Tianjue Li, Humboldt-Universität zu Berlin

Hans Blumenbergs Goethe-Rezeption im Kontext seiner Philosophie

Eine intensive Auseinandersetzung mit Goethe war für einen deutschen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es noch um 1900, bei Georg Simmel und Ernst Cassirer gewesen war. Dennoch demonstriert Hans Blumenberg (1920–1996) allein schon mit dem vierten Kapitel der »Arbeit am Mythos« (1979), Gegen einen Gott nur ein Gott, wie auch durch die im Nachlassband »Goethe zum Beispiel« (1999) versammelten 58 Essays die Produktivität einer Goethe-Faszination und das unausgeschöpfte Potential dieses Klassikers. Goethes Schriften und die Zeugnisse seiner Wirkungsgeschichte dienen als wichtige Quellen und Gegenstände für Blumenbergs philosophische Projekte. Dementsprechend sind Blumenbergs Goethe-Schriften nicht allein für sein Verständnis Goethes relevant, sondern auch paradigmatisch für das Begreifen seiner Auffassung des Verhältnisses von Philosophie und Literatur, für das Entschlüsseln von Blumenbergs Themen- und Werkzusammenhängen und seiner Schreibweisen. Retrospektiv gesehen ist es möglich, Blumenbergs Goethe-Rezeption als Gegebenheit zu halten. Stattdessen betrachte ich diese als allmählich verfertigtes Ergebnis von Blumenbergs lebenslangem Lese- und Forschungsprozess. Deshalb möchte ich mit meiner Arbeit versuchen, diese in sich heterogene Schriftengruppe in ihrer jeweiligen „Logik des Produziertseins“ (Adorno) durch textnahe Untersuchungen und das Studium seines Nachlasses in ihrem Entstehungskontext und -prozess nachzuvollziehen. Was bedeutet Blumenbergs lange Beschäftigung mit Goethe einerseits für seine Philosophie und andererseits für die Goetheforschung?