Es geht ums Ganze: Der digitale Parteitag der Demokraten

Kommentar

Der digitale Parteitag der Demokraten war eine Verneigung vor der Vielfalt des Landes. Und er machte deutlich, dass es bei dieser Wahl ums Ganze geht, um das Bestehen oder den Zerfall der amerikanischen Demokratie.

DNC Parteitag 2020
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Screenshot vom Parteitag der Demokratischen Partei - Democratic National Convention 2020

Viel wurde im Vorfeld des digitalen demokratischen Parteitags gemunkelt, ob das gut gehen würde. Journalistinnen und Journalisten zeigten sich skeptisch, ob ein Online-Format die Zuschauer begeistern könne, ohne rauschenden Applaus und Standing Ovations, von möglichen technischen Pannen ganz zu schweigen. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die erste technische Herausforderung der Demokratischen Partei in diesem Jahr, die Durchführung der Vorwahlen in Iowa, im Chaos unterging. Vor diesem Hintergrund lief der Parteitag über vier Abende nicht nur erstaunlich rund, er brachte auch etliche Neuerungen mit sich.

We the People

Es zahlte sich aus, dass die Regie die Vorteile des digitalen Formats bewusst nutzte, anstatt zu versuchen, einen großen Hallen-Event künstlich zu simulieren. Die hochrangigen Rednerinnen und Redner wurden in Settings gezeigt, welche ihre politischen Botschaften verstärkten (eine Kita für Elizabeth Warren, eine High School für Jill Biden, ein Museum zur Gründungsgeschichte der USA für Barack Obama), oder bei sich Zuhause, wodurch sie lebensnaher wirkten und mehr persönliche Nähe suggerierten als auf einer großen Bühne. Letzteres passte zu der Botschaft, dass es bei dieser Wahl darum gehe, Vertrauen wiederzugewinnen und wiederherzustellen. Keine kleine Aufgabe angesichts des gesunkenen Vertrauens der amerikanischen Öffentlichkeit in demokratische Institutionen, die freien Medien, die Wissenschaft und erst recht die Politik.

Gleichzeitig nutzten die Demokraten das Format, um eine Rekordzahl von Stimmen aus dem ganzen Land einzufangen und zu präsentieren. Während kurze Einspielvideos mit „authentischen“ Stimmen von Bürgerinnen und Bürgern schon lange die Parteitage garnieren, standen die Einspieler diesmal oft im Zentrum des Geschehens. Am Eindrücklichsten war der sogenannte „Roll Call“, bei dem die 57 Bundesstaaten und Territorien nach und nach aufgerufen wurden, ihr Stimmergebnis der Nominierung des Präsidentschaftskandidaten verkündeten. Dieses üblicherweise eher dröge Abstimmungsverfahren wurde neu konzipiert, um im Stile des Eurovision Song Contest 57 Schalten in alle Ecken des Landes zu organisieren. Selten wurde die Vielfalt und Bandbreite der Amerikanerinnen und Amerikaner, ihrer Erfahrungen, Hoffnungen und Geschichten, anschaulicher und berührender vermittelt als in diesen 45 Minuten, mit der Demokratischen Partei als Anwältin aller Menschen des Landes unter dem Parteitags-Motto und Gründungsmotto der USA „We the People“.

Einheit und Demokratie

„We the People“ vermittelte zwei zentrale Botschaften. Zum einen ging es bei diesem Parteitag um die Stärkung der Einheit und Erweiterung der Bandbreite der Partei als entscheidende Lehre aus dem Wahlkampf 2016. Damals scheiterten die Demokraten daran, dass sich der Hillary-Clinton-Flügel und der Bernie-Sanders-Flügel der Partei aufs Schärfste bekämpften, und dass nicht genug schwarze Wählerinnen und Wähler zur Wahl gingen, vor allem in den entscheidenden Bundesstaaten im Mittleren Westen. Joe Bidens Team hatte vor diesem Hintergrund das Umfeld seiner ehemaligen linken Kontrahent*innen Bernie Sanders und Elizabeth Warren eng eingebunden in die Entwicklung des Wahlprogramms. In einigen Bereichen ist das Programm dadurch linker und ambitionierter geworden. Zugleich war die Nominierung von Kamala Harris ein Signal für viele Frauen und schwarze Wählerinnen und Wähler, dass sie sich in dieser Regierung repräsentiert sehen können und dass ihre Anliegen von Joe Biden ernst genommen werden. Allgegenwärtig war auf dem Parteitag auch das Bekenntnis zu den Anliegen der Black Lives Matter-Bewegung und den Rechten von Migrant*innen und Geflüchteten. Nicht zuletzt traten auch ehemals bedeutende Republikaner auf und viele ehemalige Trump-Wählerinnen und Wähler. Die Botschaft: Die Demokratische Partei ist das große Zeltdach, unter dem sich bei allen politischen Unterschieden die demokratisch gesinnten Kräfte des Landes versammeln können.

