#EndSARS-Proteste könnten Geburt eines neuen Nigerias sein

Kommentar

Die jüngsten Proteste unter der #EndSARS-Bewegung könnten ein Zeichen für eine neue politische Ära sein, in der junge Menschen ihre Stimme und den Mut finden, eine bessere Regierungsführung zu fordern.

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#EndSARS protesters take a knee as the Nigerian National Anthem was being played

Am 3. Oktober 2020 tauchte in den sozialen Medien ein Video auf, in dem in Ughelli im Bundesstaat Delta Polizisten mit einem jungen Mann neben einem weißen Lexus-SUV rangen, ihn erschossen und dann in seinem Auto davonrasten. Die Polizeibeamten, die sich als Mitglieder des „Special Anti-Robbery Squad“ (SARS) erwiesen, einer Sondereinheit, die für ihre Verstöße gegen die Menschenrechte berüchtigt ist, wurden von mehreren Autofahrern verfolgt. Die Polizeibehörde des Delta State bestritt, dass es sich bei den fraglichen Polizeibeamten um SARS-Einsatzkräfte handelte, die das Opfer erschossen oder mit anderen Mitteln umgebracht hätten. Dennoch hat dieser Vorfall unter dem Hashtag #EndSARS die größte Protestwelle ausgelöst, die Nigeria in den letzten Jahrzehnten erlebt hat.

Die groben Verstöße gegen Menschenrechte durch die nigerianische Polizei und insbesondere deren Spezialeinheit SARS, die 1992 zur Bekämpfung von Gewaltverbrechen wie bewaffnetem Raub und Entführung eingerichtet worden war, sind in zahlreichen Berichten lokaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen in einer Zeitspanne von über 30 Jahren ausreichend dokumentiert. Die Sondereinheit, die mit nicht gekennzeichneten Autos, ohne Uniformen und Namensschilder ganz bewusst anonym operiert, um bei Gewaltverbrechen den Überraschungsmoment nutzen zu können, missbrauchte diese Deckung dazu, selbst Gräueltaten zu begehen.

Es verging kaum eine Woche ohne Beschwerdemeldung gegen die Sondereinheit in den sozialen Medien, vor allem nachdem viele Nigerianerinnen und Nigerianer 2017 die Auflösung der Einheit gefordert hatten und die ersten Demonstrationen organisierten.

Die Reaktion der Regierung auf diese Appelle im Laufe der Jahre lässt sich bestenfalls als schwach beschreiben: Mehrfach hatten sich die Bundesregierung und die Oberste Polizeibehörde verpflichtet, die Sondereinheit zu reformieren, neu zu organisieren und sogar aufzulösen - aber nichts dergleichen geschah. Seit 2006 wurden von der Bundesregierung zahlreiche Gremien und Kommissionen zur generellen Überprüfung der Polizei eingerichtet, die sich in einigen Fällen auch auf die SARS-Einheit konzentrierten. Die Ergebnisse dieser Berichte blieben allerdings folgenlos, was dazu führte, dass die tiefwurzelnden, systemischen Probleme innerhalb des Polizeiapparats noch immer bestehen.

Es ist diese Untätigkeit der Regierung und deren Gepflogenheit, Probleme auszusitzen während die Nigerianer weiterhin unter der massiven Belastung der katastrophalen Polizeiarbeit und den Menschenrechtsverletzungen leiden, die dazu geführt haben, dass die Wut immer mehr anwuchs und sich in den aktuellen Protesten äußerte. Dies mag in erster Linie durch das Video über die Erschießung des jungen Mannes im Delta-Staat ausgelöst worden sein, aber es ist auch das kumulative Ergebnis jahrelanger vergeblicher Versuche der Bevölkerung, sich gegen die Polizeigewalt einzusetzen, ohne dass ihre Bemühungen zur Festnahme der verantwortlichen Beamten oder zu Reformen innerhalb der Polizeikräfte geführt hätten, durch die eine Wiederholung dieser Missbräuche verhindert hätte werden können.

Es dürfte in Nigeria schwer sein, Personen zu finden, die keine unguten Erfahrungen mit den Sicherheitskräften gemacht haben oder nicht zumindest jemanden in ihrem Bekanntenkreis haben, denen dies widerfahren ist. Die Konfrontationen reichen von relativ harmlosen Begebenheiten wie das Einfordern von Bestechungsgeldern an Kontrollpunkten, bis hin zu ungeheuerlichen wie Erpressung, illegaler Inhaftierung, Anklage wegen fiktiver Schuldzuweisungen ohne gesetzliche Vertretung und sogar regelrechten extra-legalen Hinrichtungen und Ermordungen.

Es sind jedoch vor allem die Jungen, die die Wucht der Polizeigewalt überproportional zu spüren bekommen, wie zahlreiche Vorfälle belegen, bei denen sie von SARS-Beamten aufgrund fehleranfälliger Profilerstellungen inhaftiert wurden, die sich allein auf Kleidung, Frisur, Mobiltelefonmarke, Laptopbesitz oder auffällige Autos stützen. In der Tat kann die SARS zu ihrer Rechtfertigung anführen, was ihr gerade einfällt, um junge Leute zu verhaften und zu drangsalieren, mit der damit einhergehenden Brutalität und dem Missbrauch ihrer Rechte.

