Libyen – die zarteste Versuchung, seit es Revolutionen gibt

Libyen

„Die libysche Revolution ist die erfolgreichste der gescheiterten und die am meisten gescheiterte von den erfolgreichen Revolutionen“, findet Ghady Kafala und schreibt über den Versuch der eigenen Positionierung in einer durchweg ambivalenten Gemengelage.

Libya

Auf einem durchgesessenen Schaumstoffsofa, vor dem sich Essensreste und Fastfoodschachteln türmen, sitzt meine Familie und starrt in den Fernseher. Der strahlt gerade den „Moment des Siegs“ aus, oder den „Moment des Verbrechens“, je nachdem, wie man's nimmt. Ein Splatter-Stück, unterlegt mit einer von Allahu-Akbar-Rufen und Freudenträllern unterbrochenen Kreischkulisse. Es ist die opulente Szene des späten Ruhms einer Zeitspanne, die ganze acht Monate lang andauerte und an die alle sich später als „Sieg der Revolution“ erinnerten. 

Der Boden ist mit kreisrunden Blutklecksen gesprenkelt. Was aussieht, wie ein Meer überreifer Kirschen, hastig gepflückt nach einer reichen Erntesaison, ist das Fernsehbild zu einer knappen und unmissverständlichen Eilmeldung: „Muammar al-Gaddafi, das libysche Staatsoberhaupt, ist tot“. Augenblicklich bricht alles in Jubel aus. Freudentränen fließen über Wangen, manch einer pinkelt sich sogar vor Freude in den Pyjama. Selbst in unseren kühnsten Träumen hätten wir uns nicht ausmalen können, dass wir Menschen jemals so sehen würden. 

An jenem Tag wussten wir nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollten. Die Freude, die uns zuerst übermannte, hielt nur solange an, bis sich die Unsicherheit Bahn brach. Alles schien ungewiss. Ich hatte mich damals noch nicht als diejenige gefunden, die ich heute bin: als eine Person, die sich für individuelle Freiheiten einsetzt; dafür, dass Frauen mit ihrem Leben und ihrem Körper machen dürfen, was sie wollen. Dass sie sich selbst aussuchen können, welcher Arbeit sie nachgehen wollen und nicht ständiger Stereotypisierung ausgesetzt sind. Das Selbstverständnis meiner Familie war gleichzeitig modern und konservativ – eine Mischung, mit der sie sich nie offen in der Gesellschaft hatte ausdrücken können. In diesem Augenblick, in dem eine völlig neue Zeit anbrach, von der wir noch gar nichts wussten, konnte sie es erst recht nicht. 

Für mich hatte die Zeit der Revolution etwas von einer unbequemen Yoga-Stellung, die es auszuhalten galt. Innerlich suchte ich verzweifelt nach etwas, das meine schlummernden Gedanken wachrütteln würde. Nach dem fehlenden Bindeglied, das meine vielen verstreuten Gedanken zu einem Ganzen zusammenfügen würde. Hätte ich es, so dachte ich mir, würde ich meinen Traum wahrmachen und der ganzen Welt all das Schöne und Hässliche in diesem Land zeigen. Wer weiß, vielleicht durch Journalismus oder Literatur? Oder Theater? Oder vielleicht sogar einer Ausstellung! Dort würde ich dann unsere ausgemergelten, eingesperrten Körper zeigen, die vier Jahrzehnte lang kein Tageslicht gesehen hatten. Oder waren es vier Jahrhunderte? Fest steht, dass es für mindestens vierzig Jahre keinen rechtsstaatlichen Rahmen gegeben hat und auch sonst keinen safe space, um sich ausprobieren zu können. Während dieser vierzig Jahre war der Fernseher ein Apparat ohne Informationen, das Radio einzig dazu da, einen unruhigen Lärmpegel über die Stille eines Familienausflugs zu legen und was die Zeitungen betrifft, machten sie ihre Arbeit ganz okay – als saugfähige Unterlagen für Familienessen zum Beispiel, oder auch als effizientes Mittel zum Fensterputzen. 

