Sicherheit ist eine Daseinsform

Portrait

Lydia Cacho Ribeiro setzt sich in ihrer 30-jährigen Karriere als Journalistin dafür ein, die Hintergründe von Korruption und struktureller Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Mexiko aufzudecken. 

Portrait Lydia Cacho Ribeiro

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers "No Women - No Peace: 20 Jahre UNSR Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit"

Selbst im Exil wird die Journalistin Lydia Cacho Ribeiro des Schreibens und Lesens, der Nachforschungen und Gespräche nicht müde, um dann stets aufs Neue zum geschriebenen Wort zurückzukehren. Ihre Recherchen gelten dabei insbesondere der Aufdeckung von Netzwerken des Menschenhandels. Ihre Disziplin und ihr Einsatz für die Gerechtigkeit für Frauen, Mädchen und Jungen haben ihre Arbeiten zur journalistischen Bezugsgröße werden lassen – aber auch Morddrohungen provoziert, sodass sie zum Schutz ihres eigenen Lebens ihre Heimat Mexiko verlassen musste.

Da Cacho es gewohnt ist, von der Rolle der Interviewerin in die der Interviewten zu schlüpfen, stimmte sie einem Gespräch per Videoanruf zu. Die einzige Lücke in ihrem Terminkalender lag passenderweise direkt nach ihrer Online-Grundsatzrede und der Verleihung der Medaille des Hay Digital Festivals in der Kategorie Journalismus – nur die letzte in einer langen Reihe von internationalen Anerkennungen für ihre Arbeit als Journalistin, investigative Reporterin, Feministin, Verfechterin von Menschenrechten und Autorin von 16 Büchern.

Im Laufe ihrer 30-jährigen Karriere als Journalistin tauchte sie tief in die Geschichten von Menschen ein – solchen, die Gewalt und Ausbeutung überlebt hatten und solchen, die sich dafür einsetzen, dass die Mächtigen nicht ungeschoren davonkommen. Ein weiteres Hauptanliegen ihrer Arbeit ist es, Licht ins Dunkel zu bringen und die Hintergründe von Korruption und struktureller Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu beleuchten, damit kreative Antworten auf Gewalt gefunden werden können. Derart reich an Erfahrungen beschreibt Cacho sich zu Recht als „Journalistin, Feministin und Menschenrechtsverteidigerin“.

Als Verfechterin des Friedens und des Friedensjournalismus, hält sie den Geist der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit des UN-Sicherheitsrats aufrecht. Diese wurde am 31. Oktober 2000 angenommen und ist auch der Anlass unserer Unterhaltung, welche aufgrund der räumlichen Trennung mehr wie eine Auseinandersetzung Cachos mit ihrer eigenen Person anmutet.

Cacho ist jedoch nicht nur Expertin auf dem Gebiet des organisierten Verbrechens und des Menschenhandels. Sie selbst hat erfahren, was es heißt, gefoltert zu werden. Seit Erscheinen ihres Buches Los Demonios del Edén (engl. Titel: The Demons of Eden), in dem sie ein Netzwerk sexueller Ausbeutung von Kindern aufdeckte, in das hochrangige Geschäftsmänner und Politiker verwickelt waren, lebt sie in ständiger Gefahr. Im Juli 2019 brachen zwei Männer in ihr Haus in Quintana Roo ein, stahlen ihre Arbeitsausrüstung und töteten zwei Wachhunde.

Begonnen hatte die Verfolgung im Dezember 2005, als Cacho von mindestens zehn Personen (darunter Polizeibeamt/innen und private Ermittler/innen) festgenommen und unter dem Vorwand einer strafrechtlichen Anklage vom Bundesstaat Quintana Roo nach Puebla gebracht wurde. Während der 20-stündigen Fahrt wurde sie gefoltert. Eine Erfahrung, die im Rückblick dazu beitrug, dass sie heute eine Autorität in Sicherheitsfragen ist. Einem Begriff, der in ihrer Arbeit immer wieder auftaucht.

Sicherheit ist für mich eine Daseinsform. Wenn ein Mensch zur Flucht gezwungen ist – sei es aus einer Konfliktzone, vor Krieg, vor Gewalt innerhalb seiner Gemeinschaft, aus seiner Heimat – dann betrifft Sicherheit nicht nur den geografischen Zufluchtsort. Sicherheit hat vielmehr mit dem Schutz der psychisch-emotionalen und körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit zu tun; mit dem Recht von Frauen, Mädchen und Jungen auf Achtung und Schutz ihrer Körper; mit Essen, Ernährung, Bildung, Zugang zu Arbeit. Sicherheit schließt alle diese Aspekte mit ein.”

Ihre Arbeit als Reporterin in Verbindung mit ihrer Rolle als Stimme der Opfer von Menschenhandel und Missbrauch haben es Cacho ermöglicht zu beobachten, wie der Einfluss des Feminismus das Narrativ der Medien und der Gesellschaft im Allgemeinen verändert hat. Für sie hat die UN-Resolution die feministische Revolution vorangetrieben. Diese wiederum habe eine neue Sichtweise auf die Lage von Frauen, Mädchen, Jungen und Männern eröffnet, die inmitten von Kriegsgebieten leben oder aus ihrer Heimat vertrieben werden – sei es durch staatliche, politische, geschlechts- oder genderbedingte Gewalt.

Dieses großartige und wundervolle neue Narrativ, das wir als Journalist/innen und Aktivist/innen geschaffen haben, existiert auf der ganzen Welt, von Afrika bis Lateinamerika. Vom Norden bis in den Süden des amerikanischen Kontinents haben wir großen Einfluss darauf gewonnen, wie wir über die Welt sprechen, uns selbst wahrnehmen, und anderen Frauen und Mädchen mit ihrer Selbstwahrnehmung helfen.”

Als der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1325 vor 20 Jahren annahm, war es nahezu undenkbar, dass Zeitungen Frauen nicht nur als Opfer darstellten, sondern als bedeutende Akteurinnen der Politik auf ihren Titelseiten brachten. Auch dass die Medien sich eines Tages einer inklusiven Sprache bedienen könnten oder die Protagonist/innen der Nachrichten als Feministen bezeichnet werden könnten, lag jenseits aller Vorstellung. „Dass sich Sprache und Narrativ vollkommen gewandelt haben, verdanken wir der großartigen Arbeit der Journalist/innen weltweit und zweifelsohne den Philosoph/innen und Verfechter/innen der Frauenrechte.“

Ich wäre so gerne sicher, dass Straffreiheit nicht die Oberhand behalten wird

Alle Nachforschungen der Autorin in ihren Werken – von Los Demonios del Edén (engl. Titel: The Demons of Eden), über Esclavas del Poder (engl. Titel: Slaves of Power; dt. Titel: Sklaverei. Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel) und sogar En busca de Kayla (engl. Titel: In Search of Kayla) oder Ellos hablan (engl. Titel: They Speak) – haben bleibenden Eindruck in der Gesellschaft hinterlassen. Das hätte Cacho sich nicht zu erhoffen gewagt, als sie ihren Traum vom Poeten-Dasein zugunsten des Journalismus aufgab. In diesem Metier konnte sie ihre feministischen Überzeugungen und Kenntnisse anwenden und wurde so zu der Expertin für Friedensfragen, die sie heute ist.

Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen ist es ihr Ziel als Journalistin, Geschichten zu erzählen, zu erläutern, und sie der Gesellschaft zur Reflektion zu geben. Dies habe jedoch eine Gegenbewegung ausgelöst, denn der hartnäckige Machismo und der patriarchale Konservatismus möchten am Status Quo festhalten. „Sie wollen uns daran hindern, die Machtstrukturen immer weiter zu hinterfragen. Aber es ist unsere Aufgabe, als ihre Gegenmacht aufzutreten. Wir sind hier, um zu verstehen, wie wir Lebenswelten schaffen können, in denen die Sicherheit aller Priorität hat.“

Ihre journalistische Arbeit der letzten 14 Jahre zog Drohungen und rechtliche Anklagen nach sich. Inzwischen ist Cacho jedoch geübt darin, Cyberangriffe und Schmutzkampagnen zu erkennen und gut für sich zu sorgen, damit die Gewalt ihre emotionale Gesundheit nicht beeinträchtigen und ihre Arbeit nicht behindern kann. „Alle Formen der Gewalt, die wir Journalist/innen und Verfechter/innen von Menschenrechten erfahren, entspringen dem Versuch, uns zum Schweigen zu bringen, uns mundtot zu machen, von unserer Arbeit abzulenken und unseren inneren Frieden zu zerstören, damit wir unsere Arbeit aufgeben.“

Zum 20. Jahrestag der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit ist es Lydia Cacho ein Anliegen, dass die Erfahrungen von Frauen in Flüchtlingslagern und von Frauen, die sich dem Militär oder den Einwanderungsbehörden gegenübersehen, erzählt werden und Gehör finden. Es sei endlich an der Zeit, dass wir verstehen, dass die Vertreibung von Menschen durch Krieg und Gewalt nichts mit gewöhnlicher Mobilität zu tun hat; und dass die Opfer – Mädchen wie Frauen – inmitten der Machtkämpfe zwischen Herrschenden und dem internationalen organisierten Verbrechen komplett sich selbst überlassen werden.

Cacho kann sich sehr gut in die Menschen hineinversetzen, über die sie schreibt, wohlmöglich, da sie die gleichen Wünsche teilen. „Ich wäre so gerne sicher, dass ich irgendwann nach Hause zurückkehren kann, ohne dadurch mein Leben zu riskieren. Ich wäre so gerne sicher, dass eines Tages all die Frauen, Mädchen, Jungen und Männer, die vor Krieg fliehen mussten, nach Hause zurückkehren können, wenn sie möchten – oder dass sie sich ein neues Zuhause schaffen können, egal wo sie sind, und sich dort geborgen und sicher fühlen können.“

Ich wäre so gerne sicher, dass Straffreiheit nicht immer die Oberhand behalten wird, dass wir hier sind, um Frieden zu schaffen, nicht um Kriege zu führen, und dass wir an jedem Tag unseres Lebens den Menschen die Botschaft vermitteln können: Friedensjournalismus ist unabdingbar, um die Welt zu ändern.”

Aus dem Spanischen übersetzt von Anja Pitz