Neue Regeln für den digitalen Marktplatz der Gesellschaft

Kommentar

Europa bekommt ein neues Digitalgesetz. Es wird die Geschäfte von Google, Facebook und Amazon verändern. Denn die Mechanismen, mit denen sie Milliarden verdienen, polarisieren unsere Gesellschaft. Wir brauchen starke neue Regeln zum Schutz unserer Demokratie.

Grafik Netzwerk Marktplatz

In der digitalen Welt hat sich eine Wildwest-Manier breitgemacht. Große Online-Plattformen erheben sich zu selbsternannten Sheriffs dieses größten Marktplatzes der Menschheit. Sie dulden keine Konkurrenz, diktieren eigenmächtig Regeln und stellen ihre Profitinteressen über alles – obwohl ihre Plattformen mittlerweile öffentliche Räume geworden sind. Das ist ein Affront gegen die Demokratie. Wer daran noch Zweifel hatte, wurde durch den Sturm auf das Washingtoner Kapitol am 6. Januar 2021 eines Besseren belehrt, als Anhänger von Donald Trumps v.a. digital verbreiteten Verschwörungstheorien den „Tempel der westlichen Demokratie“ über Stunden besetzten.

Künftig sollte die Gesellschaft über die Regeln auf ihrem eigenen Marktplatz wieder mitbestimmen können. Deshalb arbeitet Europa in dieser Legislaturperiode an zwei neuen Gesetzen für die digitalen Dienste und Märkte: dem „Digital Services Act“ (DSA) und dem „Digital Markets Act” (DMA).

Sie haben das Potenzial, ein neues Grundgesetz für Online-Plattformen zu werden. Europa steht an der Spitze der Bewegung. Von Australien, das gerade ein eigenes Digitalgesetz schreibt, bis in fast alle Winkel der Erde – und ganz besonders in den USA selbst – wird mit Spannung erwartet, ob Europa es schafft, die digitale Welt zu verändern und die Bürger*innenrechte zu stärken. Als die EU-Kommission im Dezember 2020 die beiden Gesetzentwürfe vorlegte, war dieses weltweite Interesse spürbar: Kann die EU demokratische Regeln und einen fairen Markt wirksam durchsetzen und etablieren?

Informationen dienen Geschäftsinteressen

Das ist dringend nötig, denn ohne demokratische Leitplanken wachsen die Gefahren für demokratische Gesellschaften. Die Plattformen verbreiten Informationen, die für viele Menschen Grundlage ihrer politischen Entscheidungen und Meinungen sind. Aber sie tun dies nicht unabhängig und ausgewogen, sondern aufgrund knallharter Geschäftsinteressen. Falsche Informationen, Hass, Hetze und Verleumdung verbreiten sich ungleich stärker viral, weil die Plattformen ihre Nutzer*innen mit extremen und polarisierenden Inhalten länger auf den Seiten halten können und damit höhere Werbeeinahmen erzielen. Politische Akteure können dieses System leicht ausnutzen. Der von Donald Trump selbst über Facebook und Twitter aufgehetzte Mob, der das Kapitol erstürmt hat, ist fest davon überzeugt, das offizielle Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen sei gefälscht. Und wir wissen nicht, wie viele der 72 Millionen Trump-Wähler diese Meinung teilen. So viele Menschen überzeugt man nur durch die bewusste Nutzung ausgefeilter psychologischer Techniken und eine ständige, individuell zugeschnittene Bombardierung mit Nachrichten.

Damit diese Personalisierung möglichst effektiv ist, werden ununterbrochen private Daten über uns gesammelt.Online- und Offline-Informationen über Standorte, Interessen, sexuelle Orientierung und Verweilzeiten landen bei Tausenden von Unternehmen, die damit ihr Werbegeschäft betreiben, uns unbemerkt kategorisieren und manipulieren. Die großen sozialen Netzwerke sind zuallererst Werbeunternehmen: Sie verdienen an uns, indem sie uns lange auf ihren Seiten halten und sich diese Aufmerksamkeit von Dritten bezahlen lassen. Sie entscheiden auch, welche Produkte Millionen Menschen sehen, und bestimmen den Preis für die digitalen Schaufenster.

Obendrein führt dieser Mechanismus zu einer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft: Werden Daten gesammelt und zusammengeführt, ist es nicht nur möglich, gezielt Werbung zu platzieren, sondern auch Hetze, Fehlinformationen und Vorurteile passgenau an dafür anfällige Zielgruppen zu leiten. Es ist ein Teufelskreis, der die Spaltung noch weiter vorantreibt: Je extremer die Inhalte, desto länger bleiben Menschen auf den entsprechenden Seiten und desto höher ist der Gewinn, während zugleich ein sachlicher Diskurs immer mehr untergraben wird.

Der Digital Services Act bietet die Chance, ausspionierende Werbung zu verbieten. Doch die EU-Kommission plant genau das bisher nicht. Das ist v.a. deshalb unverständlich, da nur die Internetgiganten von der bisherigen Praxis profitieren. Das EU-Parlament ging in den Berichten der Ausschüsse 2020 deutlich weiter. Ich werde nicht nachlassen, in den Verhandlungen meine Stimme gegen das manipulative Geschäft der Plattformen zu erheben.

Halbherzige Transparenzpflichten

Dass die Plattformen ihre Empfehlungsalgorithmen offenlegen müssen, ist ein weiteres zentrales Ziel des neuen Gesetzespakets. Einigermaßen weitgehende Transparenzpflichten sieht auch der Entwurf der EU-Kommission vor, die Richtung stimmt. Doch leider fehlt dem Entwurf an den entscheidenden Stellen der Mut, das eigentliche Ziel auch wirksam durchzusetzen.

Die Kommission setzt wieder einmal auf Vertrauen in die Unternehmen – ein Vertrauen, das sich in den letzten Jahren als ungerechtfertigt erwiesen hat. Sie verpflichtet die Unternehmen lediglich dazu, selbst jährlich eine Risikobewertung vorzunehmen und zu prüfen, inwiefern ihre Dienste illegale Inhalte verbreiten, sie Grundrechte wie die Meinungs- und Diskriminierungsfreiheit und den Kinderschutz gefährden oder Informationen verbreiten, die mit den eigenen Vertragsbedingungen nicht vereinbar sind. Das ist ungefähr so, als würde man VW auffordern, die Auswirkungen des Autoverkehrs auf den Klimawandel selbst einzuschätzen, um auf dieser Grundlage Klimapläne zu schmieden.

Warum sollte ein Unternehmen die Risiken eines Geschäftsmodells objektiv darstellen, mit dem es 98 Prozent seines Umsatzes generiert? Eine unabhängige Prüfung ist zwar vorgesehen, aber aktuell gibt es de facto keine autonome und angemessen ausgestattete Stelle, die solche Audits durchführen könnte. Auf Nachfrage lässt die Kommission nur verlauten, dass dadurch ein neues Geschäftsfeld für Wirtschaftsprüfergesellschaften entstehen könnte. Aber die verfügen erstens nicht über entsprechende Kompetenzen und haben sich zweitens bei der Kontrolle mächtiger Unternehmen bisher keine Lorbeeren verdient – nicht einmal in Betrugsfällen wie Wirecard. Warum sollte dies in der Digitalbranche mit ihrem Ausmaß an Konzentration anders sein? Alle digitalen Expert*innen wissen nur zu gut, dass ein für Google, Facebook oder Amazon negatives Gutachten ihrer Karriere in der Privatwirtschaft und in wissenschaftlichen Institutionen sehr schnell ein Ende setzen kann.

