Von der Revolution bis zum Krieg - Innerarmenische Entwicklungen

Hintergrund

Der Artikel gibt einen detaillierten Überblick über die innenpolitische Situation in Armenien von der Revolution bis zum Krieg im Herbst 2020. Der Autor analysiert, wie die Politik der Revolutionsregierung, das Coronavirus und der Krieg zu einer humanitären Katastrophe in Armenien geführt haben.

 

IDPs, die nach dem Krieg nach Karabach zurückkehren.

Im Jahre 2015 änderten der damalige Präsident Sersch Sargsjan und die Republikanische Partei die Verfassung der Republik Armenien, um den Übergang von einem semipräsidentiellen Staat in einen parlamentarischen Staat möglich zu machen. Die Opposition sowie ein großer Teil der Zivilgesellschaft interpretierten diesen Schritt als Versuch, die Macht von Sersch Sargsjan über den Ablauf seines Mandats als Präsident hinaus zu verstetigen, indem man seine Wiederwahl als Ministerpräsident ermöglichte In den Parlamentswahlen 2017 erzielte dann die Republikanische Partei[1] die absolute Mehrheit der Stimmen und bildete allein die Regierung. Die neue Verfassung ermöglichte in der Tat eine „persönliche“ Regierung Sersch Sargsjans: Sie stattete den Ministerpräsidenten mit Übermacht aus. Sie trat jedoch erst in Kraft. So entstand im April 2018 nach dem Ende der Amtszeit des Präsidenten und vor der Wahl des Ministerpräsidenten ein Machtvakuum in Armenien.

Die Situation vor der Revolution und die ersten 100 Tage von Ministerpräsident Nikol Paschinjan

In diesem Zusammenhang startete der oppositionelle Abgeordnete und Journalist Nikol Paschinjan seine Initiative zum Aufbau einer Oppositionsbewegung. Ziel war es, Sersch Sargsjans Wiederwahl zu verhindern und den Prozess der Machtreproduktion zu unterbrechen. Die panarmenischen Massendemonstrationen im April und Mai 2018, die Paschinjan angeführt wurden, hatten das Ziel, den Übergang von Sersch Sargsjans System innerhalb des parlamentarischen Systems zu neutralisieren.

Unter dem Druck der Massenproteste im April und Mai in Kombination mit dem Kampf verschiedener Gruppierungen innerhalb der herrschenden Elite wurde, Sersch Sargsjan zum Rücktritt und zu der Einsicht gezwungen, dass Nikol Paschinjan und die von ihm angeführte Bewegung „Recht hatten“. Sersch Sargsjan, rief indirekt dazu auf, Nikol Paschinjan und seiner Bewegung zu folgen.

Der Führer der Revolution und sein Team nutzten später den verfassungsrechtlichen Weg über die Wahl von Nikol Paschinjan zum Ministerpräsidenten in der von der Republikanischen Partei dominierten Nationalversammlung, was zum Rücktritt Sersch Sargsjans führte.

Der eingeschlagene Weg war zwar rechtmäßig und lag innerhalb der verfassungsrechtlichen Logik, war aber aus politischer Sicht eine langsam tickende Zeitbombe. In sämtlichen darauffolgenden Stellungnahmen, Reformprojekten und Gesetzesinitiativen sprachen sowohl Nikol Paschinjan als auch sein Team über Rechtmäßigkeit und aktuelle Verfassungsnormen, die ihr Handeln leiten würden, was nichts anderes bedeutete als die Bewahrung der alten Verfassung und die Steuerung von Prozessen innerhalb dieser Leitplanken.

Die Institutionalisierung der Samtenen Revolution

Die Wahl des Ministerpräsidenten am 9. Mai 2018 kennzeichnete den Beginn des verfassungsrechtlichen und juristischen Wegs zur Institutionalisierung der Revolution. Dieser Weg und auch die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit hatten Priorität, führten jedoch zur Verlangsamung und Behinderung von zukünftigen Reformen im Land. Nachdem Nikol Paschinjan zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, bildete er umgehend eine Koalitionsregierung aus den im Parlament vertretenen Parteien YELK, PAP und ARF[2][3]. Gleichzeitig besetzte er zahlreiche Posten in der Geschäftsführung mit Gefolgsleuten seines revolutionären Parteiprogramms. Während er die Regierung ausbaute, begann der Kampf gegen die herrschende Elite. Der wohlbekannte Fall des Parlamentariers General Manvel Grigoryan, Mitglied der Republikanischen Partei, endete vor Gericht – ein klarer Warnschuss an die ehemaligen Eliten. Dieser Fall zerstörte zudem die Thesen von „Stabilität“ und „Nation-Army“, die von Sargsjans System aufgebracht worden waren, und belegte ihr Scheitern. Ferner symbolisierte er das politische Ende des sogenannten „“Karabach-Clans“ um die früheren, aus Berg Karabach stammenden Präsidenten Kotscharjan und Sargsjan und war zudem der erste Schritt zur Umsetzung des Prinzips „Neue Gesichter im armenischen politischen System“.

Gleichzeitig war der Konsens zwischen der Regierung Sersch Sargsjan und der Gesellschaft zerbrochen durch den Kriege im April 2016 und dem daraus folgenden Verlust von 800 Hektar Land in der Konfliktregion Nagorny-Karabach, der selbsterklärten Republik Arzach. Das war der größte Schlag gegen Sargsjans Ansehen.

In diesem Zusammenhang ist aber auch zu berücksichtigen, dass zahlreiche Vertreter*innen des ehemaligen Systems in der Regierung verblieben; ein Umstand, der als neue Chance für die Vertreter*innen des alten Systems und die Ablehnung der Blutrache verkauft wurde. Kurzfristig schafften es Paschinjan und seine Gefolgsleute jedoch, sowohl die Proteste ihrer Anhänger*innen aufrechtzuerhalten (und sie damit zufrieden zu stellen), als auch Verhaftungen und Strafverfahren zu vermeiden. Damit verhinderten sie außerdem ein Zusammenrücken der ehemaligen Eliten gegen das neue Regime. Anfänglich hätte eine mögliche, offene Konfrontation mit dem ehemaligen System verheerende Auswirkungen auf den Führer der Revolution und sein Team haben können, mit einem Zusammenbruch des Staatsapparats Zur Folge. Außerordentliche Parlamentswahlen wurden immer mehr zu einem Gebot der Stunde.

Vorgezogene Neuwahlen und die Legislative

Die von der Macht verdrängte Republikanische Partei versuchte, die Wahlen auf den kommenden Mai zu verschieben, aber Paschinjan bestand darauf, dass sie im Dezember desselben Jahres abgehalten würden. Nachdem die Republikanische Partei die verfassungsmäßige Mehrheit in der Nationalversammlung verloren hatte, versuchte die Partei mit Unterstützung der ARF und PAP, vorgezogene Neuwahlen um jeden Preis zu verhindern. Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde später ein politisches Abkommen geschlossen. Nikol Paschinjan trat vom Posten des Ministerpräsidenten zurück, die Nationalversammlung scheiterte zwei Mal an der Wahl eines neuen Ministerpräsidenten und für den 9. Dezember 2018 wurden Neuwahlen anberaumt.

Aus den Parlamentswahlen ging die von Paschinjan angeführte Mein-Schritt-Allianz mit revolutionärem Mandat als klarer Sieger hervor: Sie bekam mehr als 70% der Stimmen und gewann somit die verfassungsmäßige Mehrheit und das Recht, eine Regierung zu bilden. Damit trat die Revolution in ihre zweite logische Phase, als es nach der Bildung der Legislative und Exekutive dringend geboten war, die wichtigsten staatlichen Sektoren zu transformieren. Dieser eindeutige und uneingeschränkte Wahlsieg führte jedoch auch dazu, dass sich die Regierungspartei als makellos darstellte. Auf öffentliche und politische Kritik konterte sie mit der Aussage, dass eine Partei, die 70% der Stimmen bekommen hatte, die Mehrheit der Bevölkerung vertrete und daher anderen Meinungen keine Beachtung schenken müsse.

Somit führten diese demokratischen Wahlen zur Bildung eines Parlaments und einer Regierung, die ungebremst durchregieren konnte. Es war der Regierungspartei also letztlich möglich, selbst als Kontrollorgan aufzutreten. Diese Umstände offenbarten, dass die Ablehnung des alten Systems sowie das Fehlen der öffentlichen Legitimität der politischen Opposition ein gewaltiges politisches Vakuum geschaffen hatten, das von den Revolutionär*innen gefüllt wurde. Die politische Opposition hatte keine institutionelle Grundlage als Partei und konnte somit weder eine innerparteiliche Demokratie noch partnerschaftliche Beziehungen in der Politik aufbauen.

