„Die EU darf jetzt nicht einknicken“. Das Veto Ungarns und Polens gegen den EU-Haushalt

Interview

Ungarn und Polen blockieren die Verabschiedung des neuen EU-Haushalts, um die Verknüpfung der EU-Zahlungen an das Prinzip der Rechtstaatlichkeit zu verhindern. In unserem Interview appellieren Piotr Buras vom ECFR Warschau und Lucas Guttenberg vom Jacques Delors Centre an der Berliner Hertie School an die EU, in diesem Schlüsselmoment nicht nachzugeben.

Glas-Paneel unter blauem Himmel

Ungarn und Polen blockieren die Verabschiedung des neuen EU-Haushalts, weil sie die Verknüpfung der EU-Zahlungen an das Prinzip der Rechtstaatlichkeit ablehnen. Diese Verknüpfung, die sogenannte Konditionalisierung des EU-Haushalts wurde Anfang November als Kompromiss zwischen der Ratspräsidentschaft, der Europäischen Kommission und dem Europäischem Parlament im Rahmen des Trilogs beschlossen. Mit ihrem Veto blockieren Polen und Ungarn nun den gesamten kommenden Haushalt für die Europäische Union. Was wollen sie damit erreichen?

Piotr Buras: Morawiecki und Orban wollen den EU-Haushalt und das Rechtsstaatsprinzip wieder voneinander entkoppeln. Sie schlagen dafür nun eine Vertragsreform vor, wissen aber natürlich, dass dies aussichtslos ist und den nicht Streit beilegen wird. Das Europäische Parlament ist Polen und Ungarn in dem vorliegenden Kompromiss schon weit entgegengekommen. Die beiden Länder sitzen derzeit auf einem hohen Baum.

Ungarns und Polens Regierungen sprechen von Erpressung. Sie behaupten, dass ihnen mit diesem Rechtsstaatsprinzip über die Hintertür nicht Rechtsstaatlichkeit, sondern in Wirklichkeit liberale Werte etwa in Bezug auf Homosexualität oder Migration aufgedrückt werden sollen. Haben sie Unrecht mit ihrer Behauptung?

Lucas Guttenberg: Das ist kompletter Quatsch. Der vorliegende Rechtsstaatsmechanismus hat einen sehr engen Rahmen. Er bezieht sich explizit auf Rechtsstaatsverstöße, die im Text klar beschrieben sind, und findet nur Anwendung, wenn etwaige Rechtsstaatsverstöße mit der Verwendung von EU-Geldern in Zusammenhang gebracht werden können. Der Kompromiss sieht allerdings vor, dass schon das Risiko eines Effekts auf den Umgang mit EU-Geldern ausreicht, um Sanktionen auszulösen. Der Hintergrund ist folgender: Wenn wir in einem Land beispielsweise keine unabhängige Gerichtsbarkeit haben, dann können wir uns nicht darauf verlassen, dass der Missbrauch von EU-Geldern vernünftig aufgedeckt würde. Aber natürlich ist der Mechanismus nicht für alle Rechtsstaatsverstöße einsetzbar, geschweige denn für irgendetwas Anderes wie Migrationspolitik. Orban lügt, wenn er sagt, dass dieser Rechtsstaatsmechanismus etwas mit Migrationspolitik zu tun hätte.

Hier geht es aber, erstens nicht um ein konkretes Interesse eines bestimmten Landes, sondern um ein fundamentales Prinzip, auf das die gesamte Europäische Union beruht, nämlich um Rechtsstaatlichkeit.

Warum wieder wird das Veto von Ungarn und Polen als Erpressung gegenüber den anderen EU-Staaten bezeichnet? Wie unterscheidet sich dieses Veto von anderen, die gang und gäbe sind, wenn in der EU per Einstimmigkeit entschieden wird? Orban und Morawiecki stellen ihr Veto als normales Prozedere dar und beziehen sich darauf, dass die Niederlande, als der EU-Haushalt bei dem Gipfeltreffen im Juli verhandelt wurde, ebenso mit einem Veto gedroht hätte.