Wir brauchen eine europäische Aufsichtsinstanz

Trotz guter Intention und richtiger Problemanalyse wird die Kontrolle digitaler Plattformen dann doch wieder auf die Privatwirtschaft abgewälzt. Wir brauchen jedoch eine unabhängige, öffentliche, europäische Aufsichtsinstanz, die den Konzernen mit hoch qualifizierten Expert*innen die Stirn bieten kann. Demokratische Gesellschaften können nur bestehen, wenn ihre Institutionen Gesetze auch wirklich durchsetzen. Die komplexe Aufsichtsarchitektur des DSA, die zudem auf nationalen Behörden fußt, wird keine wirksame Durchsetzung gewährleisten können. Währenddessen werden Google, Facebook und Amazon nationale Regierungen genauso gegeneinander ausspielen, wie sie es auch jetzt schon in Datenschutz- und Steuerfragen tun. Es wird eine wichtige Aufgabe der Bundesregierung sein, nicht auf die Zuständigkeit der nationalen Behörden zu pochen, sondern sich im Europäischen Rat für eine starke europäische Aufsicht einzusetzen.

Nur das Zusammenspiel dieser und weiterer Maßnahmen kann die Übermacht der Plattformen brechen und ihrem demokratieschädigenden Geschäftsmodell den Geldhahn zudrehen. Europa galt beim Daten- und Verbraucherschutz zuletzt als Vorreiter. In der Summe haben die Vorschläge des Gesetzentwurfs deshalb umso mehr enttäuscht.

Aber bis zur Verabschiedung werden noch Jahre ins Land ziehen und wir gehen in harte Verhandlungen. Einen kleinen Teilerfolg konnten wir bereits bei den „Notice-and-action“-Verfahren erringen. Die EU-Kommission hat die Vorschläge der Kampagne „My content my rights” der Greens/EFA-Fraktion im Europaparlament aufgenommen, die Meldewege bei illegalen Inhalten im Netz zu verbessern und Nutzer*innenrechte zu verankern.

Die Macht der Tech-Lobby

Entscheidend wird auch sein, dass die EU dem massiven Drängen der Lobby standhält. In den vergangenen Jahren haben die großen Tech-Konzerne ihre Lobbyausgaben in Europa massiv erhöht. Es gibt kaum eine Digitalveranstaltung in Brüssel, bei der nicht Google oder Facebook direkt oder im Hintergrund mitwirken. Es gibt auch nur wenige unabhängige Experten*innen, weil die Konzerne überall verdeckt in den Denkfabriken mitarbeiten. Das ist ein großes Problem. Die Thinktanks veröffentlichen Studien und Positionspapiere und erwecken nach außen den Anschein, unabhängig zu sein. In Wirklichkeit spielen die Tech-Konzern allerdings fast überall eine Rolle. Zudem sind einige neue, obskure Organisationen aufgetaucht, die sich als Stiftungen ausgeben, aber nur Fassade für die große Tech-Lobby sind. Erst kürzlich habe ich eine Beschwerde gegen das Center for Data Innovation eingelegt, weil es weder die Namen seiner Mitglieder noch seine Finanzierung offenlegt. Dazu habe ich auch eine Anfrage an die Kommission veranlasst.

Noch perfider ist der Einfluss der Lobby auf Universitäten über Drittmittelfinanzierung. Wenn digitale Lehrstühle an renommierten Hochschulen wie der Humboldt-Universität, der TU München oder dem College of Europe zu Teilen von Google und Facebook finanziert werden, ist ihre Unabhängigkeit nicht mehr gewährleistet. Das kann und darf nicht sein.

Ich bleibe wachsam und bin gespannt, was sich die Giganten aus dem Silicon Valley in den kommenden Jahren einfallen lassen, um ihre Macht zu sichern. Sie werden viele Zweifel an dem Gesetzesvorhaben der EU säen. Aber wenn Europa jetzt mutig die Interessen der eigenen Bürger*innen vertritt, wird das Internet frei und demokratisch sein.