Parteikonsilidierung im Zeitraffer

Die Partei Zivilvertrag musste ihre Kandidat*innenliste in vergleichsweise kurzer Zeit zusammen stellen. Die Liste bestand aus zahlreichen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, die sich als Gleichgesinnte den Prinzipien „Für alles Gute!“ und „Gegen alles Böse!“ verschrieben hatten. Die für eine etablierte Partei typische innerparteiliche Demokratie und Kontrolle waren jedoch noch im Entstehen begriffen. Unter diesen Umständen an die Macht zu kommen, stellte sowohl die ehemaligen als auch die amtierenden Parteimitglieder auf die Probe. Es gab sogar eine Phase, in der Lena Nazarjan, Mitglied der Parteiverwaltung, bekanntgab, dass der Prozess der innerparteilichen Mitgliederbesetzung unterbrochen werden musste, um das Eindringen von Opportunist*innen und anderen Elementen in die Organe der Regierungspartei zu unterbinden. Die Niederlagen in den Marzes (Provinzen) und in den kommunalen Selbstverwaltungen im Jahre 2019[4], den Vertretungen der Regierungspartei auf niedrigerer Ebene, sowie die Siege der Mitglieder des Ältestenrats, vorwiegend aus der Republikanischen Partei, der Armenischen Revolutionären Föderation und der Partei Blühendes Armenien, zeigten, dass auch die Regierungspartei vorwiegend „aus Jerewan“ kam.

Zudem war es von höchster Wichtigkeit, Klarheit hinsichtlich der Beziehungen zwischen den parlamentarischen und außerparlamentarischen Kräften zu schaffen. Nach dem Erdrutschsieg bei den Wahlen erklärten sich Paschinjan und seine Regierung zur einzigen rechtmäßigen Kraft, die das Vertrauen der Öffentlichkeit genoss. Die Situation war auch deshalb dramatisch, weil die Vertreter*innen des Vorgängersystems ihren rechtlichen Verpflichtungen als Opposition nicht nachkamen und somit das Konzept der Opposition delegitimierten. In dieser konzeptionslosen Situation hatten Paschinjan und seine Regierung jedoch keine andere Wahl, als die 70%-der-Stimmen-Karte bei jedweder Kritik vonseiten der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition auszuspielen.

Medienkampagne der Opposition befeuerte starke Karabach-Rhetorik

Andererseits positionierten sich die alten Kräfte als Opposition, und da sie über gewaltige Medienressourcen verfügten, starteten sie eine großangelegte Pressekampagne gegen die neuen Machthaber, die in hohem Maße auch den aktuellen Krieg beeinflusste. Seit Herbst 2018 warf man den neuen Machthabern u.a. „Familienzerrüttung“, „Entweihung der nationalen Werte“, „Aufgabe von Ländereien“ oder „heimliche und konspirative Verhandlungen über Nagorny-Karabach“ vor. Wegen dieser einflussreichen Medienkampagne sahen sich die Machthaber gezwungen, ihre Rhetorik nationalistisch zu verstärken, insbesondere in Bezug auf die Lösung des Karabach-Konflikts, und sich als Garant des Status-Quo zu präsentieren. Das beste Beispiel dafür waren die Aussagen von Ministerpräsident Paschinjan und Verteidigungsminister Davit Tonoyan und die von ihnen ausgegebenen Parolen: „Arzach ist Armenien. Punkt!“ und „Neuer Krieg – neue Territorien“.

Spaltung der Zivilgesellschaft

Der Aufschub zügiger Reformen, der Widerstand des alten Systems, die Schwerfälligkeit der parlamentarischen Mehrheit und ihre nicht-inklusive Grundhaltung führten zu einer politischen Gemengelage, in der der revolutionäre Kreis in unterschiedliche Lager zerfiel, was zur Entstehung neuer politischer Kräfte führte. Die natürlichen politischen Verbündeten der revolutionären Kräfte, wie der Armenische Nationalkongress und die sozialdemokratische Partei Bürgerentscheidung, wurden so zu ihren Gegnern.

Andererseits leisteten die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft der „revolutionären“ Regierung und den von ihr vorgeschlagenen Reformen umfassende Unterstützung. Zahlreiche Vertreter*innen engagierten sich in der Legislative, den Exekutivorganen und in unterschiedlichen Ausschüssen und Arbeitsgruppen, die an der Ausarbeitung eines Reformpakets und der Diskussion über Gesetzesvorhaben beteiligt waren. Im Ergebnis verloren Teile der Zivilgesellschaft, ihre Rolle einer öffentlichen Kontrolle und potenziellen Regulativs der Regierung. Später verloren die meisten zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen, die nicht in der Lage waren, sich den etablierten Strukturen anzupassen und ihre Lösungsansätze für innerstaatliche Probleme zu teilen, ihre Posten in der Regierung oder reichten freiwillig ihren Rücktritt ein.

