Indien: Ein defektes Recht auf sichere Abtreibung

Interview

Wie können öffentliche Gesundheitsdienste in Indien verbessert und zur Verantwortung gezogen werden, um zugängliche und sichere Abtreibungen zu gewährleisten? Interview mit Dr. Suchitra Dalvie.

ASHA Worker

 

Dr. Dalvie ist praktizierende Gynäkologin und Mitbegründerin sowie Koordinatorin der Asia Safe Abortion Partnership, einer Bewegung, die sich für das Recht auf sichere Abtreibung einsetzt und Mitglieder in über 23 Ländern in Südasien, Südostasien, Südwestasien sowie in der Region Asien und Ozeanien hat. Sie arbeitet daran, das Thema Recht auf sichere Abtreibungen öffentlich mehr Sichtbarkeit und ein größeres Verständnis zu verschaffen.

Dr. Suchitra Dalvie
Dr. Suchitra Dalvie

In Indien werden jedes Jahr tausende Todesfälle aufgrund unsicherer Abtreibungen gemeldet. Von allen im Land gemeldeten Todesfällen bei Müttern tragen unsichere Schwangerschaftsabbrüche zu einem sehr hohen Anteil der gesamten Müttersterblichkeitsrate von 13 Prozent bei. Todesfälle haben während der anhaltenden COVID-19-Pandemie weiter zugenommen, was die Schwachstellen des öffentlichen Gesundheitssystems offenlegt. 

Shalini Yog Shah: Wie sehen die aktuellen Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch in Indien aus?

Dr. Suchitra Dalvie: Den meisten Menschen ist das Abtreibungsgesetz “Medical Termination of Pregnancy (MTP) Act, 1971”, bekannt. Qualifiziertes medizinisches Fachpersonal darf eine Schwangerschaft bis zu 20 Wochen unter bestimmten Bedingungen abtreiben. Dazu gehören a) eine Schwangerschaft, die die geistige und körperliche Gesundheit der Frau gefährdet; b) eine Schwangerschaft, die aus einer Vergewaltigung resultiert ist; c) eine Schwangerschaft, bei der bekannt ist, dass der Fötus eine sehr schwerwiegende Behinderung hat; und d) eine Schwangerschaft, die dadurch entstanden ist, dass die Frau und ihr Mann eine Verhütungsmethode angewendet haben, die versagt hat. Eine Schwangerschaft kann jederzeit abgebrochen werden, wenn Arzt*innen der Meinung sind, dass das Leben der Frau gefährdet ist, wenn sie die Schwangerschaft fortsetzt. 

Vielen ist nicht bewusst, dass das indische Strafgesetzbuch (IPC) aus dem britischen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1860 stammt und unverändert übernommen wurde, als Indien 1947 unabhängig wurde. Das veraltete Gesetz kriminalisiert Fehlgeburten. Das MTP-Gesetz ist wichtig, um Ärzte vor strafrechtlichen Anklagen zu schützen, wenn sie eine Schwangerschaft abbrechen. Es ist aber kein auf Rechten basierendes Gesetz.

Warum gibt es so viele unsichere Abtreibungen, obwohl Abtreibungen legal sind? Welche soziokulturellen und systemischen Faktoren spielen eine Rolle in der Autonomie von Frauen? 

In einer patriarchalischen Gesellschaft wie Indien ist es wichtig, verheiratet zu sein, und Mutterschaft ist der ultimative Beitrag, den eine Frau leisten sollte. Das führt zu einer großen Stigmatisierung rund um das Thema Abtreibung. Das Patriarchat kontrolliert schon immer die Sexualität von Frauen. Einer der besten Wege, dies zu tun, ist Frauen öffentlich zu verunglimpfen, die sich für Sex vor oder außerhalb der Ehe entscheiden, was wiederum zu Schweigen und Stigma um das Thema führt. 

Obwohl Abtreibungen in Indien seit 1971 erlaubt sind, glauben die meisten Frauen, dass es eine Sünde ist oder dass sie mit dem Schwangerschaftsabbruch etwas Illegales oder Kriminelles tun. Dies führt zu unsicheren Abtreibungen. Der beste Weg, den Zugang zu sicheren Abtreibungsdiensten zu stärken, besteht darin, Informationen für jeden öffentlich und ohne Stigma zugänglich zu machen. Alle öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sollten sichere Abtreibungen als "Wahlmöglichkeit" anbieten, die den Frauen auf eine nicht verurteilende, einfühlsame und würdevolle Art und Weise zur Verfügung gestellt werden, wobei die Qualität der Betreuung gewährleistet sein muss, als auch eine optionale Verhütung nach dem Abbruch. 

Krankenhäuser oder Einrichtungen des öffentlichen Sektors neigen dazu, Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden haben, bloßzustellen, und sie auf eine unwürdige Weise zu behandeln. Frauen bevorzugen den privaten Sektor, weil die dortigen Dienstleistungen sicher, vertraulich, und schnell sind und es dort keine Vorschrift zur Verhütung nach dem Abbruch gibt. 

Gibt es im neuen Gesetzentwurf signifikante Fortschritte?

Der Entwurf zur Gesetzesänderung (MTP (Amendment) Bill, 2020), wurde bereits von der Lok Sabha, dem Unterhaus des Parlaments, verabschiedet und wartet auf die Verabschiedung durch die Rajya Sabha, das Oberhaus. Im Gesetzestext wurde zum Beispiel der Begriff "verheiratete Frau" gestrichen und stattdessen das Versagen der Verhütung durch die "Frau und ihren Partner" genannt. Darin ist auch vorgesehen, dass die Schwangerschaftsgrenze von 20 Wochen auf 24 Wochen erhöht wird.  

Die Änderung dient vor allem dem rechtlichen Schutz des Arztes und kreiert weitere Hürden für die Frau, indem er die Anzahl der "Hierarchien" erweitert wird, die eine "Erlaubnis" für einen Schwangerschaftsabbruch notwendig sind. 

Der Entwurf umfasst den Vorschlag, medizinische Gremien in jedem Bundesstaat für jene Abtreibungen einzurichten, die über 24 Wochen hinaus (im Falle einer fötalen Fehlbildung) durchgeführt werden sollen. Demnach argumentieren wir, dass die psychische Gesundheit und die Lebensqualität der Frau beeinträchtigt werden würde, wenn sie gezwungen wäre, einen Fötus mit schweren Behinderungen zur Welt zu bringen. 

Das Gesetz geht nicht auf die Autonomie und Handlungsfähigkeit von Frauen ein und auf ihre Fähigkeit, Entscheidungen über ihren eigenen Körper zu treffen. Sowohl das oberste Gericht in Mumbai als auch die 9-köpfige Richterbank haben schon mal das Recht auf Privatsphäre als fundamentale Frage mehrmals klar geäußert, dass alle Bürger*innen Indiens, einschließlich Frauen, das Recht haben über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Dies schließt das Recht ein, einen Sexualpartner*innen zu wählen, sowie das Recht zu entscheiden, ob eine Schwangerschaft fortgesetzt werden soll. Trotz dieser liberalen Aussagen entspricht das Abtreibungsgesetz nicht dem Grundsatz dieser Aussage.

Wie steht es um die Rechte sexueller Minderheiten gegenüber dem Recht auf Abtreibung in Indien?

Die Rechte sexueller Minderheiten gegenüber Abtreibungen ist in Indien ein schwieriges Thema. Zum Beispiel spricht das Gesetz von einer "schwangeren Frau" und nicht von einer schwangeren Person. Es gibt keine Regelung für schwangere Personen, die aufgrund ihrer Situation gefährdet sind, wie z.B. durch Armut, Kastenzugehörigkeit, evtl. Behinderungen, Krankheiten wie HIV, weil sie als Sexarbeiterinnen arbeiten oder jugendliche Mädchen in Untersuchungsanstalten gehalten werden. Keine dieser Personen wurde in den Abtreibungsgesetzen, -politiken und -programmen des Landes berücksichtigt oder explizit angesprochen.

