Wahlen in El Salvador 2021: eine wahlpolitische Revolution

Analyse

Bei den jüngsten Wahlen in El Salvador erreichte Nayib Bukeles Lager eine deutliche Mehrheit im Parlament. Diese gibt ihm nun die Möglichkeit kritische Richter am Obersten Gerichtshof auszutauschen oder die Verfassung zu seinen Gunsten zu reformieren und Bukele zeigt nicht erst seit der Corona-Krise äußerst autoritäre Tendenzen.

Wahlen El Salvador 2021

Die jüngere Geschichte El Salvadors ist von entscheidenden politischen und sozialen Übergangsprozessen geprägt. Ungleichheitsstrukturen und staatliche Repression stürzten das kleine mittelamerikanische Land von 1980 bis 1991 in einen blutigen Bürgerkrieg, der mehr als 70 Tausend Tote forderte. Die jüngeren demokratischen Strukturen des Landes –  Parteienpluralismus, freie Wahlen, die Pressefreiheit, die Säuberung und Entpolitisierung der Streitkräfte und der Nationalpolizei und andere Grundpfeiler der individuellen Rechte –  basieren auf der Nachkriegsordnung, die aus den Friedensverhandlungen hervorging.

Es konnten jedoch nicht alle politischen Probleme gelöst werden: Den früheren Kriegsbeteiligten, die sich in die neue Parteienlandschaft integrierten, wurde Straflosigkeit zugesichert. Politische und ökonomische Machtgruppen setzten eine Liberalisierung der Wirtschaft nach ihren Interessen durch. Die Gesellschaft blieb von der extremen Gewalt krimineller Banden mit Verbindungen zu neomilitärischen Strukturen geprägt. Die – vermeintlich – friedliche Nachkriegsphase wurde durch dieses höchst konfliktträchtige Umfeld bestimmt, in dem sich lediglich die politischen Ausprägungsformen von Ungleichheit, Korruption, Gewalt und Kooptation des Staates durch Eliteinteressen änderten. Die erzielten sozialen und ökonomischen Fortschritte reichten nicht aus, um die eklatanten Ungleichheitsstrukturen zu reduzieren, so dass auch die Zwangsmigration unvermindert anhielt.

Das Wahlergebnis vom 28.2.2021, das der Partei des Präsidenten Nayib Bukele zwei Drittel der Parlamentssitze sicherte, ist nur vor dem Hintergrund des Versagens des Parteiensystems zu verstehen, das aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen war. Die etablierten Parteien hatten es in mehreren Legislaturperioden versäumt, Antworten auf die dringend notwendige Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit zu geben. Dies erklärt, weshalb sich ein Großteil der wahlberechtigten Bürger/innen für die Risikovariante „Alles oder Nichts“ entschieden und für eine eher profillose politische Bewegung stimmten, die sich vorbehaltlos der konkreten und symbolischen Führungspersönlichkeit des amtierenden Staatspräsidenten Nayib Bukele unterordnet. Angesichts der Frustration und der Verbitterung in der Bevölkerung über die Kooptationspolitik der Parteispitzen von ARENA (Nationalistische Republikanische Allianz) und FMLN (Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí) wird die politische Parteienlandschaft nun von Nuevas Ideas (Neue Ideen) bestimmt, einer Partei sui generis, deren Wahlerfolg im Wesentlichen  auf einem einzigen Inhalt beruhte: dem Versprechen, die traditionellen politischen Parteien loszuwerden, die sich hartnäckig an die Macht klammerten. Obwohl Bukele lediglich auf eine kurze, aber steile politische Karriere zurückblicken kann, die innerhalb des FMLN begann, dessen Führungsriege ihn 2017 aus der Partei ausgeschlossen hat, schaffte er es in gerade einmal drei Jahren, die Abneigung der Bevölkerung gegen die verkrusteten parteipolitischen Strukturen zu bündeln. Und dies mitten in einer Pandemie. Mit seinem Narrativ, das sich stark an andere politische Strömungen wie den Chavismus in Venezuela und autokratische Familien wie die der Ortegas in Nicaragua anlehnt, ist es Bukele gelungen, im Februar 2019 die Regierung zu übernehmen und im Februar 2021 nun auch eine qualifizierte Mehrheit in der Legislative hinter sich zu bringen.

