Hohe Erwartungen – magere Ergebnisse

Bilanz

Eigentlich hätte die deutsche Bundesregierung mit Übernahme der Ratspräsident im zweiten Halbjahr 2020 die Gelegenheit gehabt, Führungsstärke in der Krise zu beweisen. Aber viele Versprechungen wurden nicht eingelöst, und die Zeit zum wirklichen Handeln in den so wichtigen Politikfeldern wie Migration und Klimapolitik versäumt. Warum konnte Deutschland nicht liefern?

Eine Glasfassade zum Himmel

Eigentlich hätte Deutschland 2020 die Gelegenheit gehabt, Führungsstärke in der EU zu beweisen. Die Tatsache, dass es Angela Merkels Deutschland war, das turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen sollte, wurde als ausgesprochen günstig eingeschätzt. Auch war es dem französischen Präsidenten im Mai gelungen, die Kanzlerin davon zu überzeugen, die festgefahrene Situation in Bezug auf die Corona-Anleihen zu überwinden und stattdessen einen Vorschlag zu unterstützen, der vorsah, den Corona-Wiederaufbaufonds durch eine EU-Schuldenaufnahme und nicht durch die Mitgliedsländer zu finanzieren und einen Großteil dieser Mittel in Form von Zuschüssen und nicht als Kredite zu verteilen.

In Kombination mit der großen Beliebtheit der Kanzlerin im Frühjahr hätte Deutschland während der Ratspräsidentschaft mit diesem Schritt den Versuch unternehmen können, die EU mit einem qualitativen Sprung nach vorne zu bringen. Man hoffte zudem, dass Deutschland von seinen Erfahrungen 2007 profitieren würde, als es dem Land gelungen war, den Verfassungsvertrag von 2004 durch eine bedachte Einbindung in den Vertrag von Lissabon zu retten.

Die erhofften Ergebnisse sind ausgeblieben

Allerdings zeigt es sich jetzt – einen Monat vor dem Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft -  dass Angela Merkel weder versucht hat, eine Debatte über den europäischen Integrationsprozess anzustoßen, noch eine Vision für die Entwicklung dieses Projekts in den kommenden Jahren zu entwickeln. Sie hat sich durch die wichtigen und drängenden Themen auf der Tagesordnung der EU gewurstelt, von denen einige wieder auf die Agenda der folgenden Ratspräsidentschaften gesetzt werden dürften.

Der No-Deal-Brexit ist nach wie vor eine realistische Option und der EU-Haushaltund damit auch der äußerst wichtige Corona-Aufbauplan — wird wegen des Rechtsstaatsmechanismus von Ungarn und Polen blockiert. Der Streit zwischen Deutschland und Frankreich über die „Europäische Autonomie” ist ebenfalls nicht beigelegt. Das zeigt sich, wenn die deutsche Verteidigungsministerin betont, dass die USA das Rückgrat der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleiben sollten und nicht andersherum, wie von Präsident Macron vorgeschlagen.

Und dann ist da noch die ungelöste Flüchtlings- und Migrationsfrage. Obwohl sich Deutschland bereit erklärt hat, minderjährige Flüchtlinge (ca. 1.500) aus Griechenland aufzunehmen, ist der neue EU-Pakt für Migrations- und Flüchtlingspolitik auf der politischen Agenda nicht nur wegen der Corona-Pandemie weiter nach unten gerutscht, sondern auch, weil die EU-Ratspräsidentschaft keine Initiative gezeigt hat, diesem Thema eine höhere Priorität einzuräumen.

Warum ist das so? Warum kann Deutschland keine Ergebnisse liefern? Wieso ist Deutschland nicht entsprechend aufgestellt und nicht in der Lage, einen Konsens bei den oben genannten Themen herzustellen und Visionen für die Zukunft der EU zu entwickeln?

Man könnte zunächst argumentieren, die Corona-Pandemie dominiere derzeit alle Pläne und Vorhaben. In der Tat hat sie zu Problemen auf struktureller und logistischer Ebene während der Präsidentschaft geführt (da die meisten Verhandlungen und Treffen online, also virtuell stattfinden). Wenn man dann noch berücksichtigt, dass der Zeitrahmen für die EU-Ratspräsidentschaft gerade einmal sechs Monate beträgt und die EU-Agenda breitgefächert und sperrig ist, lässt wenig Spielraum. Diese Tatsache zusammen, mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie erlauben es keiner Präsidentschaft, kühne Reformen vorzuschlagen oder zu verhandeln.

Der Brexit hat Deutschlands Rolle geschwächt

Zweitens haben die Brexit-Verhandlungen gezeigt, dass der Rückzug Großbritanniens die Rolle Deutschlands nicht gestärkt, sondern Deutschland isoliert hat. Der Brexit hat nicht nur die deutsche Wirtschaft schwer getroffen, sondern auch den Einfluss der als die „Sparsamen Vier” bezeichneten Mitgliedsstaaten in der EU gestärkt. Ihr Widerstand gegen gemeinsame Anleihen zur Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach Corona ähnelt nicht nur der britischen Position in den 1980er Jahren, sondern offenbart auch eine deutlich andere Einstellung zur Zukunft der europäischen Integration.

Das gleiche lässt sich über Präsident Macron sagen, der Frankreich darauf vorbereitet, die Führung in der EU zu übernehmen. Selbst wenn sich Deutschland und Frankreich auf eine Erneuerung und den Ausbau ihrer gemeinsamen Führungsposition in einer EU nach dem Brexit einigen sollten, wären sie mit bedeutenden Herausforderungen konfrontiert. Nicht nur in Bezug auf die „Sparsamen Vier”, sondern auch auf die so genannten Višegrad-Staaten (Tschechische Republik, Ungarn, Polen und die Slowakei), für die Großbritannien ein starkes Gegengewicht zu Deutschland und Frankreich dargestellt hat und die daher nicht zögern werden, weitere Einigungsbemühungen in entscheidenden Politikfeldern der EU wie Einwanderung oder Reformen der Euro-Zone zu behindern.

Wenn Deutschland oder Frankreich das verhindern wollen, ist es wichtig, dass sie ihre Positionen und politischen Absichten mit den kleineren EU-Ländern abstimmen und so einen exklusiven Bilateralismus vermeiden, von dem ihr Vorgehen im Umgang mit der Schuldenkrise geprägt war.

Abgesehen davon, muss jedoch auch zur Kenntnis genommen werden, dass Deutschland noch nicht bereit ist, eine Führungsrolle zu übernehmen, wie sie in der EU benötigt wird. Dem Land fehlt es an etwas, das man als strategisches Denken bezeichnen könnte, denn Deutschland muss seine wahre Rolle im europäischen Kontext erst noch finden. Die Bundesregierung hat ihre Energie in den letzten 10 bis 15 Jahren größtenteils darauf verwendet, sich gegen Positionen und politische Vorschläge zu stellen, die auf die Zukunft und Profilierung der EU, insbesondere auf die Euro-Zone abzielten.

Mehr finanzielle Mittel für Klima- und Umweltschutz wurden verweigert

Trotz der nicht nachlassenden Forderungen von Angela Merkel und der Bundesregierung nach „mehr Europa“ wurden bislang weder Versuche zur Definition dessen, was damit gemeint ist, unternommen, noch wurden entsprechende Mittel zur Umsetzung bereitgestellt. Tatsächlich könnte man behaupten, dass Deutschland eigentlich die Einstellungen der „Sparsamen Vier“ teilt, dabei allerdings wesentlich diplomatischer vorgeht, indem es gerade noch genug unternimmt, um den Zusammenbruch der EU bzw. der Euro-Zone zu verhindern, aber gleichzeitig alles notwendige Handeln zur Beseitigung der ursächlichen Probleme unterlässt.

Deutschlands europäische Klimapolitik ist dafür ein vortreffliches Beispiel. Obwohl Klima- und Umweltschutz zu den wichtigen Themen seiner EU-Ratspräsidentschaft gehören, ist Berlin nicht bereit, die finanziellen Mittel für den ehrgeizigen Green Deal der Europäischen Kommission bereitzustellen. Der deutsche Finanzminister hat deutlich gemacht, dass er nicht mehr in den EU-Haushalt einzahlen wird, um das ehrgeizige Ziel von 1 Billion Euro für den Green Deal der Kommission zu erreichen. Deutsche Politiker*innen haben Brüssel immer wieder davor gewarnt, die finanzpolitischen Vorschriften der EU zu lockern, um so Mittel für grüne Projekte verfügbar zu machen. Auch haben sie sich immer gegen den Plan einer Kapitalerhöhung für die EIB gestellt, mit der die Finanzierung von klimapolitischen Maßnahmen ermöglicht werden sollte.

Der neue Corona-Wiederaufbaufonds ignoriert die alten Probleme der Euro-Zonen-Krise

So scheint die Zukunft der EU, obwohl Deutschland wirtschaftlich und auch anderweitig von der EU profitiert, keine entscheidende Rolle in der deutschen Politik zu spielen. Bezeichnend hierfür sind Berlins anfängliche Entscheidungen über Exportverbote und Grenzschließungen während des Ausbruchs der Corona-Pandemie. Und die Kehrtwende Merkels hin zu einer Unterstützung des EU-Wiederaufbaufonds nach der Pandemie könnte eher mit Blick auf ihre politische Hinterlassenschaft geschehen sein.

Selbst wenn das nicht der Grund gewesen sein sollte und die Einigung über den Corona-Wiederaufbaufonds im Juli 2020 als ein Bemühen um gemeinsames Handeln bewertet werden kann, hat Deutschland damit auch die Grenzen dieses neuen Deals festgelegt. Mit der Einigung auf den Fonds werden keine Probleme aus der Zeit der Euro-Zonen-Krise gelöst; sie werden noch nicht einmal erwähnt. Die Herausforderung bestand ausschließlich darin, neues Geld für die EU zu beschaffen, und nicht, sich mit den alten Schulden zu befassen, die nach wie vor die öffentlichen Haushalte von Italien, Spanien und Griechenland belasten.