Die zweite von „We the People“ ausgehende Botschaft bezog sich auf ebendiese Bedeutung der Worte als Fundament der amerikanischen Demokratie. Unmissverständlich zog sich durch die Reden das Motiv, dass es bei dieser Wahl nicht nur, und sogar nicht im Wesentlichen, um ein politisches Programm gehe, sondern dass bei dieser Wahl die liberale Demokratie selbst, die Verfasstheit der USA als demokratische Nation, auf dem Spiel stehe. Barack Obama persönlich warnte in unmissverständlichen Tönen: „Lasst Euch Eure Demokratie nicht weg nehmen!“. Und Michelle Obama sagte, die Menschen müssten „für Joe Biden stimmen, als ob Eure Leben davon abhängen“. Derart apokalyptische Warnungen vor einem negativen Wahlausgang waren in den letzten Jahrzehnten vor allem von Seiten der Republikaner zu hören. Für die Demokraten ist es eine neue Stufe der politischen Auseinandersetzung. Das spiegelt die Realität wider, dass es diesmal in der Tat ums Ganze geht. Es macht aber gleichzeitig deutlich, in welchem Maße die beiden Parteien ihren politischen Gegner mittlerweile als illegitim betrachten. Vor diesem Hintergrund ist kaum vorstellbar, wie das Land in absehbarer Zeit zu mehr politischem Konsens und weniger politischer Polarisierung gelangen kann.

Charakterfrage statt Vision

Die Beschreibung der Wahl als letzte Chance, einen Zug per Notbremse zu stoppen bevor er entgleist, mag der Sache nach stimmen und notwendig sein. Was dabei fehlt, ist jedoch eine klare Vision einer besseren Zukunft der Menschen. Von Reagans „Morning in America“ über Obamas „Hope and Change“ bis zu Trumps „Make America Great Again“, waren erfolgreiche US-Wahlkämpfe meist bestimmt von einem grenzenlosen Optimismus und dem Glauben an eine goldene Zukunft. Davon ist inmitten einer außer Kontrolle geratenen Epidemie, einer grassierenden Wirtschaftskrise, einer Auseinandersetzung um strukturellen Rassismus und einer akuten Gefährdung der Demokratie kaum mehr etwas übrig. Das Land wirkt erschöpft und zermürbt von der politischen Hysterie der Trump-Jahre und von den allgegenwärtigen Krisen. Für Träume fehlt die Kraft. Die Begründung, warum Joe Biden der Richtige für diese Zeit sei, wurde beim Parteitag daher weniger als visionäre politische Frage, sondern vielmehr als Charakterfrage behandelt. Biden wurde als aufrichtig, mitfühlend, ehrbar, bescheiden und mutig charakterisiert – Eigenschaften im krassen Gegensatz zu Donald Trump. Aber eine Vorstellung davon, wie ein Amerika der Zukunft unter seiner Führung aussehen soll, stand nicht im Vordergrund der politischen Erzählung.  

Zwar gab es auch programmatische Punkte, vor allem mit Blick auf bestimmte Zielgruppen, die für eine erfolgreiche demokratische Koalition von Bedeutung sind. Der Klimakrise wurde ein größerer Block gewidmet, auch, weil dies ein zentrales Thema für jüngere Wähler*innen ist. Rassismus wurde von fast allen Vortragenden als zentrale gesellschaftliche Herausforderung angesprochen. Reproduktive Rechte und die Gleichstellung von Frauen waren ein größeres Thema, eine bessere medizinische Versorgung für alle, strengere Waffengesetze, mehr öffentliche Unterstützung für Rentner*innen, eine offenere Einwanderungspolitik und Vieles Mehr. Aber eine offene Frage bleibt, ob es der Kampagne diesmal im Gegensatz zu 2016 gelingt, die sehr diversen Zielgruppen der Demokraten unter einem gemeinsamen Anliegen zu versammeln, das Gefühl eines republikanischen „Wir“ zu vermitteln. Die Notwendigkeit, dieses „Wir“ im wahrsten Sinne des Wortes als Verfassungspatriotismus zu definieren, als gemeinsames Hüten der Grundwerte der amerikanischen Gründungsdokumente, liegt in der Natur dieser richtungsweisenden Wahl. Ob es gelingen wird, bleibt offen.