Frauen, die für ihre Ideale einstehen, inspirieren mich

Portrait

Das Durchhaltevermögen von Frauen, die nach ihren seit Jahren verschollenen Angehörigen suchen, inspiriert Rasa Ostrauskaite. Sie setzt sich für die Suche von vermissten Personen im Irak ein.

Portrait Rasa Ostrauskaite

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers "No Women - No Peace: 20 Jahre UNSR Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit"

In lokalen Gemeinschaften in der Ukraine, Georgien und dem Irak habe ich so viele Frauen getroffen, die selbstlos auch unter den widrigsten Umständen und nahezu ohne Mittel für etwas kämpfen, an das sie glauben. Welche Inspiration!“ begeistert sich Rasa Ostrauskaite, die bis September 2020 die Missionsleiterin der Internationalen Kommission für Vermisste Personen (ICMP, International Commission on Missing Persons) im Irak war. „Diese Frauen haben vielleicht keinen Universitätsabschluss und leisten keine rhetorischen Meisterleistungen. Dafür haben sie Ausdauer und Energie und schaffen es, Menschen zusammenzubringen und Ideen in die Tat umzusetzen. In Georgien habe ich inspirierende lokale Akteurinnen getroffen, deren Arbeit nicht an Konfliktfronten haltmacht. Und im Irak begegnen mir zahlreiche Frauen, die jahrelang nach verschollenen Angehörigen suchen – ihr unerschütterlicher Idealismus und ihr Stehvermögen sind wahnsinnig inspirierend!“

Wenige Monate vor der Verabschiedung der UN-Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit im Jahr 2000 hatte Ostrauskaite selbst eine großangelegte Konferenz der Vereinten Nationen zu Frauenthemen mitorganisiert. Arbeitsbedarf besteht nach wie vor, doch hat sich das Thema mittlerweile etabliert. Aber auch heute noch müssen sich die Frauen in Ostrauskaites Arbeitsumfeld kontinuierlich unter Beweis stellen.

Von der Soziologiestudentin zur Diplomatin

Zeit ihres Soziologiestudiums in den 90er Jahren wollte Ostrauskaite Wissenschaftlerin werden. Dann aber bot sich ihr die Möglichkeit für ein Praktikum in der Ständigen Vertretung Litauens bei den Vereinten Nationen in New York.Das machte mir so viel Spaß, dass ich mir vornahm, Diplomatin zu werden, sobald ich meinen Studienabschluss in Händen halten sollte“, erinnert sie sich.

Gesagt, getan. Die junge Ostrauskaite ging in den diplomatischen Dienst Litauens. Mit der EU-Mitgliedschaft ihres Landes im Jahr 2004 nahm sie ihre Arbeit in verschiedenen Funktionen (alle im Zusammenhang mit Postkonfliktnationen) im Rat der EU auf. Fünf Jahre später wechselte Ostrauskaite zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Wien, wo sie im Rahmen des Vorgehens gegen grenzüberschreitende Bedrohungen zahlreiche innovative Gender-Mainstreaming-Projekte unterstützte und als wahre Meisterin auf ihrem Gebiet galt. Im September 2019 wurde sie Leiterin der ICMP-Mission im Irak und ging nach Bagdad – zur Überraschung aller, denn man hatte ihr zeitgleich auch einen Posten in Den Haag angeboten. Doch das war keine zufällige Entscheidung; Ostrauskaite wollte einen Beitrag zur Suche nach vermissten Personen leisten. Nicht zuletzt spielte dabei ihre persönliche Geschichte eine Rolle, denn ihr eigener Großvater war während der sowjetischen Besatzung nach Sibirien deportiert worden und nie nach Litauen zurückgekehrt.

Ich hatte in meiner Laufbahn bis dahin stets mit Konflikten und Postkonfliktsituationen zu tun gehabt; in Bosnien und Herzegowina, Georgien, Bergkarabach und der östlichen Ukraine. Aber noch nie hatte ich im Nahen Osten gearbeitet. Das ICMP erschien mir eine sehr interessante Organisation mit einer ehrenwerten Mission. Der Irak ist die Wiege einiger der ältesten uns bekannten Zivilisationen und ein beeindruckendes Land mit einem reichhaltigen kulturellen Erbe. Doch ist dies auch ein Land mit einer sehr hohen Anzahl vermisster Personen und unzähligen Familien, welche die Unsicherheit über das Schicksal ihrer Angehörigen quält.“

Going local‘ zahlt sich aus

Analytiker/innen vergleichen die Situation im Irak gerne mit einem „perfekten Sturm“ – dem Katastrophenszenario schlechthin. Tatsächlich sieht sich das Land zahlreichen Herausforderungen gegenüber: politische Spaltungen, Bürgerproteste, und auch die wachsenden Spannungen zwischen den USA und dem Iran beeinträchtigen den Irak. Dazu kommt die Haushaltskrise, die zum Teil auf den jüngsten Absturz der internationalen Erdölpreise zurückgeht, und nicht zuletzt die COVID-19-Pandemie.

Sicherheitszwischenfälle dominieren die Schlagzeilen der Lokalpresse. „IS [der sogenannte Islamische Staat] gewinnt in Syrien und im Irak wieder an Boden, und die Angriffe der Aufständischen werden immer gewagter. Die Sicherheitslage bleibt kritisch.” Und doch bleiben ihr im Zuge ihrer Arbeit im ICMP häufige Reisen im gesamten Landesgebiet nicht erspart.

Sicherheit wird traditionell als vorrangig männliche Domäne angesehen. Kein Wunder, dass Ostrauskaite so oft zu hören bekommt: „Was tun Sie hier?“ Going local und ein gewisser Grad der Anpassung hat sich für sie ausgezahlt. „Meine beste Investition im Irak war eine Abaya“, bemerkt Ostrauskaite lachend. Die Abaya (wörtlich Umhang) ist ein kleidähnliches Gewand, das den gesamten Körper bedeckt und nur Kopf, Füssen und Hände freilässt.

Insbesondere für Besuche in konservativeren Gemeinschaften ziehe ich eine Abaya an. In nicht wenigen Meetings bin ich die einzige Europäerin. Aber wenn ich eine Abaya trage, empfangen mich sogar die konservativsten Gemeinschaftsoberhäupter oder religiöse Führer ohne Probleme.“

Enorme Anstrengungen um ungeheuerliche Verbrechen aufzudecken

Das ICMP-Team im Irak besteht aus zwanzig Expert/innen. Ihre Aufgabe ist die Unterstützung der irakischen Behörden beim Ausheben von Massengräbern; grauenvolle Hinterlassenschaften der Diktatur von Saddam Hussein oder vom IS. Schätzungen gehen von 250.000 bis einer Million vermisster Personen im Irak aus – Opfer jahrzehntelanger Konflikte und Menschenrechtsverletzungen, darunter Verschollene aus dem Baath-Regime, dem Ersten und Zweiten Golfkrieg und den seit 2003 als vermisst Gemeldeten.

Im Irak existieren Hunderte solcher Massengräber. Wir arbeiten eng mit dem hiesigen nationalen Expert/innenteam zusammen und beraten dessen Mitglieder zu den technischen und rechtlichen Aspekten eines kohärenten Prozedere.“ Das Auffinden und Identifizieren Vermisster ist komplex und langwierig. Es bedarf hochspezialisierter Fachkenntnisse, von forensischer Anthropologie und Archäologie bis hin zur Extraktion und zum Abgleich von DNA.

Frauen, Frieden und Sicherheit sind heute Standardthemen

Dieses Jahr feiern wir das zwanzigste Jubiläum der UN-Sicherheitsratsresolution 1325, welche die bedeutende Rolle der Frauen in der Prävention und bei der Bewältigung von Konflikten, Friedenssicherung, Friedensstiftung und beim Wiederaufbau nach Konflikten betont. Hat sich mit Bezug auf Frauen, Frieden und Sicherheit in den letzten zwei Jahrzehnten viel geändert? Ostrauskaite antwortet ohne zu zögern: „Ja, ich denke das hat es.“

Auf die ein oder andere Art und Weise arbeite ich schon lange an diesem Thema. Hat sich etwas geändert? Ja das hat es, aber die Fortschritte waren nicht in allen Bereichen gleich. So ist beispielsweise die Anzahl der Verhandlungsführerinnen oder der Frauen in Friedensmissionen weiterhin eher niedrig. Dafür ist die Bedeutung der Einbindung von Frauen in Friedensprozessen heute unumstritten. Es gibt unzählige lokale Initiativen, die erfolgreich von weiblichen Führungsfiguren vorangetrieben werden. Und die steigende Zahl weiblicher Regierungs- und Staatsoberhäupter beeinflusst wiederum auch das Entstehen und die Förderung lokaler und regionaler Fraueninitiativen positiv. Das Motto ‚Nichts über uns ohne uns‘ hat Fahrt aufgenommen!“

Ostrauskaite beobachtet das weitere Ausbreiten der COVID-19-Pandemie mit Sorge. Immerhin sind es die Frauen, welche die Hauptlast der wirtschaftlichen Folgen zu spüren bekommen. „Wir sprechen viel über Chancen und Möglichkeiten für Frauen. Die Staats- und Regierungsoberhäupter/innen und Minister/innen zitieren die Resolution 1325 – häufig und gerne in Form von normativen Aussagen. Ich wünsche mir, dass diese normativen Aussagen auch umgesetzt werden. Taten sagen mehr als Worte!“

Nachdem sie ein Jahr lang als Leiterin der Mission der Internationalen Kommission für Vermisste (ICMP) im Irak gearbeitet hatte, wurde Rasa Ostrauskaite im September 2020 zur EU-Botschafterin zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ernannt.

Aus dem Englischen übersetzt von Petra Kogelnig und Karina Hermes