Die Gefühlsachterbahn zwischen besinnungsloser Freude und schwerer Trauer zur Zeit der Revolution fand ich gewöhnungsbedürftig. Weder war die Revolution ein durchweg trauriges, noch ein komplett freudiges Ereignis. Andererseits war aber auch der Demokratie- und Freiheitsrausch, der auf sie folgte, nur flüchtig, bald kamen der Kater und die Ernüchterung. Jene Ekstase herzustellen war anstrengend gewesen, ein steiniger Weg und kaum war sie da, war es unmöglich, sie zu halten oder wieder zu erzeugen – fast wie mit dem weiblichen Orgasmus. Und dann waren da noch diese ganzen neuen Wörter, wie „Zivilgesellschaft“, „Wahlen“, „Feminismus“, „kultureller Pluralismus“, et cetera. Sie machten uns verlegen, wie fremde, unangemeldet hereinschneiende Besucher. Wir waren unsicher, wie wir sie empfangen, mit welchen Gesten wir sie aufnehmen sollten. Deshalb war es auch eine absolute Seltenheit, dass einer dieser Begriffe einmal positiv verwendet wurde. Viel häufiger wurde beispielsweise die Zivilgesellschaft in „Schlampen- und Perversengesellschaft“ umgetauft, denn „bei den Interessengruppen und Anliegen, die sie mitunter vertrat“, schien sie vielen eher etwas wie eine invasive Spezies zu sein. Oder Wahlurnen! Eine „rein westliche Schöpfung“, die nun an die Stelle der „eigens für islamische Staaten konzipierten Ratsversammlungen“ rücken sollte. Schlecht erging es auch dem Wort „feministisch“, ob es nun die Bewegung bezeichnete, eine Person, oder bloß einen Kleidungsstil. Wer Frauen in ihrem Recht auf Selbstbestimmung unterstützte und sie vor häuslicher Gewalt, Unterdrückung und Vergewaltigung in der Ehe schützen wollte, war in den Augen Vieler jemand, der gefährlich nah an der Zündschnur einer „unschönen Befreiungs- und Öffnungskultur“ herumzündelte. Und das, so befand die sogenannte „konservative Gesellschaft“, ging definitiv zu weit.

Polternd war die Veränderung über unser Leben hereingebrochen. Die Ernsthaftigkeit der Lage war mir zunächst nicht bewusst. Auch war mir längst nicht klar, wie anders als alles Bisherige die Ära sein sollte, die nun anbrach: „Libyen im Wandel“. Weder in meinem Umfeld noch in der Schule waren mir Konzepte wie Menschen- und speziell Frauenrechte je untergekommen. Auch von der simplen Tatsache, dass Menschen vielfältig sind, unterschiedliche sexuelle Identitäten oder kulturelle Prägungen und Hintergründe haben können, hatte ich noch nie gehört. Aus dem Geschichtsunterricht erinnere ich mich bloß noch an große Schlachten und angebliche Heldentaten und vom Fach Biologie weiß ich nur, wie wir einmal Missbildungen und Mutationen durchgenommen haben. Was die Fächer Musik und Kunst betrifft, galten diese als unnützer Firlefanz, deswegen fielen sie auch ständig zugunsten aller möglichen anderen Fächer aus.

Was dann meine schlummernden Ideen aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen hat – wonach ich ja so lange gesucht hatte – war letzten Endes der Bürgerkrieg im Jahr 2011. Dieser rüttelte nun solange Werte und Überzeugungen in mir wach, bis ich anfing, mich sozial zu engagieren. Das Schreiben half mir, diese Werte zu verfeinern. Was meine Zunge noch nicht formulieren konnte, schrieben meine Finger aus. Dass man alte Enttäuschungen recyceln kann, wusste ich damals noch nicht. An meine erste Enttäuschung erinnere ich mich noch gut. Ich hatte den Mut gehabt, mich für das Rückkehrrecht der libyschen Juden und Jüdinnen in der Diaspora stark zu machen. Ich fand, es war ihr absolutes Recht, sich am zivilgesellschaftlichen und politischen Prozess in dieser neuen Phase zu beteiligen. Schließlich hatten sie dieses Land nicht weniger als alle anderen Libyer/innen mitgestaltet, in den unterschiedlichsten Bereichen. Doch die Bewaffneten auf den Plätzen sahen das anders. Sie zögerten nicht, uns Zivilist/innen zu bedrohen, dafür, dass wir uns für die Rechte anderer einsetzten. Dass wir plötzlich auch eine Stimme hatten, passte ihnen nicht. Und dass wir sie auch noch für Gleichberechtigung und Vielfalt einsetzten, was ja durch die Revolution überhaupt erst möglich war, gefiel ihnen schon gar nicht. Dass die Revolution auch uns das Daseinsrecht gegeben hatte.

