Hass, Diskriminierung und Desinformation in der mexikanischen Migrationsdebatte

Analyse

Desinformation, Hetze, rassistische und diskriminierende Äußerungen prägen die Migrationsdebatte in Mexiko. Martha Tudón verweist auf Mitverantwortung der mexikanischen Behörden.

Mexican and Guatemalan flags

Der Artikel ist Teil von Perspectivas Nr. 6 „Lügen, Hass und Desinformation – Lateinamerika in postfaktischen Zeiten“.

Tapachula im mexikanischen Bundesstaat Chiapas liegt an der Grenze zu Guatemala. Die Migrationsdynamik in der Region ist hoch, viele Menschen kommen hier an, um über Mexiko in die USA zu gelangen. Als zahlreiche „Migrationskarawanen“ nach und nach das Land erreichten, entschieden sich die mexikanischen Behörden – auch auf massiven Druck der US-Regierung – im Juni 2019 für eine Eindämmungs- und Abschreckungspolitik und reagierten mit dem „Plan für Migration und Entwicklung“. Dieser beinhaltet verschiedene Sicherheitsmaßnahmen, darunter die Militarisierung der mexikanischen Südgrenze, die Ernennung von Angehörigen der Streitkräfte zu Beauftragten der mexikanischen Migrationsbehörde INM (Instituto Nacional de Migración) sowie die Verstärkung von Straßensperren, Razzien und Kontrollen. Allein von Juni bis November 2019 wurden daraufhin insgesamt 278.995 Migrantinnen und Migranten verhaftet. Viele davon sitzen jetzt in Tapachula fest. 

Dass Migrantinnen und Migranten nun in Mexiko zurückgehalten und an ihrer Weiterreise in die USA gehindert werden, bis ihr Migrationsstatus geklärt ist, polarisiert zunehmend die mexikanische Gesellschaft. Im Rahmen unserer Arbeit bei der Menschenrechtsorganisation ARTICLE 19 konnten wir beobachten, wie etliche Akteure in Tapachula, die sich nicht genau einordnen lassen, vermehrt Desinformation, Hetze, diskriminierende Botschaften und Hassrede über soziale Netzwerke verbreiten.

Die Beweggründe dafür sind vielfältig. Es kann, um nur einige zu nennen, darum gehen, die jeweilige private Meinung zu verbreiten, Unterstützung für bestimmte Ideologien oder politische Konzepte zu gewinnen, die öffentliche Meinung auf die ein oder andere Weise zu beeinflussen oder auch einfach nur darum, die Gesellschaft zu provozieren. Die jeweiligen Motive sind zwar nur schwer feststellbar, doch wissen wir, dass einige der Äußerungen die Bevölkerung in die Irre führen oder gar Gewalt und Diskriminierung gegen bestimmte Gruppen der Gesellschaft schüren können, zum Beispiel gegen Migrantinnen und Migranten.

Fallstudie: Die mexikanische Südgrenze

Bei Narrativen über Migrantinnen und Migranten und auch über Migration als solche treten in Tapachula viele Vorurteile und Klischees zutage. So haben die dortigen Medien laut Aussage eines Journalisten aus Chiapas beispielsweise eine stigmatisierende rassistische Behauptung aufgegriffen, wonach die meisten Menschen aus Afrika HIV-positiv und außerdem „sexsüchtig“ seien. Außerdem sagten die örtlichen Behörden, sie müssten „Ansteckungen“ mit Geschlechtskrankheiten durch Migrantinnen und Migranten verhindern, wodurch sich die Kosten für die Gesundheitsversorgung erhöhen würden. Zudem machten sie die Migrantinnen und Migranten für eventuelle Lücken bzw. Engpässe in der Gesundheitsversorgung der mexikanischen Bevölkerung verantwortlich. Dadurch wird die Vorstellung genährt, dass die staatlichen Mittel in Mexiko nicht nur knapp seien, sondern größtenteils zur Versorgung der Ausländerinnen und Ausländer verwendet würden. 

Dieses Narrativ ist nicht nur in den traditionellen Medien präsent, sondern wird auch über soziale Netzwerke geteilt, vor allem über WhatsApp und Facebook, und verstärkt so die Stigmatisierung, die Ablehnung und die Ressentiments gegen Afrikanerinnen und Afrikaner. Dies wiederum hat die einheimische Bevölkerung von Tapachula und sogar Migrantinnen und Migranten aus anderen Ländern dazu bewogen, sich aus Angst vor „Ansteckung“ von den afrikanischen Migrantinnen und Migranten fernzuhalten. 
In den Äußerungen über die Zuwanderung aus Afrika und den in Tapachula kursierenden Erzählungen über weitere Bevölkerungsgruppen anderer Herkunft – darunter auch die seit langem verbreitete diffamierende Unterstellung, Migrantinnen und Migranten aus Mittelamerika seien „Kriminelle“ – lässt sich feststellen, dass Desinformation, Hetze und diskriminierende Äußerungen beim Thema Migration durchaus gängig sind. Außerdem hat es Fälle von Hate Speech gegeben, wenngleich nur vereinzelt und eher selten.
Insbesondere Frauen werden geschlechtsspezifische Rollenbilder zugeschrieben, und sie werden nach ihrer Sexualität und ihrem Äußeren beurteilt. Nach Aussagen einer Journalistin zirkulieren selbst in den WhatsApp-Chats ihrer männlichen Kollegen aufreizende Memes und Fotos von Honduranerinnen, gezielt aufgenommen von den Reportern während ihrer Recherchearbeit zum Thema. Eine andere Journalistin hat berichtet, dass all die Gerüchte über honduranische Frauen letztendlich dazu geführt hätten, deren Diskriminierung in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz zu rechtfertigen. „Die Honduranerinnen nehmen uns die Männer weg“, so heißt es seit Jahren. Solche Narrative führen dazu, dass mexikanische Frauen honduranische Frauen in der Gesellschaft ablehnen und auch keine Honduranerinnen als Haushaltshilfen einstellen wollen, aus Angst, ihre Ehe zu gefährden.