Außerdem wurde in den Diskussionen des Europäischen Rats ein neuer Kontrollmechanismus vereinbart, ein Prozess, mit dessen Hilfe die einzelnen europäischen Länder die Verwendung der gemeinsamen Mittel gegenseitig prüfen und kritisch hinterfragen können. Skeptiker*innen haben zu Recht angemerkt, dass damit Konflikte in die Zukunft verlagert werden.

Es fehlt Weitsicht für das politisch Notwendige

Offensichtlich hat Deutschland es versäumt, eine interne Diskussion über die Rolle des Landes und seine Führungsposition in der EU anzustoßen. Es ist falsch, sich auf das „finanziell Erstrebenswerte“ zu beschränken. Die Herausforderung besteht darin, das „politisch Notwendige“ für ein Land, das mehr als andere Länder vergleichbarer Größe für seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und seinen globalen Einfluss auf eine lebendige, einheitliche EU angewiesen ist, in den Mittelpunkt zu stellen. Eine Lösung für dieses Dilemma könnte eine ordnungsgemäße Regierung für die Euro-Zone und EU mit eigenen Steuereinnahmen und haushälterischen Befugnissen sein.

Deutschland sollte darüber hinaus zu einer glaubwürdigen EU-Außenpolitik beitragen, statt es beispielsweise Frankreich alleine zu überlassen, das durch die USA entstandene Vakuum im Nahen Osten zu füllen. Dafür müsste Deutschland aufhören, ausschließlich mit Blick auf wirtschaftliches Wachstum und Exportförderung zu handeln. In einem Moment, in dem die wichtigsten deutschen Handelspartner zunehmend außerhalb seiner engsten strategischen Verbündeten zu finden sind, ist dies für die Stärkung Europas förderlich.

China ist dafür ein gutes Beispiel: Mit einem Warenexportvolumen von annähernd 100 Milliarden Euro nach China entfällt auf Deutschland mehr als die Hälfte der gesamten EU-Exporte. Gleichzeitig geht Deutschland mit China in Bezug auf das Thema Menschenrechte jedoch sehr nachsichtig um.

Dasselbe lässt sich zur Haltung der Türkei in Bezug auf die Situation in der Ägäis und auf Zypern feststellen. Obwohl Deutschland die einseitigen Maßnahmen von Präsident Erdogan verurteilt und auf diplomatische Lösungen drängt, schätzt es gleichzeitig den Wert der bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen mit der Türkei und möchte keine Sanktionen verhängen. Diese würden der deutschen Wirtschaft schaden und sich auf die lukrativen Geschäfte mit Rüstungsgütern auswirken (z.B. auf die Lieferung von sechs von der Türkei bestellten Unterseebooten vom Typ 214).

Unerfüllte Erwartungen bieten frischen Nährboden für EU-Skeptiker*innen

Die Frage ist also nicht, ob die deutsche EU-Ratspräsidentschaft erfolgreich war oder nicht. Ein flüchtiger Blick auf das, wofür Deutschland in den letzten 10 bis 15 Jahren gestanden hat, hätte die Erwartungen bereits dämpfen sollen und damit Enttäuschungen vorgebeugt. Es wäre ausgesprochen erfreulich gewesen, hätte Deutschland mit einer Bankenunion oder einer aggressiveren Politik gegenüber China über seinen Tellerrand hinausgeblickt.

Bis das geschieht, vor allem aber bis zum Ende des Jahres 2020, muss Deutschland für die Umsetzung des Corona-Wiederaufbaufonds der EU sorgen. Sollte das nicht gelingen, könnten sich die EU-Volkswirtschaften schon bald im freien Fall befinden, was dann ein guter Nährboden für das Wiedererstarken populistischer Parteien und EU-Skeptiker*innen wäre. Allgemein wird die Ansicht geteilt, eine Lösung für dieses Problem könne nicht im Rahmen des EU-Haushalts gefunden werden, sondern bestehe in „zwischenstaatlichen Abkommen“.

Das wäre zwar nicht besonders kompliziert und zeitaufwendig, könnte allerdings die gleichen Probleme hervorrufen, mit denen die Mitgliedstaaten bereits konfrontiert waren, als es darum ging, die Schuldenkrise der Euro-Zone zu bewältigen. Sollte das 2021 geschehen, einem Wahljahr in Deutschland, könnte sich das als größtes Hindernis dabei erweisen, den im Ausland bestehenden Erwartungen an eine Führungsrolle mit transformativer Kraft in der EU zu entsprechen. Tatsächlich könnte das Narrativ von Deutschland als dem Zahlmeister der EU, das vom politischen Establishment in Deutschland seit Beginn der Schuldenkrise genährt worden ist, wiederkehren, um Deutschlands Fähigkeit, sich im entscheidenden Moment für Europa einzusetzen, zu behindern.