Piotr Buras: Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen diesem Veto und anderen. Wenn ein Land ein bestimmtes Interesse hat, dann kann es natürlich versuchen, mit allen Mitteln die anderen Länder davon zu überzeugen, Zugeständnisse zu machen, auch mit einem Veto. Hier geht es aber, erstens nicht um ein konkretes Interesse eines bestimmten Landes, sondern um ein fundamentales Prinzip, auf das die gesamte Europäische Union beruht, nämlich um Rechtsstaatlichkeit. Es geht um die Frage, ob die EU Möglichkeiten zur Verfügung haben soll, um Verstöße zu bestrafen, die die EU als Ganzes gefährden. Das ist eine systemische Frage und keine Interessensfrage. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied. Und zweitens geht es in der Sache um den gesamten EU-Haushalt, der blockiert wird, und damit ein übergeordnetes Interesse der gesamten EU gefährdet.

Lucas Guttenberg: Es kommt drittens noch ein Prozessargument hinzu: Es gab eine bereits Einigung, der Polen und Ungarn zugestimmt hatten! Es ist normal, dass bei einstimmigen Entscheidungen jeder auf sein Interesse achtet. Jedes Land macht das. Ungarn und Polen sind extrem gut aus dieser Einigung herausgekommen, sowohl was die finanziellen Zuwendungen als auch was den Rechtsstaatsmechanismus betrifft. Hier wurden bereits im Juli erhebliche Zugeständnisse an Ungarn und Polen gemacht, weshalb beide Länder den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zugestimmt hatten. Es geht nicht, dass sie nun quasi fünf nach zwölf die Einigung wieder aufmachen, um für sich nochmal das Maximale rauszuschlagen. Das ist ein qualitativer Unterschied zu einem Veto oder einer Vetodrohung in Verhandlungen. Deshalb sprechen wir von Erpressung.

Orban und Morawiecki haben im Sommer der Gipfeleinigung zugestimmt, in der steht, dass es ein Konditionalitätsregime zum Schutz des EU-Haushaltes geben wird. In der Folge musste die EU-Ratspräsidentschaft sich auf das Parlament zubewegen, denn es musste ja auch zustimmen. Das was nun als Kompromiss herauskam, bewegt sich aber weiterhin im dem Rahmen, der im Sommer beschlossen wurde: es wird einen Rechtsstaatsmechanismus geben, der an den Haushalt geknüpft ist und der vom Rat mit qualifizierter Mehrheit ausgelöst werden kann. Polen und Ungarn konnten sogar eine umgekehrte qualifizierte Mehrheit verhindern, die besagte, dass sich eine qualifizierte Mehrheit finden muss, um das Auslösen des Mechanismus zu verhindern. Jetzt kann der Mechanismus nur noch ausgelöst werden, wenn eine qualifizierte Mehrheit dafür stimmt. Irgendwann müssen dann auch alle von ihrem hohen Ross runter und anerkennen, dass alle anderen eben auch Interessen haben und wir uns nur auf einen Kompromiss einigen können. Das ist die Kompromisslogik der EU. Ungarn und Polen sind dabei nicht schlecht weggekommen. Wenn sich alle so wie die beiden Länder verhalten würden, käme man nie zu einem Ergebnis.

Das Europäische Parlament und die deutsche Ratspräsidentschaft sollten jetzt sehr klar darin sein, dass ab dem 1. Januar kein einziger neuer Euro mehr verplant werden kann, solange es keine Einigung für das Gesamtpaket gibt.

Piotr Buras: Diese Prozessfrage ist extrem wichtig. Man muss sich den Ablauf vorstellen: Zunächst einigen sich die Staats- und Regierungschefs einstimmig auf einen gewissen Prozess, nämlich darauf, dass diese Verordnung am Ende des Trilogs mit qualitativer Mehrheit angenommen wird. Dann werden Verhandlungen im Trilog zwischen Rat, Kommission und Parlament geführt und es kommt zu einem Kompromiss, so wie das üblich ist in der EU. Dieser Kompromiss wird von 25 Ländern getragen, Polen und Ungarn werden überstimmt. So wie in diesem Prozess, dem die beiden Länder zugestimmt haben, vorgesehen. Und jetzt sagen sie aber, uns gefällt dieser Kompromiss nicht, deswegen blockieren wir den gesamten Haushalt. Das ist eine Erpressung. Natürlich dürfen sie Vorbehalte haben, sie dürfen den Kompromiss kritisieren und sie dürfen auch behaupten, dass dieser Kompromiss nicht vertragskonform ist. Sie können den rechtlichen Weg vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einschlagen, sobald die Verordnung in Kraft tritt. Aber sie dürfen die EU nicht in einer formal anderen Frage erpressen. Denn das sind formal gesehen zwei völlig verschiedene Fragen.

Wie soll die EU nun auf das Veto von Ungarn und Polen reagieren? Es ist ja für alle Mitgliedstaaten enorm wichtig, dass der Haushalt rasch verabschiedet wird. Ihr habt vor einigen Tagen einen gemeinsamen Artikel veröffentlicht und darin Vorschläge gemacht. Wie sehen diese aus?

Lucas Guttenberg: Die Grundannahme, von der wir ausgehen, ist, dass die EU wesentlich mehr Hebel in der Hand hat als Orban und Morawiecki uns im Moment glauben lassen wollen. Die Paketlogik, die sie ansetzen, um den mit Mehrheit verabschiedbaren Rechtsstaatsmechanismus zu blockieren, indem sie zwei andere Teile des Paketes blockieren, die einstimmig zu beschließen sind, kann sich bald gegen sie wenden. Denn ein Teil des Pakets betrifft die Ausgabenprogramme, von denen Polen und Ungarn besonders profitieren. Das Europäische Parlament und die deutsche Ratspräsidentschaft sollten jetzt sehr klar darin sein, dass ab dem 1. Januar kein einziger neuer Euro mehr verplant werden kann, solange es keine Einigung für das Gesamtpaket gibt. Unsere Annahme ist, dass es beiden Regierungen und in besonderer Maße der ungarischen Regierung sehr schnell sehr weh tun wird, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt. Das ist aus unserer Sicht mit Abstand der beste Hebel, den die EU ansetzen kann. Deshalb muss man nicht hektisch andere Lösungen suchen, sondern sollte erst mal Ruhe bewahren.

Piotr Buras: Es ist jetzt auch sehr wichtig, eine Botschaft an die polnische und ungarische Öffentlichkeit zu senden. Beide Regierungen wollen ihren Gesellschaften weismachen, dass eine Blockade des EU-Haushalts ihnen nicht zu schade kommen wird. Das ist selbstverständlich ein Bluff. Die polnische Regierung sagt sogar, dass Polen mit dem alten Haushaltsplan mehr Geld bekommen würde als mit dem neuen Mehrjährigen Finanzrahmen. Es bedarf jetzt deshalb einer sehr klaren Botschaft von der deutschen EU-Präsidentschaft und den anderen Staaten, dass dies nicht wahr ist. Die EU-Staaten sollten jetzt entschieden sein: Keine Einigung auf neue Ausgabenprogramme ohne eine Einigung über den gesamten neuen Haushalt.

Jetzt ist wirklich ein Schlüsselmoment für die gesamte EU. Sie darf in diesem Moment nicht einknicken.

Andere Länder, insbesondere die südeuropäischen, die bislang besonders stark unter der Covid 19 Pandemie gelitten haben, sind dringend auf die Mittel aus dem Recovery Fund angewiesen. Besteht nicht die Gefahr, dass diese Länder Polen und Ungarn nun doch entgegenkommen wollen, um eine schnelle Lösung zu erzielen?

Lucas Guttenberg: Ich bin in dieser Frage entspannt. Vor Juli wird ohnehin kein Geld aus dem Wiederaufbauinstrument fließen. Es bedarf erst einiger Vorarbeiten, damit das Geld fließen kann. Daran kann man auch jetzt weiterarbeiten. Es braucht also nicht bereits morgen einen Kompromiss, um das Geld pünktlich auszuzahlen.

Piotr Buras: Unser Vorschlag zielt nicht drauf ab, Polen oder Ungarn Geld wegzunehmen, sondern sie dazu zu bewegen, einzulenken. Wenn die EU in den Verhandlungen der kommenden Tage hart bleibt, wird es überhaupt keine Notwendigkeit geben, auf diese Option der Ausgabenprogramme zurückgreifen zu müssen. Es muss jetzt darum gehen, eine Einigung zu erzielen. Dafür ist eine gewisse Unnachgiebigkeit der EU-Ratspräsidentschaft und der anderen Länder erforderlich. Man darf jetzt nicht einknicken aus Angst, dass die ungarische und polnische Regierung am längeren Hebel sitzt. Zur Not könnte der Recovery Fund immer noch andere Wege – die verstärkte Zusammenarbeit innerhalb der EU oder eine intergouvernementale Vereinbarung unter dem Ausschluss von Ungarn und Polen – verabschiedet werden.