Erdrutschsieg zementiert Machtbasis des Präsidenten

Bei den Wahlen 2021 haben Bukele und seine Partei mit einer Beteiligung von gerade einmal 51 Prozent der Stimmberechtigen und der bedingungslosen Unterstützung der Bevölkerung einen Erdrutschsieg eingefahren. Im neuen Parlament verfügt die Partei Nuevas Ideas (NI) über 56 von insgesamt 84 Sitzen. Mit Unterstützung opportunistischer Parteien wie GANA (Große Allianz für die Nationale Einheit) oder der konservativen ARENA könnte die Regierungspartei sogar vier zusätzliche Stimmen erhalten und damit ohne Schwierigkeit jedes Gesetz, einschließlich institutioneller politischer Reformen durchsetzen. Bereits während der Pandemie hatte die Mehrheit der Bevölkerung die bedingungslose, uneingeschränkte Machtübergabe an den Präsidenten und seine Führungsclique mehrheitlich befürwortet und legitimierte somit die an Autoritarismus grenzende Durchsetzung von Maßnahmen populistischer Prägung. Mit der angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress nun gegebenen Möglichkeit zu einer ungehinderten Besetzung von Posten wie dem des Generalstaatsanwalts, der Ombudsstelle für Menschenrechte und der Richterämter im Obersten Gerichtshof und sogar einer neuen Verfassung könnten diese Machtanteile noch größer werden.

In einer Region, die seit jeher den caudillismo als Führungsstil zur Lenkung der Geschicke der Allgemeinheit bevorzugt und stärkt, bewegt sich Bukele als geschickter Opportunist, der den historischen Verschleißprozess der Parteiendemokratie für seine Zwecke zu nutzen wusste. Immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, folgt der Präsident seinem Impuls, die politische Opposition beider Lager anzugreifen und seine Rebellion gegen die verkrusteten Strukturen in pubertärer Anführermanier zum Ausdruck zu bringen. Was auf der Strecke bleibt sind die Erfolge der fragilen Demokratie der letzten 30 Jahre, da Bukele gemeinsam mit seinen Vertrauten die Regeln des Rechtsstaates zu seinem Interesse auslegt und beugt. Mehr als 10 Millionen US $ flossen in den Wahlkampf des Präsidenten und seiner neuen Partei. Das demokratische Dilemma liegt nicht in der mangelnden demokratischen Legitimität von Bukeles Stimmenmehrheit, die außer Frage steht, sondern in dem autoritären Führungsstil des Präsidenten, mit dem er seinen breiten Rückhalt in der Bevölkerung nutzt und das Land nach Gutdünken regiert. Die Konzentration der Macht und deren willkürlicher und sogar rechtswidriger Missbrauch zugunsten der ökonomischen Eliten und Machtgruppen bilden den Kern des Verschleißprozesses, dem sowohl die politischen Vorgängerparteien des Präsidenten als auch seine neue Legislative unterliegen.

Wandel oder Reproduktion von Elitenkartellen?

Das Wahlergebnis erklärt sich zum einen aus der Enttäuschung der Wähler/innen mit den ehemaligen Traditionsparteien. In den letzten Jahren haben die ARENA-Partei und die FMLN große Teile ihrer Stammwählerschaft verloren, und dies nicht nur wegen der mangelnden Wahlbeteiligung, sondern nun auch wegen des rasanten Umschwenkens der Sympathien auf Präsident Bukele. Besonders dramatisch ist dies für die FMLN, die 2021 nur noch auf vier bis fünf Sitze kommen dürfte, während sie 2009 noch 35 Abgeordnete stellte. Demgegenüber verfügt die ARENA-Partei 2021 im Vergleich zu den 39 Sitzen in ihren ersten Präsidentschaftsjahren nur noch über 14 Mandate.

