Europas Rechtsstaat steckt in der Krise - Kann die EU ihn noch retten?

Kommentar

In seinem Kommentar bewertet Daniel Freund den neuen Rechtsstaatsmechanismus bei aller Kritik als Erfolg. Erstmals werden die Auszahlungen von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft mit dem Ziel, gegen Korruption und Abbau des Rechtsstaats vorzugehen.

Portrait: Daniel Freund

Sofia im September 2020. In den engen Häuserschluchten vor dem Präsidentschaftspalast hallen die Rufe zehntausender Demonstranten, die gegen die korrupten Machenschaften der Regierung von Premier Bojko Borissow auf die Straße gegangen sind. Lautstark fordern sie “Rücktritt”. Es mischen sich aber auch Rufe nach Hilfe aus Brüssel in den Chor der Unzufriedenen. Es sind vor allem die jungen Menschen, die wiederholt im persönlichen Gespräch fordern: “Stellt die Zahlungen von EU-Hilfen an die Regierung ein. Sie stützen eine korrupte Elite. Und sie werden zum Abbau von Rechtsstaat und Demokratie missbraucht.”

Korruption Made in Europe

Die Forderung an die Europäische Union Subventionen und Zahlungen einzufrieren, zu kürzen oder gar komplett einzustellen habe ich auf meinen Reisen dieses Jahr durch Ungarn, Tschechien und Bulgarien häufig gehört. Sie klingen radikal. Auf den ersten Blick scheinen sie im Widerspruch mit dem Gedanken der Europäischen Solidarität zu stehen. Und doch entspringen sie der Verzweiflung vieler junger Aktivist/innen, wenn eine politische Elite den Rechtsstaat abbaut und Grundrechte beschneidet. Sie bringen die Frustration von Oppositionspolitiker/innen zum Ausdruck, wenn Milliardenbeträge in den Taschen politischer Günstlinge verschwinden. Und sie spitzen eine unbequeme, europäische Wahrheit zu: Die Art und Weise wie die Europäische Union ihr Geld ausgibt, hat zum Entstehen korrupter autokratischer Strukturen in den Mitgliedstaaten der EU beigetragen.

Wenn Milliarden Euro europäischer Steuerzahler als Fördermittel an die Regierungen der Mitgliedstaaten fließen, dann gibt es von Seiten der EU nahezu keine Kontrolle, ob und in welchem Umfang diese Gelder tatsächlich bei den Empfängern ankommen. Der Mangel an Rechenschaftspflicht führt zu strukturellem Missbrauch. Es lässt sich häufig nur schätzen, wie hoch die Beträge sind, die in der EU jährlich in schwarzen Kassen versickern. Allein für Bulgarien dürften es mehrere hundert Millionen Euro sein. In Ungarn sind es Milliardenbeträge.

Ein Großteil der EU-Mittel wird dabei auf zweierlei Weise missbraucht: Sie sichern die politische Macht einer Partei-Elite und sie dienen der Selbstbereicherung jener, die sich den politischen Zugriff darauf gesichert haben. In seiner Struktur ähnelt der Geldstrom aus Brüssel dabei den Einnahmen, die Golf-Emirate durch den Verkauf von Öl erzielen: ein externes Einkommen, das nur einem exklusiven Zirkel zur Verfügung steht und für dessen Verwendung kaum Rechenschaft abzulegen ist.

Selbst bereichern & Macht sichern

Ungarn ist hier ein trauriges Paradebeispiel: Die Regierung schmeißt Universitäten aus dem Land. Freie Presse und Oppositionelle werden drangsaliert. Freie Medien werden aufgekauft und mundtot gemacht. Und gleichzeitig wird das persönliche Umfeld von Viktor Orbán unvorstellbar reich. Orbáns Vater besitzt den profitabelsten Steinbruch Europas. Er liefert - nahezu exklusiv - das Baumaterial für EU-geförderte Bauprojekte und baute sich ein Anwesen in seinem Heimatdorf zum Golfplatz um. Orbáns Schwiegersohn hat mit dem Verkauf und der Installation von LED-Straßenlampen Millionen verdient. Sponsored by EU.

Der Oppositionsabgeordnete Akos Hadhazy hat das ausgeklügelte System dokumentiert, mit dem EU-Gelder systematisch abgegriffen werden. Öffentliche Vergabeverfahren werden manipuliert, sodass am Ende nur Firmen aus dem Umfeld von Viktor Orbán die Ausschreibung gewinnen. Auf das bescheidene Wohnhaus des Orbán-Schulfreunds Lörinc Meszaros sind allein 19 Großunternehmen zugelassen. Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass von jedem ausgegebenen Fördermittel-Euro mindestens 20 Cent in private Taschen aus dem Orbán-Umfeld fließen. Bei hunderten der mehr als 40.000 Projekte wurden Unregelmäßigkeiten festgestellt. Ermittlungen der lokalen Staatsanwaltschaften und der EU-Antibetrugsbehörde OLAF führen aber nur in den seltensten Fällen zu Anklagen oder Strafen.

In Bulgarien hat Bivol - ein Kollektiv von Investigativjournalist/innen - dokumentiert, wie präsent Korruption mit EU-Geldern im Alltag der Bulgar/innen ist. Manchmal sind es überteuerte Renovierungsprojekte, mal kaputte Gehwegplatten, mal eine nicht funktionierende Toilette, mal ist es eine Ministerin, die zugibt, dass es nur darum geht, soviel Geld wie möglich in die eigenen Taschen zu wirtschaften. Nahezu überall muss man erfahren, dass öffentliche Gelder geplündert werden und zur Bereicherung einer kleinen Elite beitragen.