Das Scheitern der Justiz- und Rechtsreform, das Coronavirus und der Vorabend des Krieges

Von allen staatlichen Institutionen im post-revolutionären Armenien genoss die Judikative das geringste Vertrauen in der Bevölkerung. Im Zuge einer Antikorruptionsstrategie vom Dezember 2019 sollten alle Richter*innen in Armenien einen sogenannten „Vetting-Prozess“ durchlaufen: Es sollten umfassende Informationen über die Richter*innen in Bezug auf politische Zugehörigkeit, Herkunft, Eigentum, Status, frühere Aktivitäten und Leistungen, persönliche und berufliche Merkmale gesammelt werden.      

Der Gesetzentwurf stieß auf heftige Kritik seitens der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es gibt zahlreiche und einander bedingende, durchaus plausible Gründe, warum die Einführung von Mechanismen der Übergangsjustiz sowie die Umsetzung der Justizreform scheiterten. Die Regierungspartei führte die Unvereinbarkeit mit der Verfassung und die negativen Reaktionen internationaler Partner*innen (Venedig-Kommission) ins Feld. Die Beurteilung potenzieller Risiken durch die Regierungspartei war aber vielleicht noch bedeutsamer, denn diese hätten die Justiz lahmlegen können. Das Scheitern der Justizreform, das noch anhängige neue Politische-Parteien-Gesetz, die Aussetzung von Verfassungsänderungen sowie das Referendum über Verfassungsgerichtsänderungen, das aufgrund der Coronapandemie nicht durchgeführt werden konnte, brachten die Machthaber in eine missliche Lage.

Die Regierungspartei, die 70% der Stimmen bekommen hatte, versäumte es, zügige und bedeutsame Staats- und Justizreformen umzusetzen und verspielte dadurch das Mandat rascher und wirksamer Veränderungen.

Hinzu kam, dass die Corona-Pandemie das Land und die Regierungspartei vor neue Herausforderungen stellte. Aufgrund von unbefriedigenden und ineffektiven polizeilichen und kontrollbehördlichen Maßnahmen hatte das Gesundheitssystem die gesamte Last zu schultern. Folglich höhlten die Coronakrise und die wirkungslose Regierungsführung das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierungspartei und ihr politisches Gewicht aus.

Schließlich standen Ministerpräsident Paschinjan und seine Regierung vor zwei unerwarteten, externen „Naturkatastrophen“: Der Coronapandemie und dem Krieg. Durch die Coronapandemie und nach der faktischen Niederlage im neuen Arzakh[5]-Krieg, verloren die Machthaber einen Großteil ihrer öffentlichen Legitimität und ihres politischen Ansehens.

In der aktuellen Situation könnte es sinnvoll sein, vorgezogene Neuwahlen abzuhalten, vorausgesetzt es gibt dafür eine breite Unterstützung in der Bevölkerung und natürlich erst, nachdem sich die Situation beruhigt und stabilisiert hat. Die nachlassende Legitimität aufgrund des Krieges ist in erster Linie eine Herausforderung für die Regierung, so lange sie weiterhin daran festhält, Reformen zu planen und die Legitimität zu deren Umsetzung benötigt. Eine bedeutsame Veränderung in der Regierung könnte die Situation zwischenzeitlich entschärfen, wäre aber lediglich eine Übergangslösung. Bestehende Herausforderungen lassen sich langfristig so nicht meistern. Parlamentswahlen würden mutmaßlich auch zur politischen Einbindung der Regierung und zur Stärkung parlamentarischer Prozesse beitragen, um die derzeitige Opposition von der Straße ins Parlament zu holen und dadurch die Grundfesten des Staates und der öffentlichen Solidarität nicht zu erschüttern und eine neue öffentliche Nachkriegsvereinbarung zu schließen.

 

[1] RPA (Republikanische Partei Armeniens, Regierungspartei unter der Führung von Sersch Sargsjan)

[2] YELK (Allianz Ausweg (armenisch: «Ելք» դաշինք, einschließlich Zivilvertrag, Leuchtendes Armenien und der Hanrapetutyun Partei), PAP (Partei Wohlhabendes Armenien), ARF (Armenische Revolutionäre Föderation, auch als Dashnaktsutyun bekannt).

[4] Kommunalwahlen

[5]Arsakh, armenisch für Bergkarabach