Lucas Guttenberg: Ich gebe auch zu bedenken, dass mit jeder Stunde, in der Ungarn und Polen durch ihre Blockadehaltung die anderen gegen sich aufbringt, die Lust der anderen sinkt, den beiden Ländern zu helfen. Es gibt ja auch Stimmen aus der Slowakei und aus Rumänien, die kein Verständnis für die Beiden haben. Der einzige, der die beiden Regierungen unterstützt, ist der slowenische Regierungschef, der als einziger Regierungschef in der EU Trump direkt nach der US-Wahl zu seinem vermeintlichen Sieg gratuliert hatte. Eine dauerhafte Blockade wird nur den gemeinsamen politischen Willen der anderen Länder stärken. Deshalb mache ich mir keine Sorgen, dass am Ende der längere Hebel in Brüssel und nicht in Warschau und Budapest ist.

Piotr Buras: Ich möchte vor einem nachdrücklich warnen: Momentan wird eine Option diskutiert, die Orban sicherlich sehr mögen würde. Es geht um eine Aufschiebung der Implementierung des Rechtsstaatsmechanismus, die allein durch die Europäische Kommission ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments entschieden werden kann. Die Kommission würde sich einseitig verpflichten, den Mechanismus nach seiner Verabschiedung nicht zur Anwendung zu bringen, bis der EUGH endgültig über seine Vertragskonformität entschieden hätte. Das wäre aus unserer Sicht ein fataler Fehler. Es wären zwei verlorene Jahre, in denen Orban auf das EU-Geld zurückgreifen und faktisch damit sein autokratisches Regime finanzieren könnte. In zwei Jahren stehen Orban Parlamentswahlen bevor und er braucht das Geld aus dem EU-Haushalt und dem Recovery Fund dringend. Das Gleiche gilt für Polen. Jetzt ist wirklich ein Schlüsselmoment für die gesamte EU. Sie darf in diesem Moment nicht einknicken. Ein Moratorium aber wäre ein Einknicken.

Es ist am Ende nicht eine Frage von Instrumenten, sondern des politischen Willens im Rest der EU.

Die EU funktioniert traditionell nach einer Kompromisslogik, über die wir schon gesprochen haben. Erwartet ihr, dass in Zukunft diese Kompromissfähigkeit in der EU schwieriger sein wird und damit die Funktionsweise der EU bedroht ist?

Lucas Guttenberg: Man muss generell konstatieren, dass es nach dem Beitritt eines Landes wenig Möglichkeiten gibt, damit bestimmte Standards wie etwa die Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt werden können. Wir verlassen uns im Grunde auf die Gerichte, was auf Dauer nicht ausreicht. Deswegen war es wichtig, dass wir jetzt darüber die Diskussion geführt haben. Es gibt ein Missverhältnis bei Ländern, die die Grundwerte der Union verletzen und gleichzeitig extrem viel Geld von der Union bekommen. Hier wurde eine Lücke offengelegt. Wir müssen ehrlich sein, dass nicht ein solcher Mechanismus dazu führen wird, Regierungen wie die jetzige in Ungarn und Polen grundsätzlich von ihrem Pfad abzubringen. Es ist am Ende nicht eine Frage von Instrumenten, sondern des politischen Willens im Rest der EU. Und der ist im Moment noch nicht ausreichend vorhanden. Wir brauchen eine klare Haltung im Rest der EU, dass wir bestimmte Dinge nicht tolerieren. Erst dann werden wir dies mit den vorhandenen Instrumenten durchzusetzen.

Piotr Buras: Ich glaube, dass sich letztendlich an der Kompromisslogik in der EU nicht so viel ändern wird. Wir führen gerade ist eine qualitativ völlig andere Diskussion. Hier handelt es sich um einen fundamentalen Konflikt zwischen zwei autokratischen Ländern und dem Rest der EU über die Prinzipien, auf denen die EU fußt. In dieser Frage funktioniert die Kompromisslogik natürlich nicht!

Eine letzte Frage: Was können wir vom nächsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 10. und 11. Dezember erwarten?

Lucas Guttenberg: Ich hoffe, dass die nächsten zwei Wochen dafür genutzt werden, um klare Botschaften zu senden, die Ungarn und Polen zum Einlenken zu bewegen. Meine zentrale Erwartung ist immer noch, dass es auf diesem Gipfel eine Einigung gibt.

Vielen Dank für das Interview!


Piotr Buras ist Direktor des Warschauer Büros des europäischen Think Tanks European Council of Foreign Relations (ECFR).

Lucas Guttenberg ist stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centres an der Berliner Hertie School.

Das Interview führte Dr. Christine Pütz. Sie ist Referentin Europäische Union der Heinrich-Böll-Stiftung.