Insgeheim genoss ich die Drohungen. Die Adrenalinschübe, die sie bei mir auslösten, versetzten mich in einen kribbeligen Zustand, den ich noch nicht kannte – und ich möchte wetten, dass ihn noch nicht einmal jene neuen Revolutionäre kannten. Was die Revolution betrifft, hatte ich jedenfalls nie erwartet, dass sie mir Garantien geben würde. Deshalb hatte ich ihr jetzt auch nichts vorzuwerfen. Ich war es ja, die sie den abgehobenen, trockenen, theoretischen Konzepten vorgezogen hatte, an denen wir uns jedes Mal abarbeiteten, wenn wir davon träumten, einen Staat, eine Stadt, oder ein geliebtes Dorf mitaufzubauen. Ich blieb also dabei, und tat was ich konnte, um mich für von Diskriminierung betroffene Gruppierungen in Libyen einzusetzen. Durch mein Schreiben wollte ich ihnen eine Stimme geben. Das hieß aber auch, dass diejenigen, die Leben, Liebe, Arbeit und Aktivismus gefährdeten, nicht aufhörten, mir das Leben schwer zu machen und mich immer mehr in die Enge zu treiben. 

Der zweite Bürgerkrieg im Jahr 2014 verschärfte die Situation. Wir hatten uns nicht nur in politische und ideologische Lager aufgespalten, beschimpften einander nicht nur als „Liberale“, „Muslimbrüder“, „Sekularisten“, et cetera; nein, auch regionale Bruchlinien hatte der Krieg an die Oberfläche gebracht. Und es wurden Städte zerstört, ihre Bewohner/innen in die Flucht getrieben, Todesschiffe ausgesendet, ihre Passagiere ertranken. Und von den Museen des Landes blieben uns nur noch Ruinen. Was die Revolution betrifft, so hatte sie zumindest nicht verhindern können, dass sich der im Fernsehen ausgestrahlte Tod eines einzigen Mannes in den darauffolgenden Kriegen vertausendfachte. Trotz alledem glaube ich, dass die Kriege, die über unser Land hereingebrochen sind, uns als Gesellschaft weitergebracht haben. Heute lernen wir einander viel offener kennen. Die Beziehungen, die wir miteinander führen, sind viel realistischer, als vor dem Krieg. Ich musste oft an den Libanon denken. An den Bürgerkrieg dort, und den Kunst- und Kulturboom danach. Wehmütig sehnte ich mir eine libysche Nachkriegszeit herbei. Malte mir aus, was für ein ausgeglichener Mensch ich dann sein würde. Jemand, der seine Gefühle und Träume offen mit anderen teilt, ohne Angst, oder Tadel und Reue.

Der Schrecken in Form von Drohungen hatte kaum begonnen, da hatte die Gefahr bereits viele meiner engsten Freundinnen und Freunde erreicht: Morde, Entführungen, Vergewaltigungen. Hastig verstaute ich meine Träume und Gedanken in einem mit tausend Schlössern versehenen Tresor, dessen Inhalt niemand erahnen konnte.
Noch immer hast du uns keine Garantien gegeben, Revolution. Wir fürchten uns vor dir. 
An einer der Demonstrationen gegen die Entführungen und das Gewaltsame Verschwindenlassen teilzunehmen, war eigentlich eines der Dinge gewesen, die ich mir endgültig abgeschrieben hatte. Doch sahen diese Kundgebungen, die die Aktivist/innen organisierten, so wundervoll mitreißend aus, dass es jeden Schweigenden, jeden Ängstlichen in den Beinen jucken musste, mitzulaufen. Wir wollten doch auch Gesicht zeigen, uns auch zusammentun. Und die Sichtbarkeit, die unsere Anliegen auf diese Weise bekommen hatten, zeigte ihre Wirkung. Also spielte ich die Gefahr herunter, die von den alten oder neuen Revolutions- oder Sicherheits- oder Irrsinnsgarden ausging, die uns „Träumer/innen“ von Freiheit, Gleichberechtigung und Chancengleichheit ihre Macht demonstrieren wollten. Aus den Fehlern meiner Freund/innen, die vor mir so unvorsichtig gewesen waren, hatte ich offenbar nichts gelernt. Wenig später verwandelten sich unsere Träume in Albträume -  als die Revolutionsgarden ihre Macht bei den Autoritäten verfestigten. Was folgte, war eine düstere Zeit, die wir längst vorbei geglaubt hatten, aber das war wohl auch nur ein Traum. 

Es war deprimierend. Wir wussten jetzt: Im Angesicht der Waffen war Schweigen mutig, Widerstand war dumm. Denn würden wir erst einmal in einem kalten Verließ voller nackter, hungriger, verzweifelter Menschen sitzen, würden wir unsere Unschuld vergeblich beteuern können. Wir hatten nun verstanden: Der Autoritarismus verfügte über uns, mit allen Mitteln, egal in welcher Situation der Einzelne von uns war.

Dennoch veröffentlichte ich im September 2017 ein paar Texte in einer Anthologie. Unter dem Titel „Shams 'ala Nawafidh Mughlaqa“ wollten die Herausgeber/innen Khaled Mattawa und Leyla Naim al-Magharbi junge literarische Stimmen des postrevolutionären Libyens versammeln. Eine Chance für mich, meine weggeschlossenen Gedanken wieder hervor zu holen: Mit welchen Widrigkeiten hatte man in Libyen als Angehörige/r einer religiösen Minderheit zu kämpfen? Und was war mit all den anderen, die zwar vielleicht keine Probleme aufgrund gesellschaftlich vererbter Identitäten hatten, aber sich dennoch nicht frei ausdrücken durften und Doppelleben führten, zum Beispiel, weil sie queer sind, oder sich der Gothic-Szene zugehörig fühlen oder auch einfach nur außerhalb gängiger Konventionen leben wollen. Sie alle hatten von einem breiten Spektrum der Bevölkerung Probleme zu befürchten. Meine Texte erschienen also neben vielen anderen in einem gelben Buch. Dieses aber stieß in der Öffentlichkeit auf – gelinde gesagt – wenig Beifall. Bald schon hieß es, die Texte seien eine Schande. Das befanden sowohl die Autoritäten, als auch die Leserschaft und die breite Öffentlichkeit. Alles war empört. Wie es schien, blieb mir nichts Anderes übrig, als mich den Regeln und der Politik des Landes zu fügen. Meinungsfreiheit und Recht – ja, aber nur innerhalb der engen Grenzen dessen, was als sittlich, gesellschaftlich akzeptabel und anständig gilt. 

In jenem Moment versuchte ich nicht, mich an irgendwelchen Ideen festzuklammern, noch wollte ich eine neue Yoga-Position zum Aushalten finden. Für den Luxus, darüber zu grübeln, was als nächstes zu tun war, blieb mir ohnehin keine Zeit: Asyl suchen, oder nicht? War Auswandern der Weg oder das Ziel? War Demonstrieren ein Recht oder ein Zugeständnis? War Revolution eine Pflicht oder eine moralische Empfehlung? Ich kam nicht weiter, konnte mich nicht entscheiden. Lag ich richtig oder war ich auf dem Holzweg? Mich beschlichen schreckliche Zweifel. Verdienten meine Anliegen überhaupt, dass ich mich für sie einsetzte? War Pluralismus wirklich die Voraussetzung für eine gesunde Gesellschaft? War Feminismus wirklich eine integre Bewegung? Oder vielleicht doch bloß „stilvolle Hurerei“? Keine Antwort überzeugte mich mehr. Nur mein Hingezogensein zur Revolution war noch intakt. Die Vorstellung an sich war einfach zu verlockend.

