Das Beuys-Vlies

Joseph Beuys war ganz offensichtlich jemand, den man sehr gut fotografieren konnte, die Chemie zwischen der Kamera und ihm muss gestimmt haben, gemessen an der Menge großartiger Aufnahmen von ihm, die ich kenne. Gab oder gibt es überhaupt noch einen bildenden Künstler, der so oft fotografiert wurde wie er? Andy Warhol vielleicht?

Am besten gefallen haben mir in letzter Zeit allerdings Beuys-Bilder, auf denen er selbst gar nicht zu sehen ist, versammelt in einem interessanten Buch mit Fotografien von Eva Beuys.
In den 60er Jahren dokumentierte sie mit einer Plattenkamera auf Glasnegativen die Raumsituation der Familie an ihrem Wohn- und Arbeitsort Drakeplatz 4 in Düsseldorf. Der Verleger und Beuysianer Lothar Schirmer hat diesen größtenteils noch unveröffentlichten Schatz gehoben und 2016 daraus ein Buch gemacht. Tatsächlich haben mich diese Aufnahmen tiefer beeindruckt und gründlicher beschäftigt als die Originalwerke von Beuys, die ich bisher in Museen gesehen habe. Das karge und rätselhaft reduzierte Interieur – rätselhaft auch, weil immerhin eine vierköpfige Familie dort lebte – entfaltet in den Fotografien eine magische Wirkung. Kunst und Leben durchdringen sich darin auf natürliche, quasi organische Weise, eine Grenze ist nicht auszumachen, auch deshalb nicht, weil permanent Gegenstände aus seinem Hausstand von Beuys zu Skulpturen und musealen Objekten verwandelt wurden – der ganze familiäre Lebens-Raum also eine „plastische Situation“ war.

Beuys’ sehr eigener Sinn für Stofflichkeit wird in diesen Bildern auf anrührende und fast zärtliche Weise erfahrbar. Neben den Dingen und Materialien sind manchmal seine damals noch kleinen Kinder zu sehen, im Spiel vertieft oder schlafend und mit einem Fell zugedeckt. Selbst das Kinderspielzeug wurde zum Beuys-Objekt, und zumindest auf den Fotografien wirkt das ganz folgerichtig und wie nebenbei. Beuys hat ja eigentlich auch die ganze Zeit gespielt, in dem Sinne, wie Kinder mit heiligem Ernst Dinge neu ordnen und geheimnisvolle, auch symbolische Apparaturen aus den für sie greifbaren Materialien ihrer unmittelbaren Umgebung bauen. Sie stehen mit einem Bein in einer Art von animistischer Vorzeit, und das hat bei Beuys entweder nie aufgehört, oder aber er hat als Erwachsener eine Hintertür gefunden, durch die er diese Welt wieder betreten konnte.

Die abgebildeten Möbel und Alltagsgegenstände am Drakeplatz 4 sind von wohltuender Einfachheit und darin auf eine selbstverständliche Weise schön. Nichts davon ist einfach zusammengekauft, dafür wäre vermutlich auch gar kein Geld dagewesen. Manche Dinge stammen noch aus Beuys’ Elternhaus, und so etwas wie Design oder modernistischer, geschweige denn bürgerlicher Komfort sind total abwesend in diesem märchenhaften Gehäuse: es gibt einen Ofen, einen Herd, einen Tisch, einen Schrank, einige Stühle, und gleich neben dem rundlichen Kühlschrank steht ein Flügel. Die ebenfalls vorhandene kleine Fettecke fällt nicht weiter auf. Der Fußbodenbelag ist durchgehend aus Rinderhaut, zusammengenäht von Eva Beuys. Sie beschreibt in dem Buch, wie froh ihr Mann gewesen sei, dass sie eine Plattenkamera für die Aufnahmen benutzte und keine mit Rollfilm, denn er war der festen Überzeugung, seine Werke bzw. deren Abbildung würden darunter leiden, für kurze Zeit gerollt zu werden. Auch abgesehen davon hatte Beuys Glück, denn seine Frau war eine wirklich gute Fotografin! Manche Aufnahmen sind auf seinen Wunsch hin entstanden, wie das wunderbare Bild des völlig entnadelten Weihnachtsbaumes, der fast zwei Jahre lang mit all seinen Nadeln unter sich verstreut unangetastet in dem Wohnraum stand. Aus den Anmerkungen zu dem Bild geht hervor, dass dieser Baum zum ersten Weihnachten 1961 gehörte, das sie in der neuen Wohnung am Drakeplatz feierten. Kurz vor Weihnachten 1961 kam Beuys’ erstes Kind zur Welt, und ich könnte mir vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gab; dass der Baum auch deshalb stehenblieb: als Zeichen und eine Art spiegelbildliches Memento mori. In einem späteren Interview sagte Beuys dazu, dass er ihn unbedingt behalten wollte, bis die Holzwürmer ihn schließlich zerfraßen.

Ihren Fotografien hat Eva Beuys Erinnerungen beigegeben, hinter jedem im Raum vorhandenen Gegenstand und jeder Situation gibt es eine Geschichte. Man erfährt etwas vom Wesen der Dinge, einige haben einen beachtlichen Lebenslauf, wie ein schlichter, eher kleiner Tisch, der Beuys seit seiner Kindheit begleitet hat und, von ihm regelmäßig frisch gestrichen und aufgearbeitet, genauso als Küchentisch mit Blumenvase wie als Sockel für Objektanordnungen diente. Oder der Ofen: in der zeitlichen Abfolge der Bilder wird seine erstaunliche Verwandlung vom reinen Werkstattofen und Heizkörper zur Beuysschen Wärmeplastik (als solche erwarb ihn Lothar Schirmer 1970) sichtbar.

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich selbst mit (ländlichen) Interieurs. Den Ausschlag dafür gab ein unbewohntes, halb ausgeräumtes Großbauernhaus in der Nachbarschaft. Die dort noch vorhandenen Relikte der ehemaligen Bewohner entfalteten in den nahezu leeren Räumen eine Wirkung, die sie dem gewöhnlichen Gebrauch entrückte. Sie schienen ein Eigenleben zu führen. Manche der Aufnahmen vom Drakeplatz 4 erinnern mich daran, deshalb habe ich eines dieser Bilder für meinen Beuys-Beitrag ausgewählt.
Es zeigt ein altes Schafvlies.
Der wärmende Filz, einer der wichtigsten Beuys-Werkstoffe, wird daraus gemacht.


Ingar Krauss wurde 1965 in Ost-Berlin geboren und lebt seit einiger Zeit im Oderbruch. Nach handwerklicher Lehre, Arbeit als Theatertechniker an der Berliner Volksbühne und als Betreuer in der Psychiatrie, kam er Mitte der neunziger Jahre zur Fotografie. Seitdem war er an zahlreichen internationalen Ausstellungen beteiligt, wie in der Hayward Gallery, London; dem Musée de l’Elysée, Lausanne; dem Palazzo Vecchio, Florenz; und dem ICP in New York.

Einzelausstellungen seiner Arbeiten gab es u.a. im Goethe-Institut Paris, dem Velan Center Turin, in der Kunsthalle Erfurt und der Guardini Stiftung Berlin; sowie in Galerien in Mailand, Paris, New York, Atlanta, Berlin und Leipzig. Veröffentlichungen u.a. bei Hatje Cantz, Thames & Hudson, PowerHouse Books, Mondadori Electa, Kerber, Skira Editore und Hartmann Books.