Stille Nacht, Brexitnacht: Warum die große Party ausfiel

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Der von der Mehrheit der Brit/innen heiß ersehnte Moment des Austritts verlief sehr still. Daran schuld waren nicht nur die coronabedingten Einschränkungen, sondern auch eine generelle Brexitmüdigkeit der Insel.

Boris Johnson am Brexit Day 30.1.2020
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Premierminister Johnson blickt an Bord der RAF Voyager auf den Horizont

Es war einer der ruhigsten und wohl ungewöhnlichsten Silvesterabende in London in a very long time: die Innenstadt blieb menschenleer, die langjährige Tradition der kostenlosen New Year‘s Eve Tube wurde auch abgesagt. Kein altbekanntes Feuerwerksdisplay am London Eye, Pubs blieben dank Tier 4 geschlossen, und Hausparties gibt es aufgrund der Pandemie sowieso schon lange nicht mehr.

Doch dieses Silvester war auch aus einem anderen Grunde ungewöhnlich: denn nach vier Jahren Gezanke, dither and delay ist das Vereinigte Königreich dann doch überraschend still und leise aus der EU ausgetreten. Während sich im letzten Jahr Ende Januar noch tausende von feiernden Brexiteers auf dem Parliament Square zusammenfanden, um das Austrittsabkommen zu feiern, so ist dieses Mal keine Spur von großen Menschenmassen zu erkennen. Keine schwenkenden Union Jack-Fläggchen, keine Bühnen, kein Nigel Farage. Nur Big Ben ist da, um die neue Ära im wahrsten Sinne des Wortes einzuläuten.

Doch auch Big Bens Klingeln ist ungewöhnlich, denn aufgrund der mehrjährigen Restaurationsarbeiten ließ er in den letzten drei Jahren nur noch selten von sich hören. Eigentlich läutete er am 31.12.2020 auch nur aufgrund einer Reihe an technischen Tests; das Timing ist trotzdem bezeichnend. Denn Johnson hatte Big Ben schon im Januar läuten lassen wollen, aber der Big Ben bong for Brexit blieb damals aus. Zu viel Geld hätte es gekostet, die berühmte Glocke so kurzfristig während der Restaurationsarbeiten wieder anzubringen und läuten zu lassen. 

Stille Nacht, Brexitnacht

Bei all dieser Ungewöhnlichkeit hätte man den Brexit am Ende dann doch sehr leicht verpassen können, und dass trotz der etlichen Dramen der letzten dreieinhalb Jahre. Denn nicht nur die Menschenmengen in der Innenstadt blieben aus. Auch die Medien hielten sich an diesem Tag zurück: ihre Titelseiten fokussierten sich lieber auf den neuen Corona-Impfstoff und die damit verbundene Hoffnung auf ein Ende der Pandemie). Schaute man nicht genau hin (wie zum Beispiel hier), so hätte man meinen können, der finale EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hätte es auf keine einzige Titelseite geschafft. 

Britische Titelseiten am 01.01.2021: Brexit interessiert hier kaum noch.
Britische Titelseiten am 01.01.2021: Brexit interessiert hier kaum noch.

Das ist kein neuer Trend, denn es macht sich schon länger eine Brexit Fatigue auf der Insel spürbar. Man geht auch davon aus, dass ebendiese Brexit-Müdigkeit auch in großen Teilen zu Johnsons Mehrheit bei den Parlamentswahlen vor etwas mehr als einem Jahr beitrug: egal ob Remain oder Leave, viele Brit/innen waren und sind das Chaos Leid. Letztendlich sahen wohl viele in Johnson die Gelegenheit, die Geschichte des Brexits ein für alle Male unter den Teppich zu kehren. Immerhin gilt er als einer, der die Dinge anpackt und sie erledigt. Johnson hat als Bürgermeister Londons damals die Fahrradwege ausgebaut, und das Versprechen seines Vorgängers in Taten umgewandelt: denn nur zwei Jahre nach seiner Wahl zündete Johnson den Startschuss für das öffentlich betriebene Londoner Bikesharing, das auch heute oft noch im alltäglichen Sprachgebrauch Boris Bikes ­genannt wird und seitdem stark erweitert wurde. In einer Stadt, in der bis vor kurzem nicht einmal 1% der Bevölkerung mit dem Fahrrad fuhr, hat er somit Veränderungen im Verkehr vorangetrieben. So erscheint es plausibel, dass viele Wähler/innen ihn damals wählten, um dem ganzen Brexit-Chaos endlich ein Ende zu setzen.

Nur: ein Ende wird es so schnell natürlich nicht geben, auch wenn das Vereinigte Königreich vor einigen Tagen offiziell aus der EU schied. Denn trotz seiner knapp 1.300 Seiten ist der Brexit-Deal immer noch sehr dünn und lässt sich wohl eher als Notbremse verstehen – und zwar eine, welche die katastrophalen Folgen eines No-Deals verhindert hat. Denn abgesehen davon, dass der Brexit alleine bereits mehr als die 47 Jahre Mitgliedschaft gekostet hat, kommen nun auch viele andere Unkosten und negative Folgen des Brexits ans Licht. Nur wenige Wochen nach dem Austritt schieben sich die EU und das Vereinigte Königreich nun gegenseitig die Schuld zu, warum britische Musiker/innen und Journalist/innen fortan nicht mehr visumfrei in Europa touren oder recherchieren können

Percy Pig-Süßigkeiten
Die britische Kaufhaus- und Supermarktkette M&S gab im Januar bekannt, dass die Percy Pig-Süßigkeiten (mittlerweile eine britische Institution) aufgrund des Brexits nicht mehr in Nordirland verkauft werden.

Viele britische Supermärkte haben zudem bereits angesagt, nicht nur ihre Exporte nach Europa, aber auch nach Nordirland, zu unterbrechen – zu kompliziert und teuer sei der Export von Lebensmitteln. Andere Stimmen prognostizieren bereits, dass der gesamte Exportmarkt um etwa ein Drittel sinken wird. Und das Thema der Ursprungsregeln hat nicht nur auf Twitter für große Diskussionen gesorgt, sondern auch die Republik Irland sprach nun ihre Bedenken dazu aus. Die neuen Regeln greifen wohl zu stark in den britisch-irischen Handel ein.

Schon nach wenigen Wochen zeigt sich also: an Johnsons Brexit Deal verbleiben noch viele Details, die über die nächsten fünf Jahre – und auch darüber hinaus – zwischen den Parteien UK und EU ausgebügelt werden müssen. So steht es selbst im finalen Text des Trade and Cooperation Agreement auf Seite 402 geschrieben, mal abgesehen von den bereits erwähnten Problemen. Wie und ob das gut ausgeht, weiß noch keiner. Wer weiß, vielleicht war die ruhige Brexit-Silvesternacht auch nur die Ruhe vor dem Sturm.