Die Anthologie verursachte großen Aufruhr. 25 junge Männer und Frauen ernteten Empörung und Hetze. Der Zufall, dass sie in diesem Land und unter diesen Umständen geboren worden waren, wo es die Freiheit, sich auszudrücken und die Ideen und Traditionen der Gesellschaft zu kritisieren, nun einmal nicht gibt, war ihr großes Pech.

Nicht alle Autor/innen, deren Texte in der Anthologie erschienen sind, mussten infolge der Veröffentlichung in ferne Länder fliehen. Manch einen hat auch das Nachbarland Tunesien mit offenen Armen empfangen – so auch mich. Tunesien, dessen Revolution wir alle so gebannt verfolgt hatten. Eine enorme Errungenschaft der tunesischen Revolution ist die Meinungsfreiheit.  Womöglich ist auch die einzig wahre, denn die Korruption der Herrschenden und ihre Kontrolle über die Ressourcen des Landes sind immer noch beim Alten. 
Im Ausland machte ich also weiter mit dem Schreiben. Und wieder wollte ich meine Texte dafür einsetzen, marginalisierte Gesellschaftsgruppen sichtbarer zu machen.

Das Exil bedeutete einen neuen Lebensabschnitt. Einfach war es nicht, aber als Erfahrung doch ziemlich einzigartig. Die Ereignisse von 2011 bis 2014, und dann die von 2017, haben mich weit fort aus meiner comfort zone herauskatapultiert – von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie überhaupt hatte! Plötzlich fand ich mich außerhalb von allem wieder, was mir vertraut war: Arbeitsmöglichkeiten, sozialer Kontext, alles war anders. Angst begleitete mich bei so ziemlich allem. Ich wusste nicht, wie mir ein Neuanfang gelingen sollte. Würde ich hier arbeiten können? Gab es ein soziales Netz, das mich auffangen würde? Wie würde das alles nur werden?

Ich fing an, meine Gedankenskizzen zu einem visuellen Rechercheprojekt weiterzuentwickeln. Es sollte die Geschichten von Libyer/innen darstellen, Lebenden wie Toten, und gleichzeitig viel mit Zitaten aus dem blutigen Bilderfundus des Krieges und der Gewalt arbeiten. Mit diesem Projekt wollte ich das Gespräch über Dinge eröffnen, über die zu sprechen Vielen schwer fällt. Vielleicht, weil es sie an die Rechte erinnert, die man ihnen weggenommen hat und an all ihre sinnlos verpuffte Energie, und weil es überhaupt viele Erinnerungen hervorruft, die wehtun. Und das ist es ja gerade. Es soll den Leuten einen Raum eröffnen, über diese Dinge zu sprechen und ihrem Schmerz Luft zu machen. 

Die Folgen der Revolution machen jedem zu schaffen. Für mich persönlich war sie aber gut. Mir hat die Revolution die Chance geschenkt, viel Neues zu erleben und angesichts der gegenwärtigen Ungerechtigkeit nicht abzustumpfen. Sie hat mir mein Recht auf Transformation gezeigt, wann immer die Zeit dafür gekommen ist. Sie hat mir zwar keine Grenzen gesetzt, eine bequeme Karriereleiter hat sie mir aber auch nicht gerade gebaut. Dieser Diamantenschliff war das Beste, was mir passieren konnte, im Schlechtesten, was mir je widerfahren ist.