Von daher ist es nicht verwunderlich, dass diese jungen Menschen bei den Protesten gegen die Sondereinheit und die Polizeigewalt insgesamt an vorderster Front stehen und dazu die Instrumente einsetzen, die sie tagtäglich auch im Privatleben für ihre freie Meinungsäußerung nutzen: das Internet und die sozialen Medien. Das einfache, leicht zu merkende Schlagwort #EndSARS ermöglichte die simple Katalogisierung dieser Episoden. Die Bilder und Videos gewalttätiger Übergriffe erregten Wut und Zorn; lokale und internationale Prominente schlossen sich an und erhöhten damit den Druck. Schon bald darauf erregte der Hashtag nicht nur innerhalb Nigerias, sondern auch weltweit das Interesse an den seit Tagen andauernden Protesten und es hält weiter an.

Über die sozialen Medien wurden auch die Offline-Demonstrationen organisiert. Die Kombination aus beiden ließ die Proteste noch wirksamer werden und sorgte dafür, dass sowohl lokale als auch internationale Medien eine Bewegung von derart seismischem Ausmaß nicht länger ignorieren konnten. Nicht nur das - die Demonstranten riegelten in einem Akt des zivilen Ungehorsams strategisch auch die Straßen ab, um die Regierung dazu zu zwingen, auf fünf klarformulierte Forderungen einzugehen: Unter Anderem die sofortige Freilassung aller inhaftierten Demonstranten, Entschädigungszahlungen an die Opfer von Polizeigewalt und ihre Familien und die Einrichtung einer unabhängigen Schiedsstelle, die polizeiliche Übergriffe untersucht und verfolgt, alles innerhalb von 10 Tagen.

Nach mehreren Tagen, in denen die Bundesregierung zum wiederholten Mal versprach, die Sondereinheit aufzulösen und den Dialog mit den Demonstranten suchte, kam sie schließlich deren Forderungen nach. Es wurde zudem ein neues Präsidialgremium für Polizeireformen eingerichtet, um die Berichte früherer Gremien zu überprüfen und einen Fahrplan mit Rahmenbedingungen für die Umsetzung zu erstellen.

Allerdings konnte die Regierung damit die Demonstranten, deren Anzahl weiter anstieg, nicht ruhigstellen. Sie blockierten weiterhin Straßen und beharrten darauf, dass die Regierung nicht genug getan habe - nicht ohne Grund, wenn man bedenkt, dass frühere Proteste ähnliche Reaktionen hervorgerufen hatten, ohne dass auch entsprechende Taten gefolgt wären. Damit hat die Regierung das Vertrauen ihrer Bürger verspielt und muss es nun wieder aufbauen, indem sie sofortige und überzeugende Maßnahmen ergreift, um die Proteste sobald als möglich zu beenden.

Es war allerdings nicht nur die Weigerung der Demonstranten, sich zurückzuziehen, die die Regierung irritiert hat, es ist auch die Tatsache, dass die Proteste keine erkennbaren Führer*innen haben, da die Bewegung bewusst eine führungslose Strategie verfolgt. Auch dies wiederum nicht grundlos, sondern um potentielle Führungspersonen vor möglichen Einschüchterungen und Belästigungen durch die Regierung und ihre Vertreter zu schützen. Außerdem bewahrt diese Strategie die Integrität der Bewegung, indem sie den Missbrauch zur persönlichen finanziellen Bereicherung oder für etwaige politische Ambitionen unterbindet.

Doch obwohl eine erkennbare Spitze fehlt, sind die Proteste im gesamten Land gut koordiniert, insbesondere durch den Einsatz von Teams zur logistischen, medizinischen und rechtlichen Hilfeleistung - letztere vor allem für verletzte bzw. inhaftierte Demonstranten. Auch wenn zahlreiche Organisationen und Individuen die Proteste befördern, ist die zweifellos wichtigste darunter die „Feminist Coalition“ (Feministische Koalition), die sich erst im Juli dieses Jahres gegründet hat, um „die Gleichstellung von Frauen in der nigerianischen Gesellschaft zu fördern, mit Schwerpunkt auf Bildung, finanzieller Unabhängigkeit und ihrer Repräsentanz in öffentlichen Ämtern”.

Die Feminist Coalition hat bereits rund 77 Millionen Naira (rund 220.000,- Euro) an Spenden zusammengetragen, nicht zuletzt auch über Tweets, in denen Jack Dorsey, der Mitbegründer und CEO von Twitter und Weltstar Beyoncé zur Unterstützung aufgerufen haben. Gegen die Bemühungen, die Proteste durch Zugangsbeschränkungen zu den Bankkonten der Bewegung und derer, die sie finanziell unterstützen, aufzulösen, machte sich die Feministische Koalition die Kryptowährung Bitcoin als Zahlungsmittel zu Nutze und schritt unbeirrt voran - ein weiterer Beweis für die Innovationskraft junger Nigerianerinnen und Nigerianer und für die Geschwindigkeit, mit der sie sich neue Technologien zu eigen machen.

