Joseph Beuys: der Energiespeicher

Der Besuch der Ausstellung „Joseph Beuys: Eine Innere Mongolei“ 1993 in Weimar hinterließ in mir langwährende Erinnerungen.

Schamanische Zeichnungen und Elemente auf Restposten-Papieren, Pergamentabrisse und fleckige Lebensmitteltüten - eine poetische Wunderwelt der Reduktion, an der Grenze des Sagbaren.

Die Energie der grafischen Werke dieser Ausstellung haben sich wie auf einer Festplatte in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich beschäftigte mich damals mit verschiedenen Schichtungen und Serien aus Industriepapieren, Texturen und Ritzzeichnungen. Es waren die ersten Jahre meiner beruflichen Selbstständigkeit als Künstler. Das Erlebnis dieser Ausstellung in Weimar und die Texte über oder von J.B., die mir damals zur Verfügung standen, gingen mir nicht aus dem Sinn. Die Zeichnung „Urschlitten“, aus dem Jahr 1960, war in dem Katalog zur Ausstellung abgebildet und lag ein Jahr aufgeschlagen in meinem Atelier. Ich muss gestehen, dass ich Zeichnungen in einem beuysähnlichen Duktus angefertigt habe, dieses Feld aber bald wieder verlassen habe.

Aus meiner Sicht berührt der „Urschlitten“ als Symbol unsere Gegenwart: als ökologisches und soziales Gefährt, als Rucksack für Hab und Gut, als Rollator für Gebrechlichkeit, als Hilfsorganisation oder als Retter in der Not.

Als das Kurhaus Kleve 2019 die Ausstellung „labile balancen“ mit meinen Arbeiten ausrichtete, bin ich dem Künstler J.B. und seinen Werken wieder etwas nähergekommen. An diesem Ort hatte der Künstler von 1957 bis 1964 sein Atelier. In den ehemaligen Arbeitsräumen sind verschiedene Werkgruppen, Objekte, Zeichnungen und Erinnerungsgegenstände ausgestellt. Es ist eine merkwürdige Atmosphäre zwischen Objekten und Zeichnungen, als würde der Künstler noch leben und in den Nachbarräumen eine Performance vorbereiten.  Ich kann dieses wunderbare Museum mit seinem sehr interessanten Ausstellungsprogramm nur empfehlen. Neben einer überdimensionalen Blaubeere aus Bronze, die so groß wie ein Fußball ist, habe ich mich sehr über ein dort ausgestelltes Multiple gefreut: die „Capri-Batterie“. Das Werk besteht aus einer gelben Glühbirne, die in einer Fassung steckt.  An dieser Fassung ist ein Stecker angebracht, auf den eine frische Zitrone (Biozitro) gesteckt wird. Die in der Zitrone vorhandene Sonnenenergie bringt nun die Glühbirne zum Leuchten, und das Ganze funktioniert ca. 100 Stunden lang, dann muss die Batterie gewechselt werden. (So die Anleitung des Künstlers). Was für eine geniale, kluge, witzige und ökologische Idee aus dem Jahr 1985, die bis zum heutigen Tag funktioniert.

Auch für die Zukunft lädt das vielschichtige Werk von Joseph Beuys immer wieder dazu ein, ihn neu zu entdecken. Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs zwischen Politik, Ökologie und Nachhaltigkeit ist es ein optimales Nachschlagewerk.

J.B.: „Ich entwickle mit anderen gemeinsam die Alternative zu den bestehenden Systemen Ost und West. Aber diese Alternative zu den bestehenden Systemen will ich doch als Kunstwerk sehen. Das ist nur durch erweiterten Kunstbegriff möglich. Einfach nach einer These, Kunst ist die einzige revolutionäre Kraft, es gibt keine andere.“ (Aus: „Das Nomadische spielt eine Rolle von Anfang an.“ Interview von Keto von Waberer mit Joseph Beuys, 1979)

Wenn man heute, 2021, nach über vierzig Jahren diese Zeilen liest, scheinen sie wie ein Balsam für Wunden der Welt zu sein und nichts an Aktualität verloren zu haben. Ost und West, Denken in Schwarz und Weiß, globale Flüchtlingskrise, Kriege, Hunger und keine Änderungen in weiter Sicht.

Auch heute können Konzepte und Ideen von Künstlerinnen und Künstlern einen Beitrag leisten, festgefahrene Denkweisen zu verändern und Erneuerungsprozesse anzuregen.

Immer noch aktuell ist der Lehrmeister Joseph Beuys.


Frank Maibier, 1959 in Werneuchen geboren, wohnte in Blumberg bei Berlin. Seit 1980 lebt er in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz.

Frank Maibier arbeitet an verschiedenen künstlerischen Ansätzen und Experimenten. Es entstehen temporäre und langwährende Installationen, Skulpturen und Bildträger. Einige dieser Arbeiten werden durch literarische und soundpoetische Begleitungen ergänzt.

Die sich aus diesen Ansätzen ergebenden Konzepte bewegen sich spielerisch zwischen konstruktiver Darstellung und deren Veränderung. So kann der Eindruck entstehen, dass die Stabilität eines Werkes nicht gewährt ist. Diese scheinbar labilen Zustände bewegen sich am Rande einer Dekonstruktion, einer Art stabilen Labilität.

Unter dem Namen „kanaluntersuchung“ werden in Zusammenarbeit mit dem Künstler Andreas Winkler experimentelle Soundarbeiten und lautpoetische Forschungen thematisiert (1995 bis 2021). Musikalische Publikationen und Klangarbeiten entstehen.