Die wiederholten Kriege hatten bei mir langfristig den Plan reifen lassen, aus Libyen auszuwandern. Mag sein, dass das der Plan der Schwachen ist, der Feiglinge und Langweiler. Aber Libyen war für mich wie ein interessantes, aber abstraktes Etwas, das sich von innen heraus nur schwer greifen lässt. Etwas, das es aber verdient, dass man einmal aus ihm heraustritt, um einen umfassenderen Blick darauf zu werfen. 
Libyen hätte eine ordentliche Runde Brainstorming verdient, bei der es so richtig brummen würde vor Gedanken und Ideen und konstruktiver Kritik. Dann wären wir wie Kinder, die ihrer Mutter Stylingtipps geben und ihren Stil kritisieren. Ja, kritisieren – obwohl sie es war, die uns auf die Welt gebracht hat. Denn diese Mutter hat uns nicht nur das Leben geschenkt, sondern auch die Fähigkeit zur Verbesserung und Weiterentwicklung. Sie hat uns gelehrt, selbstbewusst auf festem Boden zu stehen. Hier, in Tunesien, mache ich wirklich von meinem Recht Gebrauch, Kritik an der Menschenrechtsmisere in Libyen zu üben. Und wieder können die Lebensbedrohenden es nicht lassen, mir wieder und wieder mit blutigen Todesszenarien Angst einzujagen. Wann wird es endlich soweit sein, dass wir den Extremismus und das Festklammern an einer einzig gültigen Ideologie kritisch auseinandernehmen können? Wann können wir in jede Materie eindringen –  ohne Schuldgefühle, ohne das Gefühl, zu sündigen? Was für einen Wert hat die derzeitige Verfassung, wenn sie manche Menschen über andere stellt? 

Wir alle haben für Wandel rebelliert. Und dann kam er, wenn auch in ambivalenter Form. Und der Wandel war notwendig für die Würde der ersten Generation und die Würde der letzten Generation, für die Würde der Konservativen und der Progressiven, sogar für die Würde der Hetzer selbst. Der Wandel hat aus uns ein Mosaik gemacht. Erst aus der Entfernung im Ausland konnten wir es richtig erkennen. Heute haben wir einen neuen Staat. Dort herrscht zwar Chaos, aber neu ist er, keine Frage. Sein Schlechtes empört uns nur mäßig, da wir sein Gutes noch nie zu Gesicht bekommen haben. Wenn ich mich an mich selbst vor zehn Jahren zurückerinnere, dann weiß ich, dass es die Revolution war, die aus mir den tatkräftigen, kritischen, solidarischen, dominanten, introvertierten, kranken und gesunden Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Ich weiß nicht, was das ist, mit mir und der Revolution. Meine Gedanken sind widersprüchlich, unüberlegt, unglamourös, unattraktiv und schwach. Wie man sieht, kann ich mich einfach nicht entscheiden: Ist die libysche Revolution gescheitert oder war sie erfolgreich? Denn von den erfolgreichen ist sie die am meisten gescheiterte, und von den gescheiterten ist sie die erfolgreichste! Man kann nicht einmal sagen, ob sie eine neue Revolution ist, oder nur die Fortsetzung früherer Revolutionen. 

„Seltsam, dieses Libyen. Alle Krankheiten der Welt gibt es dort und jedes Heilmittel dafür. Hormongesteuert und launisch ist es, und ich bin genauso. Völlig unabsehbar, ob als nächstes Gutes oder Schlechtes von ihm kommen wird; es zu verfluchen oder zu hassen wäre unmöglich. Schwach sind wir angesichts seines Starrsinns, stark sind wir in seinem Rausch.“

 


Übersetzung aus dem Arabischen & Kuration: Sandra Hetzl (*1980 in München) übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Kadhem Khanjar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.


Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie „Blick zurück nach vorn“ . Anlässlich von zehn Jahren Revolution in Nordafrika und Westasien schildern die Autor/innen dabei aus verschiedensten Kontexten, was sie hoffen, wovon sie träumen, was sie sich fragen und woran sie zweifeln. In ihren literarischen Essays wird deutlich, wie wichtig die persönlichen Auseinandersetzungen sind, um politische Alternativen zu entwickeln, und was jenseits der großen Ziele erreicht wurde.

Mit dem anhaltenden Kampf gegen autoritäre Regime, für Menschenwürde und politische Reformen beschäftigen wir uns darüber hinaus in multimedialen Projekten: In unserer digitalen scroll-story „Aufgeben hat keine Zukunft“ stellen wir drei Aktivist/innen aus Ägypten, Tunesien und Syrien vor, die zeigen, dass die Revolutionen weitergehen.