Wie hat sich die Pandemie auf die allgemeine sexuelle und reproduktive Gesundheit und das Recht (SRGR) und den Zugang zu Abtreibungen ausgewirkt?

Die sexuelle und reproduktive Gesundheit und Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch waren schon vor der Pandemie extrem schwierige Themen. Öffentliche Gesundheitsdienste nehmen keine Rücksicht auf die Bedürfnisse gefährdeter Menschen oder der großen (einkommensschwachen) Mehrheit der Gesellschaft. Die Pandemie hat die Lage noch verschlimmert.

Die Mittelschicht und die obere Mittelschicht sind seit Beginn der Pandemie mit Zugangsbarrieren konfrontiert, unter denen die ärmeren und die marginalisierten Menschen in unserem Land schon seit Jahrzehnten leiden. Plötzlich kursieren eine Menge Artikel und Gespräche über die Pandemie und ihre Auswirkungen auf SRGR und sichere Abtreibungen. Probleme in der Hinsicht werden erst angesprochen, unter denen arme Frauen aus kleinen Dörfern schon länger leiden, weil jetzt auch die besser gestellten Menschen davon konfrontiert sind.

Wie hätte die Regierung sicherstellen können, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln/ sicheren Abtreibungen für Frauen während des Lockdowns verfügbar gewesen wäre? 

Der Lockdown, der ziemlich abrupt verhängt wurde, hätte berücksichtigen sollen, dass es sich bei Abtreibungen um laufende Bedürfnisse handelt, die zeitkritisch sind. Viele Arbeitsmigranten kehrten in die Dörfer zurück, was das Zusammenleben mit ihren Ehepartnern verändert hat. Zusätzlich hat die Zunahme von häuslicher Gewalt zu einem Anstieg ungewollter Schwangerschaften geführt. 

Obwohl die Regierung und ach die Föderation der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie (Federation of Obstetric and Gynaecological Societies of India, FOGSI) erklärt hatte, dass alle schwangerschaftsbezogenen Dienste als Notdienste angesehen werden und auch während des Lockdowns fortgeführt werden sollten, war es für viele Frauen schwierig, diese Einrichtungen überhaupt zu erreichen, weil die öffentlichen Verkehrsmittel nicht in Betrieb waren. 

Vor der Pandemie sind Frauen regulär auf den Markt gegangen und konnten eine Klinik aufsuchen oder die Pille kaufen. Im Lockdown konnten sie das nicht, weil sie keinen Grund mehr hatten, das Haus zu verlassen und es gab keine Vertraulichkeit und Privatsphäre mehr. 

Die Regierung arbeitet an der Integration von Telemedizin in das System der klinischen Praxis. Telemedizin ermöglicht medizinische Behandlung auf Entfernung unter Verwendung von Technologie. Der Rahmen für Telemedizin umfasst noch keine medizinischen Abtreibungspillen, was jedoch optimal wäre. In Indien gibt es mehr Handys als Toiletten, und obwohl viele diese Handys innerhalb der Familien in den Händen der Männer sind, haben sie dennoch immenses Potenzial, den Zugang zu Informationen und Dienstleistungen für einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch zu vereinfachen.

Die Ermächtigung von Männern und Frauen durch verbesserte Fort- und Weiterbildungen und die Vernetzung des Gesundheitspersonals auf Gemeindeebene oder Maßnahmen, die evtl. die Panchayati Raj Institutionen einbezieht, um die Umsetzung der Programme auf Dorfebene zu gewährleisten würden die Situation verbessern. Es ist wichtig, dass die Maßnahmen diejenigen schützen und unterstützen, die diese Dienste am dringendsten benötigen.

Deutsche Übersetzung von Caroline Bertram.