterium für eine Wiedereröffnung, eine positive COVID19-Testrate von weniger als 5 %. In einigen großen Schulbezirken liegt die aktuelle Rate gar um ein Vierfaches darüber.

Wahlkampf auf dem Rücken der Familien

Vor diesem Hintergrund wären dringend großangelegte öffentliche Unterstützungsprogramme für Schulen, Eltern und Lehrkräfte notwendig, um entweder begrenzte Schulöffnungen für jüngere Kinder in einigen Landesteilen zu ermöglichen oder um die negativen gesellschaftlichen Folgen weiterer langfristiger Schulschließungen abzufedern. Das reicht von dem Anspruch auf längere Elternauszeiten mit Lohnausgleich über die landesweite Bereitstellung von kostenlosen Internetanschlüssen und Computern bis zu der Einstellung von deutlich mehr Lehrpersonal.

Anstatt sich dem zu stellen, hat die Trump-Regierung jedoch alles getan, um die Situation weiter zu verschlimmern. Denn solche Initiativen würden einerseits das Eingeständnis mit sich bringen, dass die Eindämmung des Virus vorerst gescheitert ist. Und zum Zweiten würde damit anerkannt, dass entgegen der Orthodoxie der Republikaner der Staat in diesen Zeiten eine umfassende Rolle als Garant sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Chancengleichheit zu spielen hat.

Donald Trump aber ist inmitten eines politischen Überlebenskampfes, den er nur meint gewinnen zu können, indem er einerseits die Realität negiert, und andererseits gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufbringt. Weil in seiner Welt nicht sein kann was nicht sein darf, spricht Trump seit Wochen davon, dass alle Schulen des Landes komplett wieder öffnen müssten. Nachdem die Seuchenschutzbehörde CDC Richtlinien für die sichere Öffnung von Schulen veröffentlichte, intervenierte Trump und bewirkte eine Verwässerung derselben. Seine Bildungsministerin Betsy DeVos ließ er öffentlich mit der Streichung von Bundeszuschüssen für alle Schulbezirke drohen, die ihre Türen nicht wieder komplett aufmachen. Viele republikanische Gouverneure hat er dabei auf seiner Seite, welche den Druck auf die Schulen in ihren Bundesstaaten weitergeben, ohne etwas dazu beizutragen, sie für eine sichere Wiedereröffnung zu unterstützen. Politisch geht dies einher mit dem Versuch, verzweifelte Eltern, die nach fünf Monaten Kinderbetreuung Zuhause nicht mehr weiterwissen, gegen Lehrkräfte und Schulbezirke auszuspielen, um eine Schulöffnung durchzudrücken.

Dahinter steht, dass die Schulöffnung einer der wichtigsten Faktoren ist, um die US-Wirtschaft rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl wieder anzukurbeln. Anstatt besonders betroffene Familien zu unterstützen, versuchen die Republikaner daher nun sogar, die sozialen Corona-Notprogramme zu kürzen, um den Druck auf die Bürger/innen zu erhöhen, aus der Not heraus wieder zur Arbeit zu gehen. Das wiederum lässt sich für Eltern schwerlich mit geschlossenen Schulen vereinbaren. Ein Effekt dessen ist, dass schon jetzt vor allem Frauen, die ohnehin überproportional von Arbeitsplatzverlusten durch COVID19 betroffen waren, ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihren Job aufgeben, mit langfristigen Effekten für die berufliche und gesellschaftliche Gleichstellung.

So wird in den USA derzeit ein rücksichtsloser Wahlkampf auf dem Rücken von Kindern, Eltern und Schulen ausgetragen.

Die sozialen Folgen der Schulschließungen

Die langfristigen Schulschließungen haben schon jetzt massive Folgen für die besonders betroffenen Kinder. Seit Mitte März sind fast alle Schulkinder des Landes durchgehend Zuhause. Die soziale Spaltung im Bildungssystem, der Zugang zu guter Bildung abhängig von Herkunft und Elternhaus, hat seitdem deutlich zugenommen. Nach Schätzungen haben Ende des letzten Schuljahres nur etwa 60 % der Schülerinnen und Schüler regelmäßig am Online-Unterricht teilgenommen. An vielen Schulen in sozial schlechter gestellten Vierteln waren es weniger als die Hälfte. Laut einer Studie der Harvard Universität haben Kinder in ärmeren Gegenden schon jetzt akademisch zwischen sieben und zehn Monaten verloren, während Kinder in wohlhabenden Gegenden ihr akademisches Niveau halten konnten.

Verstärkt werden diese Tendenzen durch die digitale Spaltung, den sehr ungleichen Zugang zu schnellem Internet und Computern. Hinzu kommen reduzierte lokale Steuereinnahmen aufgrund der Epidemie, welche die Haupteinnahmequelle der Schulen in den USA sind, und auch hier bestehende Ungleichheiten zwischen Schulbezirken noch weiter vergrößern.  

Schulen sind in den USA zudem weit mehr als Bildungseinrichtungen und soziale Orte. Sie sind ein Rückgrat für soziale Leistungen wie kostenloses Essen und gesundheitliche Vorsorge, vor allem auch in psychischen Gesundheitsfragen. Nach Schätzungen führt dies unter anderem dazu, dass schon heute 14 Millionen Kinder in den USA nicht genug zu essen haben.

Weit überproportional betroffen von diesen Entwicklungen sind landesweit Schwarze und Latinos. In einer Zeit, in der „Black Lives Matter“ in aller Munde ist, drohen Kinder mit dunklerer Hautfarbe auf lange Zeit sozial abgehängt zu werden.

Am anderen Ende des sozialen Spektrums verlassen viele Eltern, die es sich leisten können, nun ganz das öffentliche Bildungssystem und wenden sich an Privatschulen oder stellen Privatlehrer*innen ein, teilweise mit einigen anderen Familien in sogennanten „pandemic pods“. Damit nimmt die weitere Privatisierung des US-Bildungssystems,  ein Kernanliegen von Trumps Bildungsministerin DeVos, epidemiebedingt weiter Gestalt an.

Und dann gibt es doch noch einige Schulbezirke, vor allem im Mittleren Westen, die in diesen Wochen das Experiment wagen, die Schulen allen epidemiologischen Umständen zum Trotz, wieder zu öffnen. Die ersten Erfahrungen damit sind nicht besonders ermutigend. Einer der ersten Schulbezirke in Indiana, der Ende Juli die Türen wieder öffnete, musste eine Schule schon nach wenigen Stunden wieder schließen aufgrund eines neuen COVID19-Falls. In anderen Schulen gab es nach wenigen Tagen bereits etliche Fälle und ganze Klassen und Gruppen von Lehrkräften, die in Quarantäne mussten. Viele Beobachter/innen vermuten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch die letzte dieser Schulen sich der Realität stellen und ihre Türen wieder schließen werden muss.