Die Arroganz und der Egoismus der Mächtigen zerstört Vertrauen in die Politik und sie zerstört das Vertrauen in die Europäische Union. Sie nervt die Menschen auf der Straße. Und sie sendet ein fatales Signal: Willst du erfolgreich werden, musst du dich an diesem System beteiligen - oder du wanderst aus.

Geld als Hebel für den Rechtsstaat

Korruption mit EU-Geldern und der Abbau des Rechtsstaates in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind eng miteinander verknüpft. Es ist daher folgerichtig, dass der europäische Einsatz für den Schutz von Rechtsstaat und Demokratie dort ansetzt, wo es korrupte Politiker/innen am meisten schmerzt: Beim Geld.

Ab dem 1. Januar wird die Europäische Union über ein Instrument verfügen, um die Zahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu knüpfen. Das ist ein Erfolg - aber es ist keine Wunderwaffe. Denn der Weg zum Mechanismus war steinig - und der Mechanismus, wie einst von der Kommission vorgeschlagen und vom Parlament verbessert, musste in dem monatelangen Verhandlungsprozess Federn lassen.

Auch wenn das aktuelle Gesetz zum Schutz des Rechtsstaats in Europa (zu Recht) in der Kritik steht: Es darf nicht vergessen werden, dass der Mechanismus im Sommer 2020 kurz davor stand, vollends zu scheitern. Auf dem Gipfel der EU Staats- und Regierungschefs im Juli wurden geplante Sanktionen für EU-Staaten, in denen Grundrechte und Rechtsstaat verletzt werden, bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Später legte die Deutsche Ratspräsidentschaft eine Position vor, in der selbst das Wort “Rechtsstaat” nicht mehr auftauchte. Viel zu früh wurden unnötige und umfassende Zugeständnisse an den ungarischen Premierminister Viktor Orbán gemacht. Der Rat ging auf Konfrontationskurs mit dem Parlament.

Orbán vs. Europaparlament

Es ist dem Verhandlungsteam des Europäischen Parlaments zu verdanken, dass in den Trilogverhandlungen aus diesem “Einknicken” vor Viktor Orbán wieder ein brauchbarer Rechtsstaatsmechanismus wurde. Auch wenn das ausgehandelte Gesetz am Ende nicht so wirkmächtig war, wie es sich das Parlament gewünscht hatte: Der Kompromiss war deutlich stärker, als das, was die Deutsche Ratspräsidentschaft vorgelegt hatte. Die wütenden Proteste aus Warschau und Budapest waren ein deutliches Zeichen, dass dieser Rechtsstaatsmechanismus kein Papiertiger ist.

In der letzten Runde im Rechtsstaatsstreit ließen die Regierungen Polens und Ungarns vollends die Masken fallen. Sie waren bereit, mit ihrem Veto gegen den EU-Haushalt und die Corona-Hilfen Europa in eine schwere Krise zu stürzen - nur um den Rechtsstaatsmechanismus zu verhindern.

Die Verhandlungen sind beendet. Die Europäische Union wird ab dem 1. Januar 2021 erstmals über einen Mechanismus verfügen, der die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpft. Damit hat die Union ein Instrument, dass nicht nur zum Schutz des Rechtsstaates genutzt werden kann - es eignet sich auch, um gegen Korruption vorzugehen.

Jetzt muss die EU-Kommission den Willen zeigen, dass sie es ernst meint mit der Verteidigung unserer Werte und dem Kampf gegen Korruption. Eine Prüfung des Gesetzes durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) darf keine Schonfrist für Rechtsstaatsbrecher wie Viktor Orbán und Co. bedeuten. Die EU-Kommission muss bis dahin alle aktuellen Werkzeuge einsetzen, um die Unabhängigkeit der Justiz zu verteidigen und gegen Korruption zu kämpfen. Wir dürfen die Bürgerinnen und Bürger in Ungarn und Polen nicht ohne funktionierenden Rechtsstaat im Regen stehen lassen.

Mehr Integration muss die Antwort auf die Krise sein

Der Wert des Rechtsstaatsmechanismus wird sich tatsächlich erst dann bemessen lassen, wenn er zum Einsatz kommt. Bis dahin muss die Europäische Union aber dringend ihre Lehren für die Zukunft ziehen. Das Veto Polens und Ungarns drohte die Staatengemeinschaft in eine schwere Krise zu stürzen. Korruption und autoritäre Tendenzen nehmen zu - nicht nur in Polen und in Ungarn. Wenn wir Europa als eine solidarische Gemeinschaft der Werte verstehen, werden wir uns weiterentwickeln müssen. Wenn wir wirksam gegen jene vorgehen wollen, die unsere Werte missachten dann müssen wir schlagkräftiger, demokratischer und bürgernäher werden. Die Konferenz zur Zukunft der EU steht in den Startlöchern. Sie wird - gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern - Antworten finden müssen. Antworten auf die Krise des Rechtsstaats in Europa. Antworten auf die grassierende Korruption. Antworten auf ein überholtes institutionelles Gefüge in der EU, das im Pandemiejahr 2020 nur mit Hängen und Würgen einen Kollaps Europas verhindern konnte.