#EndSARS: Unsere Stimme gefunden und wieder verloren

Kommentar

Das Land hat nur selten mit einer Stimme gesprochen. Die unnachgiebige Polizeibrutalität gab der neuen Generation den Anlass ihre Stimme zu finden, laut und entschlossen. Unter dem Hashtag #EndSARS verbreiten sich die Proteste nun schnell international.

Demonstranten halten ihre Plakate vor dem Staatshaus von Lagos hoch.

Im Rückblick auf die letzten Wochen überkommt einen das Gefühl einer Tragödie, die während und nach den #EndSARS-Protesten über Nigeria hereingebrochen ist. Es sind nicht nur die Anzahl der Leben, die durch Waffen von Polizisten und Soldaten beendet wurden, oder die Macheten und Knüppel bezahlter Schläger. Denn man könnte einwenden, dass in den von Verbrechern beherrschten Dörfern im Nordwesten Nigerias täglich mehr Menschen ums Leben kommen.

Das Antlitz Nigerias ist von zahlreichen althergebrachten Narben gezeichnet, die –auch die 1914 von den Briten diktierte Nationenwerdung nicht heilen konnten. Nach den aktuellen Ereignissen werden sie wohl noch weniger verblassen. Das Land hat nur selten mit einer Stimme gesprochen, kein einziges Mal in dieser Generation. Bis vor Kurzem – weitgehend.

Wer hätte gedacht, dass unnachgiebige Polizeibrutalität den Anlass bieten würde, damit diese Generation ihre Stimme findet, die dann aber laut und entschlossen war. Verstärkt durch die sozialen Medien wurde sie weltweit gehört und schallte bis in die kalten Herzen derjenigen hinein, die das Land regieren. Und diese Stimme blieb erhalten, länger als alle gedacht hatten; länger auch als es jene bisher erlebt haben, die die Kunst beherrschten, Nigerianer und Nigerianerinnen in ewiger Unterwürfigkeit zu halten. Vielleicht auch länger als notwendig.

Für eine Generation, die damit abgetan wurde, dass sie lieber „Big Brother“ schauen als gegen Preiserhöhungen für Benzin und Strom protestieren würde, war es überraschend. Es war der Hinweis auf einen Aufbruch, der herrlich beängstigend ist. Aber es wäre naiv gewesen zu glauben, dass eine Regierung, die – wenn sie denn überhaupt welche hat – an quälend alten Ideen festhält, abwarten und zuschauen würde, wie diese Stimme immer lauter wird.

Die Regierung hatte natürlich keinerlei Schwierigkeiten, das Narrativ zu sprengen und aus dem großen Fluss, der damit drohte, einen Großteil der alten Fäulnis und der alten Ketten wegzuspülen, die dieses Land gefangen halten, ein Delta aus bedeutungslosen Rinnsalen zu formen.

Diese Ketten sind alt, haben aber nicht ohne Grund gehalten. Die #EndSARS-Proteste waren eine Massenbewegung, jedoch nicht so populär im Norden, wo die SARS nicht so brutal aufgetreten ist wie im Süden. Im Nordosten hat die SARS sogar dabei geholfen, Boko Haram zu bekämpfen. So erklärt sich, dass am Höhepunkt der #EndSARS-Proteste in der Stadt Maiduguri, dem Ort an dem Boko Haram gegründet worden war, sogar eine Koalition aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, für den Erhalt von SARS demonstrierte. Die Gouverneure der neunzehn nördlichen Staaten forderten absurderweise, alle SARS-Offiziere in ihren Staaten zu stationieren, weil sie deren Dienste sehr schätzen würden. 

Es gab auch Geflüster. Gerüchte, dass die Proteste sich gegen Buhari richten würden. Dass er durch eine politische Intrige aus dem Amt entfernt oder die Regierung destabilisiert werden sollte. Das alles mag weit hergeholt sein, aber viele Menschen im Norden, wo Buhari leidenschaftliche Anhänger hat, glaubten dies. Irgendwo in der blühenden Vorstellungsgabe dieser Menschen wurzelte und keimte die Idee, dass das endgültige Ziel der Proteste sei, Buhari aus dem Amt zu vertreiben.  

Dieselben Bewohner im Nordosten, die 2011 tatkräftig protestiert hatten, als Buhari die Wahlen verloren hatte, predigten nun plötzlich, dass Proteste – selbst geordnete und friedliche Proteste – schädlich seien.