Vor dem Hintergrund solcher Diskurse scheint die mexikanische Migrationsbehörde mit ihrem Stillschweigen und auch mit ihren Verlautbarungen eher noch mehr Anlass zu Zweifeln, Verunsicherung und Spekulationen zum Thema Migration zu geben. Sie hat gar nicht erst versucht, Berichte zu dementieren, mit denen Fremdenhass und Desinformation Vorschub geleistet wird; sie sorgt auch nicht für eine transparente Offenlegung der ihr zugewiesenen Mittel und deren Verwendung, sodass das Narrativ, nach dem öffentliche Gelder in erheblichem Umfang für Migrantinnen und Migranten aufgewendet würden, nicht mit amtlichen Angaben abgeglichen werden kann; und sie hat keine Angaben über die Anzahl der Migrantinnen und Migranten veröffentlicht, die verhaftet worden sind oder Asyl beantragt haben, sodass nicht feststellbar ist, wie viele von ihnen sich tatsächlich noch in Tapachula aufhalten. Darüber hinaus liegen widersprüchliche Aussagen der Migrationsbehörde INM, des mexikanischen Innenministeriums und des Präsidialamtes vor. Insofern stellt sich die Frage, ob das Stillschweigen, die Widersprüche und die Erklärungen der Behörden nicht vielleicht sogar Teil einer Strategie sind, um Desinformation zu verbreiten und so in gewisser Weise Rückendeckung für bestimmte regierungspolitische Entscheidungen wie die Verschärfung und Militarisierung der Migrationskontrolle zu bekommen. 

Wie bereits erwähnt, sind die Beweggründe für die Verbreitung von Falschinformationen, Hetze, diskriminierenden Diskursen und Hassbotschaften vielfältig und kaum nachzuverfolgen, da weder deren Ursprung noch ihr Anlass ermittelt werden können. Insofern wäre es vorschnell, ein abschließendes Urteil in dieser Richtung zu fällen. Dennoch lässt sich sagen, dass solche Narrative, die durch die behördlichen Maßnahmen bzw. Unterlassungen bestärkt werden, die Art und Weise beeinflussen, in der sich die mexikanische Bevölkerung zu Themen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Agenda positioniert. So belegt beispielsweise eine von der mexikanischen Tageszeitung El Financiero veröffentlichte Umfrage vom Februar 2020, dass nach Meinung von 64 Prozent der Mexikanerinnen und Mexikaner die Grenzen für die Zuwanderung geschlossen werden sollten. 73 Prozent sind damit einverstanden, dass die Nationalgarde den Migrationsstrom stoppt. 

Verpflichtungen des Staates 

Diskriminierung, Gewalt und Hass zu bekämpfen erfordert Engagement auf Seiten der Regierung: Sie sollte Äußerungen entgegenwirken, die gegen demokratische und menschenrechtsbasierte Werte verstoßen, und Wege zu einem informierten Dialog, zu Gedankenaustausch und Ideen eröffnen, um damit die öffentliche Debatte und die Entscheidungsfindung zu bereichern. Ebenso müssen sich die staatlichen Institutionen ihrer Verpflichtung und Verantwortung bewusst werden und in ihren Arbeitsbereichen niemals Diskurse zulassen, die gezielt bzw. absichtlich falsche Behauptungen verbreiten und dementsprechend mit der Gesellschaft kommunizieren.

Um die Menschen in einem von Desinformation, Hetze, Diskriminierung und Hassrede geprägten Umfeld besser in Austausch zu bringen und zu einem kritischeren Umgang mit Informationen zu befähigen, haben die Staaten die Verpflichtung,

  1. geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen und Regelwerke zu schaffen, um ein entsprechendes Umfeld zu fördern für eine freie, unabhängige und vielfältige Kommunikation, und damit auch für Medienvielfalt, und dafür zu werben;
  2. die digitale Alphabetisierung und die Medienkompetenz zu fördern, unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und anderer Interessengruppen, die sich für die Bewusstseinsbildung in diesen Fragen einsetzen;
  3. weitere Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, um Gleichstellung, Nichtdiskriminierung, interkulturelles Verständnis und andere demokratische Werte zu fördern und den negativen Auswirkungen von Desinformation und Propaganda entgegenzuwirken.

Die gegen Migrantinnen und Migranten gerichtete Verbreitung von rassistischen und sexistischen Gerüchten in Verbindung mit der gezielten Irreführung der Bevölkerung durch Desinformation erhält eine noch größere Sprengkraft, wenn bestimmte Themen diffus bleiben. Hierzu gehört auch der unklare Status der Migrantinnen und Migranten. Dadurch wird die gesellschaftliche Solidarität mit diesen Menschen, die auf der Durchreise sind, allmählich ausgehöhlt. Die Unterstützungsnetzwerke der Bevölkerung zerbröckeln, oder aber es bilden sich Fronten gegen diejenigen, die sich nach wie vor für Migrantinnen und Migranten einsetzen. Repressionsmaßnahmen jeglicher Art werden infolgedessen immer mehr toleriert, sobald sie der „Eindämmung“ der Migration gelten. Migrantinnen und Migranten werden so noch massiver benachteiligt und in ihren Menschenrechten verletzt.


ARTICLE 19 ist eine internationale Menschenrechtsorganisation, die sich für freie Meinungsäußerung und das Recht auf Information einsetzt. Vgl. https://articulo19.org/ und https://www.article19.org/regional-office/mexico-and-central-america/


Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt