Wissenschaftsleugner an der Macht: Vertrauenskrise und Umweltkollaps in Brasilien

Analyse

Der Aufstieg der extremen Rechten sorgt für eine Welle der Verharmlosung und der Wissenschaftsleugnung, die in Zeiten der Pandemie und des Klimawandels zur Tragödie werden.

Illustration: Mehrere Menschen mit Smartphones stehen vor einem Flipchart. Kabel verlaufen zwischen ihren Augen, Mündern und Smartphones.

Der Artikel ist Teil von Perspectivas Nr. 6 „Lügen, Hass und Desinformation – Lateinamerika in postfaktischen Zeiten“.

Desinformation ist ein Konzept, bei dem bewusst falsche oder irreführende Informationen erstellt und verbreitet werden. Dies mit dem Ziel, wirtschaftlichen oder politischen Vorteil daraus zu ziehen, und mit der Absicht, die Bevölkerung zu täuschen. Diese Definition hat eine Schwachstelle: Sie geht davon aus, dass die Menschen sich täuschen lassen und deshalb kein Vertrauen in die Institutionen und traditionellen Medien haben.

Die Beziehung ist jedoch sehr viel komplexer. Wir erleben einen generellen Vertrauensverlust in die Institutionen, selbst die Wissenschaft ist davon betroffen, wie wir während der aktuellen Corona-Pandemie feststellen müssen. Der Aufstieg der extremen Rechten sorgt für eine Welle der Verharmlosung und der Wissenschaftsleugnung, die in Zeiten der Pandemie zur Tragödie werden.

Ist die Pandemie erstmal vorbei, müssen wieder mehr Menschen gegen den Klimakollaps mobilisiert werden. Nach Jahrzehnten der Forschung und aktiven Beteiligung an internationalen Klimaabkommen ist es besorgniserregend, dass das Thema Umweltschutz in Brasilien keine Popularität genießt. Hierfür allein der aktuellen Regierung und der Desinformation die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist zu kurz gedacht. Das Desinteresse, das selbst bei progressiven Regierungen zu diesem Thema vorherrscht, spiegelt die Gleichgültigkeit eines Großteils der Bevölkerung wider. Ein Beweis hierfür ist, dass das Thema auch im Wahlkampf keine Rolle spielt. Mit der aktuellen Regierung spitzt sich die Lage jedoch weiter zu, denn sie setzt die Wissenschaftsleugnung als Werkzeug für ihre kriminelle Umweltpolitik ein.

Die Regierung leugnet die Umweltkrise

Während seines Wahlkampfes drohte Jair Bolsonaro, dem Beispiel seines Idols Donald Trump folgend, mit dem Ausstieg Brasiliens aus dem Pariser Klimaabkommen. Seither instrumentalisiert er die Furcht vor einer Internationalisierung Amazoniens. Zwar machte der Präsident seine Drohung nicht wahr, nominierte aber mit Ricardo Salles einen Umweltminister, der mit konservativen Thinktanks sympathisiert, und einen Außenminister, der davon überzeugt ist, dass die Erderwärmung eine marxistische Verschwörung ist. Auf einem Video eines Ministertreffens plädiert Salles dafür, dass die Regierung die Pandemie nutzen solle, um die Liberalisierung im Umweltschut voranzutreiben.

In Brasilien wird immer deutlicher, dass der Aufstieg der extremen Rechten in direktem Zusammenhang mit der Leugnung des Klimawandels steht, die bei Bolsonaro zur Staatspolitik wurde. Es ist bekannt, dass sich Organisationen abstimmen, um wissenschaftlich erforschten Erkenntnissen zum Klimawandel zu widersprechen. Dieses „Netzwerk des Leugnens“ begann in den 90er Jahren zu agieren. Da es unmöglich war, die Erderwärmung an sich zu verneinen, war der einzige Ausweg, sie in Kontroversen zu verstricken. Schon damals wurde ein ähnliches Argument herangezogen wie das, was von der Regierung Bolsonaro verteidigt wird: Unter dem Deckmantel des Umweltschutzes agiere eine internationale Verschwörung, um die Wahlfreiheit der Bürger und Bürgerinnen einzuschränken und die Macht der Unternehmen, die dem Volk nützen (da sie Reichtum und Arbeitsplätze schaffen) und die Souveränität des Landes sicherstellen, zu reduzieren.

In Ländern wie den USA, Australien und dem Vereinigten Königreich werden die Klimaleugner/innen von der fossilen Brennstoffindustrie finanziert. In Brasilien unterstützt insbesondere das Agrobusiness, also die Branche, die in Brasilien am stärksten zur Erderwärmung beiträgt, die Verbreitung von Widersprüchen gegen Daten aus der Umweltforschung.

Im August 2018 feuerte Präsident Jair Bolsonaro den Direktor des Brasilianischen Instituts für Weltraumforschung (Inpe) Ricardo Galvão, weil dieser korrekte Daten über den drastischen Anstieg der Abholzung in Amazonien veröffentlicht hatte. 2019 luden Abgeordnete von Bolsonaros Basis einen der bekanntesten Wissenschaftsleugner Brasiliens, den pensionierten Meteorologen der Bundesuniversität von Alagoas, Luiz Carlos Molion, ein, eine Vortragsreihe über Amazonien zu halten. Molion stützt sich in seinen Vorträgen auf Lügen, die schon lange von der Klimaforschung widerlegt wurden. Er präsentiert sie im Fachjargon und illustriert sie mit Grafiken. Bei den Abgeordneten handelte es sich um dieselben, die einen Gesetzesentwurf unterstützen, um die im Waldgesetz vorgeschriebenen Anteile, die jeder Landeigentümer als Naturreservat vorhalten muss, abzuschaffen.

Dem Agrarwissenschaftler Evaristo de Miranda, Leiter der brasilianischen Agrarforschungsgesellschaft Embrapa, gelang es über die offiziellen Social-Media-Kanäle der Forschungsgesellschaft, das falsche Argument zu verbreiten, für die Land- und Viehwirtschaft bleibe aufgrund der Ausbreitung von Waldflächen nicht ausreichend Fläche. Laut Miranda sind Naturschutzgebiete, indigene Schutzgebiete, Landlosensiedlungen im Rahmen der Agrarreform und geschützte Wälder auf Landeigentum eine Bremse für die nationale Entwicklung. Er unterfüttert seine Thesen noch mit einer Verschwörungstheorie: Die aktuelle Umweltschutzagenda sei Teil eines Planes der entwickelten Länder, ihre eigene Landwirtschaft auszuweiten und das Wettbewerbspotenzial Brasiliens in dieser Branche auszubremsen. Diese Lüge Mirandas wurde bereits weitreichend an den Pranger gestellt (von der Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen Observatório do Clima in dem Video „Fakten zum Wald”). Dennoch beeinflussen seine Argumente die Regierung.

Es ist besorgniserregend, dass eine dermaßen unehrliche Regierung die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung genießt. Auch wenn Bolsonaros Zustimmungswerte durch den katastrophalen Umgang mit der Corona-Pandemie kurzzeitig gesunken sind, müssen wir die Gründe verstehen, warum er die Wahlen gewinnen und diese beachtliche Zustimmung aufrechterhalten konnte. Es wäre ein Irrtum, nur Ignoranz als Grund anzuführen, denn ein bedeutender Teil seiner Unterstützer und Unterstützerinnen kommt aus den Reihen der gebildetsten Bevölkerungsgruppen. Eine Untersuchung des Forschungsinstituts Datafolha von Dezember 2019 – einer Zeit, in der die Grundpfeiler des Umweltschutzes bereits abgebaut wurden – zeigte auf, dass der Zustand der Umwelt von 27 Prozent der Befragten als sehr gut oder gut und von 38 Prozent als in Ordnung eingestuft wurde. Diese Zahlen sind sehr hoch, insbesondere im Kontext der verheerenden Waldbrände in Amazonien und der Ölkatastrophe vor der brasilianischen Küste, für die es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Plan zur Eindämmung gab.

Das Vertrauen in die Wissenschaft sinkt

Wissenschaftsleugnung fällt in einer Gesellschaft, in der das Vertrauen in die Institutionen fehlt, auf fruchtbaren Boden. Es war ein kluger Schachzug der extremen Rechten, dieses Misstrauen zu nutzen, um Regierungsmitglieder mit antiwissenschaftlichen Standpunkten zu legitimieren und die Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Staatsapparat zu verbreiten.

Die britische Studie Wellcome Global Monitor warnte in einer Erhebung aus dem Jahr 2018 bereits vor einer drohenden Vertrauenskrise in die Wissenschaft. In der Ländergruppe mit mittleren bis hohen Einkommen, in die auch Brasilien eingeordnet wurde, haben 54 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen nur ein durchschnittliches Vertrauen in die Wissenschaft bekundet. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem Misstrauen in die Wissenschaft und dem Zweifel an anderen Institutionen: Wer wissenschaftliche Fakten infrage stellt, der zweifelt im Allgemeinen auch an Regierungen, Streitkräften oder Justiz. Das geht einher mit einer generellen Skepsis gegenüber dem Establishment, also dem politischen System und seiner Institutionen. Sie breitet sich in Brasilien aus und hat dazu beigetragen, dass Bolsonaro gewählt wurde. Es ist auch wichtig zu betrachten, wie die Brasilianer und Brasilianerinnen den Einfluss der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihr Leben bewerten. Die Gruppe derjenigen, die meinen, dass die Wissenschaft ihnen persönlich (und auch der Mehrheit der Gesellschaft) keinen Vorteil bringt, macht 23 Prozent der Bevölkerung aus. Ein alarmierendes Ergebnis, das dem Durchschnitt für Zentral- und Südamerika entspricht und unabhängig von der Einkommensklasse ist. Und obwohl sich der religiöse Fundamentalismus weit verbreitet hat, ist auch er nicht die Ursache für dieses Phänomen. Die wachsende Bedeutung der Religion im Alltag ist vielmehr auf das Vakuum zurückzuführen, das das fehlende Vertrauen in die Institutionen und den Staat hinterlässt. Viele Menschen haben nur die Kirche als materielle, moralische und alltägliche Unterstützung bei ihren Sorgen aufgrund von Arbeitslosigkeit, geringem Einkommen, unzureichender Gesundheitsversorgung und, ganz besonders: mangelnder Zukunftsaussichten.

Die Studie Wellcome Global Monitor hat des Weiteren gezeigt, dass ein Drittel der Brasilianer und Brasilianerinnen den Nichtregierungsorganisationen (NGO) nur wenig Vertrauen entgegenbringt. Dies hat direkten Einfluss auf die Amazonas-Politik, denn Bolsonaro und seine Minister greifen die NGOs frontal an, insbesondere die, die im Umweltschutz aktiv sind. Die Regierung geht sogar so weit, ihnen zu unterstellen, sie würden hinter den Feuern im Amazonasgebiet oder der Ölpest im Norden des Landes stecken. Das weitverbreitete Misstrauen in die NGOs erklärt, warum diese unbegründeten Anschuldigungen keine Reaktion in der Bevölkerung hervorgerufen haben und sie gar von einem nicht geringen Anteil gebilligt wurden.

Die Souveränität über das Amazonasgebiet ist mit einer nationalistischen brasilianischen Tradition verbunden, die ein Abdriften in einen verschwörungstheoretischen Diskurs leicht macht. Die NGOs werden hierin als Element internationaler Mechanismen angesehen, um sich in interne Angelegenheiten einzumischen. Gleichzeitig erkennen die Menschen nicht, welche wirtschaftlichen Vorteile der Umweltschutz für ihr Leben hat. Es ist sehr schwer, sie davon zu überzeugen, dass das Modell der Ausbeutung sie auf Dauer ärmer machen wird, weil es sie ihrer natürlichen Reichtümer beraubt. Solche nicht greifbaren Vorteile scheinen für eine Bevölkerung, die tagtäglich mit zu geringen Einkommen und fehlenden Politiken der Daseinsfürsorge zu kämpfen hat, zu abstrakt zu sein. So werden sie empfänglich für Verschwörungstheorien und erhoffen sich daraus einen moralischen oder materiellen Vorteil. Der Regierung sichert dies ihre Position. Die Menschen werden also nicht von falschen Informationen getäuscht: Sie werden dazu angestiftet, zur öffentlichen Delegitimierung der Institutionen Beihilfe zu leisten.

All dies macht zwei Forderungen besonders wichtig. Erstens: Der Umweltschutz muss weiterhin in der Lage sein, Menschen zu mobilisieren, insbesondere innerhalb der schwächsten Bevölkerungsgruppen. Das wird nur möglich sein, wenn ihnen Auswege aus ihrer aktuellen Notlage aufgezeigt werden. Eine Veränderung der Gewohnheiten in Bezug auf Konsum, Fortbewegung, Ernährung sowie neue Perspektiven für die Arbeitssituation oder die Zukunft der Kinder – das sind die zentralen Themen, die auch mit tiefgreifenden politischen Veränderungen einhergehen. Zweitens: Maßnahmen gegen den Klimakollaps dürfen sich nicht auf Gipfeltreffen von Spezialist/innen beschränken. Es reicht auch nicht aus, sich auf Daten und einem wissenschaftlichen Konsens auszuruhen. Journalist/innen, Intellektuelle, Professor/innen, Fachleute und Wissenschaftler/innen werden derzeit infrage gestellt, und es wird ihnen erschwert, zwischen Politik und Allgemeinheit zu vermitteln. Ihre vermittelnde Rolle wurde von den Wissenschaftsleugner/innen mithilfe der immer direkteren Beziehung zur Bevölkerung delegitimiert: Immer mehr einflussreiche Persönlichkeiten ohne jeglichen fachlichen oder akademischen Hintergrund verschaffen sich Gehör, um „Wahrheiten“ zu verbreiten, nur weil sie über die sozialen Netzwerke im direkten Kontakt mit dem Publikum stehen. Solche neuen Meinungsbildner/innen haben Tausende von Followern und kämpfen um das Vorrecht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In Brasilien sind sie sogar aktiv an der Regierung beteiligt. Sie gewinnen das Vertrauen eines Teils der Bevölkerung, indem sie überaus überzeugend auftreten. Das führt zu einer Diskreditierung der wahren Fachleute, deren Äußerungen in der Vergangenheit dadurch legitimiert wurden, dass sie die Autorität hatten, mit Informationen umzugehen, auf die die Allgemeinheit nur eingeschränkt Zugriff hat.

Um Wissenschaftsleugnung unschädlich zu machen, müssen wir Menschen für unsere Anliegen gewinnen und in Dialog mit jenen kommen, die der öffentlichen Debatte bislang fern sind. Das bedeutet auch, dass wir aufhören müssen, uns nur in Blasen oder Nischen auszutauschen, die unsere eigenen Überzeugungen widerspiegeln.