Angesichts des Eifers, mit dem sie argumentierten, fragt man sich, ob der Buhari, den diese Leute so inbrünstig verteidigten, der gleiche ist, der nonchalant zur Seite schaute, als Banditen im Norden Dörfer überfielen, Hunderte umbrachten und Tausende vertrieben; der gleiche Buhari, der es fünf Jahre lang nicht geschafft hat, Boko Haram, wie im Wahlkampf versprochen, innerhalb von sechs Monaten zu besiegen.  

Zweifellos wurden Fehler gemacht. So ist es ein Rätsel, warum es einer ganzen Region nicht begreiflich zu machen war, dass die Forderung nach einer guten Regierungsführung, die letztendlich das Ziel der #EndSARS-Proteste war, eigentlich im Interesse aller sei, des Nordens wie des Südens. Darüber hinaus haben die Protestierenden nicht gemerkt, dass sie in einer überaus gereizten Stimmung handelten, auch nachdem die Regierung ihren Forderungen überraschend zugestimmt hatte.

Protestierende in Abuja, in Kano und anderswo wurden von Schlägern angegriffen, die aus dem Norden stammten. Diese waren von den Verschwörungstheorien überzeugt und wurden von Personen benutzt und bezahlt, die die Entstehung einer für das Land bedeutenden Bewegung im Auftrag der Regierung untergraben wollten. Ein Vorgehen wie aus dem Lehrbuch, um die Bevölkerung zu spalten und die Macht über sie zu bewahren. 

Am Dienstag, den 20. Oktober 2020, schossen Soldaten auf Protestierende, die an der Lekki-Mautstation in Lagos auf dem Boden knieten, die nigerianische Flagge hochhielten und die Nationalhymne sangen. Einige beschrieben die Geschehnisse als Massaker, auch wenn nach einer Woche tatsächlich weniger Tote zu beklagen waren als zunächst befürchtet. Das Militär lehnte jede Verantwortung für die Schüsse ab, obwohl es Tage zuvor Drohungen gegen die Protestierenden ausgesprochen hatte – auch dies eine Lektion aus dem zerlesenen Lehrbuch über die Unterdrückung von Widerstand.

Was immer in dieser Nacht in Lekki passiert ist hatte die gleiche Wirkung wie eine Heckenschere zu nutzen, um einem Schmetterling die Flügel abzuschneiden. Was wird aus einem Schmetterling ohne Flügel?

Nach den Schüssen an diesem Abend kehrte sich die Entwicklung der #EndSARS-Bewegung um und die gerade aus ihren Puppen geschlüpften Schmetterlinge des Protests, der Hoffnung für unsere Nation wieder aufleben ließ, wurden wieder zu Raupen. Sie taten, was Raupen tun – sie fraßen sich voll. Es folgten orgiastische Plünderungen, bei denen verzweifelte Menschen und Gauner in Lager einbrachen und Lebensmittel plünderten, die während des COVID-19-Lockdowns für die Bevölkerung gedacht und von Regierungsbeamten versteckt worden waren. Man könnte das  damit rechtfertigen, dass die Menschen nur das genommen haben, was ihnen zustand. Dass das Ausmaß der Korruption und die reine Bosheit der Regierungsbeamten aufgedeckt wurde, die den armen Menschen die dringend benötigten Lebensmittel vorenthielten. Es sollte aber auch bedacht werden, dass Raupen wie im Rausch über Pflanzen herfallen und nicht zwischen Unkraut und Saat unterscheiden. Die Plünderungen waren ein Auslöser allseitiger Gesetzlosigkeit und boten Gelegenheit, private Geschäfte und Häuser auszuräumen.

Die Metamorphose eines gutgemeinten Protests, der von Menschen eingeleitet wurde, die ihren Müll  ordentlich in Eimern entsorgen, lockte Rowdys und Gauner, die zunächst von der Regierung losgelassen wurden und nun ungehemmt vorgehen. Sie sind Teil des Ganzen, und sind es zugleich auch nicht.

Was immer falsch gelaufen ist - wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Chaos von jenen provoziert wurde, die  Rowdys herangekarrt haben, die  Protestierenden anzugreifen und von jenen, die in der Nacht in Lekki ihre Waffen abgedrückt haben.

Auch wenn die Schüsse dieser Gewehre unendlich lauter sind als die menschliche Stimme, hat die Geschichte mehr als einmal gezeigt, dass Kugeln eine Idee niemals überdauern können. Und auch wenn Nigeria durch die Ereignisse in Lekki in den Herzen vieler meiner Landsleute getötet wurde, sind in anderen, fruchtbaren Herzen durch die Proteste Ideen gesät worden, die aufkeimen werden. Es kann wunderbar oder schrecklich werden, ich bin noch nicht sicher. Sicher bin ich aber, dass etwas daraus entstehen wird.