Nur ein Kurswechsel des Landes hin zu Inklusion, Gleichberechtigung und Sicherung der Grundrechte könnte eine erneute Enttäuschung der Wähler/innen verhindern. Hierin liegt die zentrale Herausforderung für die Ära Bukele, unabhängig von seinen derzeitigen Machtanteilen. Tragischer Weise kommen von den Abgeordneten der Bukele-Partei hierzu keine Vorschläge - ein wichtiger Indikator für die explizite Oberflächlichkeit bei dieser Wahl. Das, was die Propaganda-Botschaften der Regierung vom „besten Land der Welt“ und vom „Weg nach vorn“ bieten und als einzige objektive Vorbedingung die „Zerschlagung der Opposition“ fordern, wird – angesichts fehlendem Wahlprogramm - nicht nachprüfbar sein. Ohne Regierungsprogramm wird jede Regierung leicht zum Opfer der Improvisation von Seiten der jeweils herrschenden Machtclique und ihrer wichtigsten wirtschaftlichen, militärischen oder politischen Bündnispartner.

Dennoch hofft die Mehrheit der Bevölkerung, die Bukeles ideologiefeindliche politische Programm unterstützt, nach dem breiten Wahlsieg nun zunächst auf eine Phase der Ruhe. Die Hoffnungen und Erwartungen auf Veränderungen sind hoch. Die Regierung wird in erster Linie auf die Symbolik des Wandels setzen: Zerschlagung der korrupten Opposition, die Ausrichtung der Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit im September dieses Jahres und die Verfassungsreform. Erfolge in diesen drei symbolträchtigen Kernthemen werden zweifellos die Macht des neuen Regimes stärken. Offen bleibt, ob diese eingesetzt wird, um tatsächlich auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit einzugehen oder aber den Autoritarismus zu untermauern. Das Haupthemmnis für die Gestaltungsmöglichkeiten der neuen Staatsführung wird zweifellos der wirtschaftliche Faktor sein. Die Wirtschaft des Landes leidet unter den Folgen der Pandemie, das Haushaltsdefizit umfasst 93 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, der finanzielle Spielraum ist gering. Insofern ist abzusehen, dass die Regierung Bukele prioritär auf die Umsetzung der Rentenreform drängt, Verhandlungen über den Zugang zu internationalen Krediten mit neuen Steuersätzen führen und verstärkt Investitionsprojekte ausschreiben wird, die zu größerer Umweltzerstörung und sozialen Protesten führen könnten.

Machtfülle und die Gefahr des Machtmissbrauchs

Die Stärkung der partizipativen Demokratie und der Bürgerbeteiligung sowie der Abbau von Ungleichheit sind die zentralen Versprechungen, die die Nachkriegsdemokratie nicht umsetzen konnte. An diesen Enttäuschungen setzte das manipulative Narrativ von Nuevas Ideas im Wahlkampf an, um sich als große Chance für die Entwicklung eines neuen Modells einer demokratischen Nation auf der Grundlage von Gleichheit, Gerechtigkeit und der Achtung des Rechtsstaates zu präsentieren. Optimismus ist leider nicht angebracht. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass eine populistische, auf Familienmitglieder und kleine Zirkel von Vertrauten gestützte Staatsführung eine ebenso populistisch orientierte Bevölkerungsmehrheit repräsentieren wird: eine konservative, religiöse, frustrierte Gesellschaft, die angesichts von Diskriminierung, Ungleichheit und staatlicher Kooptation patrimonialistischer Prägung über Jahrzehnte hinweg ihre Wut aufgestaut hat. Aus der Notwendigkeit, die extreme parteipolitische Polarisierung zwischen Links und Rechts zu überwinden, entstand eine neue „Mitte“, ohne ideologisches Profil, ohne Programm und personelle Erneuerung. Die Mehrheit der Parteimitglieder von Nuevas Ideas kommt aus den traditionellen Parteien, einige sind in Korruptionsaffären verwickelt.

Die große Frage ist nun, ob diese neue Regierung mit ihrer uneingeschränkten Macht und ohne nennenswerte Opposition in der Lage sein wird, diese neue politische Phase zum Nutzen der ärmsten Bevölkerungsmehrheiten und schwächsten Gruppen der Gesellschaft zu gestalten. Die Geschichte verneint dies und zeigt, dass ein Übermaß an Macht stets zu Machtmissbrauch führt. Ebenso kommt die Möglichkeit in Betracht, dass sich das parteipolitische System in El Salvador aus den sozialen Bewegungen heraus erneuern und den Weg für eine stärkere Beteiligung von Bürger/innen öffnen wird, die sich in ihren Erwartungen, die sie in Nuevas Ideas gesetzt hatten, enttäuscht sehen.

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt