#EndSARS: Wendepunkt in der nigerianischen Politik?

Interview

Interview mit Abiola Baiyewu, Geschäftsführerin der nigerianischen Menschenrechtsorganisation Global Rights, zu den Protesten in Nigeria.

Demonstranten während der #EndeSARS-Proteste in Lagos, Nigeria

Tausende junge Nigerianer und Nigerianerinnen gingen Anfang Oktober unter dem Hashtag #EndSARS in die Öffentlichkeit, nachdem sich im Internet ein Video verbreitet hatte, in dem ein Mann mutmaßlich von einem Polizisten getötet wird. Die Protestierenden forderten die Auflösung der äußerst gefürchteten Spezialeinheit der Polizei, der Special Anti-Robbery Squad (SARS), sowie das Ende der unverantwortlichen Gewalt. Zwar sind mit Hashtags verbundene Bürgerkampagnen, wie beispielsweise #OccupyNigeria, #BringBackOurGirls oder #NotTooYoungToRun, in Nigeria keine Seltenheit. In der demokratischen Ära des Landes sind das Ausmaß der Mobilisierung auf den Straßen, der landesweiten Unterstützung in der Bevölkerung und der internationalen Aufmerksamkeit für die #EndSARS-Bewegung bisher allerdings einzigartig.

Als nigerianische Soldaten am 20. Oktober 2020 auf eine friedliche Menschenmenge schossen, die sich vor der Mautstelle Lekki in Lagos versammelt hatte, nahmen die Proteste eine tragische Wendung. Es starben mindestens zwei Personen, zahlreiche wurden verletzt. Am nächsten Tag eskalierte die Situation, als Polizeistationen sowie andere Gebäude und Einrichtungen von durch Lagos ziehenden Gruppen heruntergebrannt wurden. Nach einer erst kürzlich verhängten Ausgangssperre ist im Moment Ruhe auf den Straßen eingekehrt. Wahrscheinlich ist allerdings auch, dass die jungen Nigerianer und Nigerianerinnen ihre Sache nun noch entschlossener verfolgen.  

In einem Interview, das während der Ereignisse geführt wurde, erklärt die Geschäftsführerin der nigerianischen Menschenrechtsorganisation Global Rights, Abiola Baiyewu, wie sie die Proteste und ihre Bedeutung für die nigerianische Politik einschätzt.

Das Gespräch führten Chibueze Ebii und Jochen Luckscheiter, Heinrich-Böll-Stiftung Lagos

Die Nigerianerinnen und Nigerianer protestieren schon seit Jahren gegen Polizeigewalt. Warum haben die aktuellen #EndSARS-Proteste im ganzen Land eine so große Unterstützung erfahren wie noch nie zuvor?  

Baiyewu: Die #EndSARS-Proteste gibt es bereits seit 2017, sie haben ihre größte Reichweite aber dieses Jahr erreicht. Ich denke, dass ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Erstens, glaube ich, dass die meisten Kämpfe für Recht und Würde irgendwann einen Wendepunkt erreichen, wenn die Proteste beharrlich genug sind. Die #EndSARS-Proteste sind so hartnäckig und beständig, weil sowohl die organisierte Kriminalität als auch die Sicherheitskräfte, die die Menschen eigentlich beschützen sollten, für eine wachsende Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung sorgen. Zweitens, ist die Polizeigewalt in einem bisher unerreichten Ausmaß eskaliert, und die Menschen fühlen sich ihr hilflos ausgeliefert. Es scheint, dass die SARS mit jedem Jahr ungehemmter auftritt, weil sie ungestraft davonkommt. Wie bei den meisten post-kolonialen Sicherheitskräften liegen auch ihre ideologischen Wurzeln im blinden Gehorsam gegenüber den Machthabern und nicht gegenüber der Bevölkerung. Die Menschen aber denken immer stärker darüber nach, wie eine Demokratie aussehen und was in ihrem Gesellschaftsvertrag mit dem Staat stehen sollte. Es ist deshalb ganz verständlich, dass sich immer mehr Stimmen gegen die Misshandlungen erheben. Drittens, haben die sozialen Medien und die ansteigende Zahl von Personen, die Anzeige erstattet haben, den Diskurs zu diesem Thema verändert. So ist eine Dynamik entstanden, die ausreichte, um aus dem digitalen Raum auf zivilgesellschaftliches Terrain herauszutreten. Ironischerweise hat die Regierung zeitweise versucht, die zivilgesellschaftlichen Bürgerproteste mundtot zu machen. Das hat das Engagement aber nur verstärkt und schließlich auf die Straße getragen!

Die Protestierenden haben es geschafft, eine große internationale Aufmerksamkeit und Solidarität zu erfahren. Wie war das möglich?

Dieses Jahr ist Polizeigewalt, vor allem gegen Schwarze, aus mehreren Gründen weltweit in den Fokus gerückt – zuerst in den Vereinigten Staaten und dann später durch Solidaritätserklärungen überall in Europa. Der Widerhall der weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung in Nigeria war hilfreich, um internationale Unterstützung zu bekommen. An der Spitze der #EndSARS-Proteste stehen außerdem junge Nigerianerinnen und Nigerianer aus der Mittelklasse, die selbst Weltbürger/innen sind und einigen Einfluss haben. Darüber hinaus ist die Twitter-Gemeinde in Nigeria stark gewachsen und konnte internationalen Einfluss gewinnen. Viele Nigerianer/innen leben auf der ganzen Welt verstreut und sind genauso wie die Einheimischen besorgt, dass die Verletzung der Menschenrechte noch immer zum Alltag in ihrem Heimatland gehört. Sie haben in zahlreichen europäischen und amerikanischen Ländern die Proteste auf die Straßen ihrer jeweiligen zweiten Heimat getragen.

Die Regierung hat auf die Proteste innerhalb von Tagen reagiert und die Auflösung von SARS angekündigt. Sie soll unter anderem durch eine neue Einheit, das Special Weapons and Tactics Team (SWAT), ersetzt werden. Was halten Sie von dieser Reaktion der Regierung? 

Für die meisten Menschen in Nigeria sieht dies einfach nur nach einem Namenswechsel aus, aber nicht nach einer Veränderung im Verhalten der Polizeikräfte oder gar nach dem Ende der Straffreiheit. Es besteht ein hohes Maß an Misstrauen zwischen Bevölkerung und Regierung, das sich über die Jahre vergrößert hat. Die Regierung hat es nicht geschafft, ihre Versprechungen gegenüber den Wählern einzuhalten. Und die Menschen glauben nicht, dass es diesmal anders sein würde. Dazu kommt, dass die Regierung bereits vier Mal zuvor angekündigt hatte, SARS aufzulösen und zu reformieren. Dummerweise hat keine dieser Ankündigungen zu irgendeiner Veränderung geführt. Die Menschen können dem, was die Regierung sagt, einfach nicht vertrauen. Verschärfend hat der Präsident, als oberster Sicherheitschef des Landes, sich erst drei Wochen nach Beginn der Proteste öffentlich geäußert. Und wenn wir zurückblicken, hat der Präsident bei mehreren Gelegenheiten von Mitgliedern seiner Regierung gemachte Versprechen zurückgewiesen, weil „er sie nicht persönlich gegeben hat“.  

Frauen waren an der Spitze der Proteste. Warum ist das so wichtig?

Ein schneller Blick in die Geschichte von Nigeria zeigt, dass an der Spitze aller wichtigen Bürgerbewegungen, die zu dauerhaften Veränderungen im Land geführt haben, Frauen standen. Dennoch ist ihre zivilgesellschaftliche Bedeutung in der Geschichte wenig beachtet worden. Ein Beispiel ist ihr Einfluss auf Ereignisse, die zur Unabhängigkeit geführt haben – die Aba-Frauenaufstände, der Abeokuta Frauenprotest, die Streiks der Kohlearbeiter, die Proteste gegen das Pullen-Programm usw. Im post-kolonialen Zeitalter waren Frauen, wie die ehemalige Leiterin der nigerianischen Civil Liberties Organisation Ayo Obe, führend in der Bewegung gegen das nigerianische Militärregime. Doch trotz ihrer Beiträge waren sie aufgrund der patriarchalen Natur der nigerianischen Gesellschaft nie angemessen in politischen Ämtern vertreten. Die gläsernen Decken in der Politik haben Frauen jedoch nicht davon abgehalten, in der Zivilgesellschaft Führung zu übernehmen. Irgendwann wird sich dies auch in politischem Kapital auszahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Glauben Sie, dass sich die #EndSARS-Proteste zu einer neuen und breiteren Bewegung entwickeln werden?

Nigeria hat sehr viele Probleme in der Regierungsführung und viele Menschen hoffen, die #EndSARS-Bewegung nutzen zu können, diese Themen anzugehen. Das würde die Bewegung aber überlasten. Die Konzentration der Proteste auf ein Thema wird durchgängig akzeptiert und hat damit große Aussicht auf Erfolg. Sobald weitere Themen dazukommen – so erfolgversprechend sie auch sein mögen – wird die Bandbreite überspannt und die Energie der Proteste versickert. Ich denke aber, dass mit einem Erfolg bei SARS andere Aspekte der Regierungsführung leichter angesprochen werden können. Die Menschen werden gestärkt aus den #EndSARS-Protesten herausgehen und es mit der Regierung aufnehmen, um auch in anderen Bereichen Verantwortung zu fordern.