Es überrascht nicht, dass die Frauen, die sich in der Feministischen Koalition engagieren, mittlerweile als inoffizielle Führungspersonen der Bewegung gelten: Es ist  tatsächlich Folge  ihres jahrelangen Engagements für Frauenrechte und ihres Kampfs gegen sexuelle Übergriffe. So planten zum Beispiel im Dezember 2018 einige junge Frauen, der Bedrängungen beim Einkaufen auf den Märkten in Lagos überdrüssig, den Hashtag „Market March“, eine Sensibilisierungskampagne gegen sexuelle Belästigung. Zudem entstanden kleinere Feldzüge wie die „Wine and Whine“-Veranstaltungen, die Frauen einen sicheren Raum bieten, um sich auszutauschen und über Geschlechtergleichstellung zu sprechen, und die „Sanitary Aid“, bei der die Mädchen aus Haushalten mit geringem Einkommen Hygieneartikel und andere Sanitärprodukte kostenlos erhalten. Daneben organisieren sie informelle Unterstützungssysteme für Frauen mit vielfältigen Themen: von der Verbesserung der Bildungs- und ökonomischen Chancen bis hin zu Rechtsmitteln bei Fällen von sexueller Gewalt.

Die letzten Tage waren nicht einfach für die Demonstranten: Sie wurden von angeheuerten Schlägertrupps attackiert, in vielen Städten gab es Todesopfer und willkürliche Zerstörung, was zu noch mehr Gewalt und in ganzen neun Bundesstaaten zu Ausgangssperren führte, kontrolliert von Soldaten, die in Lagos auf unbewaffnete Demonstranten schossen - und alle Ereignisse waren live im Internet zu sehen. Das Zusammenwirken dieser Faktoren hat dem Enthusiasmus der Demonstranten einen Dämpfer und den Straßenprotesten der letzten Tage möglicherweise den Todesstoß versetzt.

Das führt zu der Frage: Wie geht es jetzt weiter mit der #EndSARS-Bewegung?
In Anbetracht der offenen Struktur, die von der Bewegung bei diesen Protesten praktiziert wurde, ist es unwahrscheinlich, dass sie in ihrer derzeitigen Form weiter bestehen wird. Aus ihr ist jedoch die große Chance erwachsen, sich mit Regierungsstellen auf verschiedenen Ebenen über die Reformdes nigerianischen Polizei- und Strafjustizsystems auseinanderzusetzen. Lokale und internationale Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft drängen seit Jahrzehnten erfolglos auf Reformen. Diesmal könnte die erneute Aufmerksamkeit infolge der Proteste der Katalysator für Veränderungen sein, falls der Druck auf die Regierung nicht nachlässt.

Nicht nur bedeuten die #EndSARS-Proteste das größte politische Ereignis für eine ganze Generation von Nigerianer*innen - die Gen Z - und selbst für viele vor der Jahrtausendwende Geborenen, sondern sie haben auch bei denjenigen, die sich zuvor nicht für nigerianische Politik interessierten, zu einem politischen Erwachen geführt. Für junge Nigerianer*innen könnte dies das Sprungbrett für die stärkere Einbindung in die politischen Prozesse des Landes sein – von der Ausübung des Wahlrechts bis hin zum Eintritt in politische Parteien und zur eigenen Kandidatur.

Während sich #EndSARS ursprünglich auf die Auflösung einer überaus gewalttätigen, korrupten Polizeieinheit konzentrierte, hat sie mittlerweile tatsächlich eine soziale und politische Revolution in Nigeria in Gang gesetzt.

Wie es Ibrahim Faruk, einer der Aktivisten aus Abuja, treffend formuliert: „Für mich bedeutet #EndSARS mehr als nur die Auflösung der taktischen SARS-Einheit oder der Polizeigewalt. Es ist ein Wendepunkt in unserer Geschichte, bei dem in einem noch nie dagewesenem Moment der Jugendbewegung und der Kanalisierung der Wut und Frustration als Folge von Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, mit der sich die Jugend Nigerias konfrontiert sieht – genauso wie mit Unsicherheit und Polizeigewalt - wir unsere Stimme gefunden haben und von unserer Regierung Rechenschaft und Maßnahmen verlangen.“

Chioma Agwuegbo, ein Veteran zahlreicher politischer Bewegungen, bestätigt dies: „Ich habe mich daran beteiligt, weil ich fest davon überzeugt bin, dass wir kurz vor etwas stehen, das Nigeria wirklich verändern kann. Ich glaube nicht, dass wir noch viel länger hätten weitermachen können wie bisher. Deshalb ist allein diese organische, führerlose Bewegung, die sagt: „Ihr könnt uns nicht immer weiter umbringen“, nur zu begrüßen.“

Es bleibt abzuwarten, was aus der Dynamik der Proteste kurz- und langfristig entstehen wird.

Der Weg ist noch weit, aber die Reise hat begonnen.