Twitter Verbot in Nigeria: Blackout der Demokratie

Kommentar

Nigerias Regierung hat Twitter verboten, nachdem der Kurznachrichtendienst zwei fragwürdige Tweets des Präsidenten gelöscht hat. Die skurrile Episode kommt nicht überraschend. Versuche der Regierung, die Meinungsfreiheit einzuschränken, nehmen seit Jahren zu.

Salako_Ayoola_Portraits

Rechtzeitig zum Tag der Demokratie, der am 12. Juni an den schwer errungenen demokratischen Wandel des Landes in den 1990ern erinnern soll, ist Nigeria an einem weiteren Tiefpunkt in seiner jüngeren demokratischen Geschichte angelangt. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der letzten Militärherrschaft und sechs aufeinanderfolgende Wahlen später scheint das Land weit von einer demokratischen Kultur entfernt, die garantiert, dass politische Entscheidungsprozesse frei von Repressionen und inklusiv gestaltet sind, und die Bürger/innen in die Lage versetzt, sich in informierter und kritischer Weise am Aufbau einer freien und sozial gerechten Gesellschaft zu beteiligen. 

Am 5. Juni kündigte Informationsminister Lai Mohammed eine unbefristete Suspendierung von Twitter in Nigeria als Reaktion auf das an, was die Regierung als „die dauerhafte Nutzung der Plattform für Aktivitäten, die fähig sind, Nigerias Existenz zu untergraben“ bezeichnete. Dem vorausgegangen war die Löschung zweier Tweets von Präsident Muhammadu Buhari, der mit Bezugnahme auf den Bürgerkrieg des Landes von 1967-1970 darauf hinwies, dass jegliche separatistischen Bestrebungen im Südosten des Landes mit äußerster Gewalt begegnet werden würden. Twitter reagierte damit auf die weitreichende Empörung unter nigerianischen Nutzer/innen und begründete die Löschung als Verstoß gegen die bestehenden Richtlinien. Einen Zusammenhang zwischen den beiden Vorgängen streitet die Regierung vehement ab.

Überraschend kommt die dramatische Entscheidung in keinem Fall. Sie bettet sich ein in die seit Jahren anhaltenden Bestrebungen der nigerianischen Regierung über  eine Vielzahl von Gesetzesentwürfen und -änderungen -indirekt oder direkt- zivilgesellschaftliche Organisationen strenger zu kontrollieren, die freie Meinungsäußerung einzuschränken oder gar zu bestimmen, wie frei Menschen ihre Identität in der Öffentlichkeit ausdrücken können. Hierzu zählen unter anderem das 2015 beschlossene Gesetz zur ‚Bekämpfung von Cyberkriminalität‘, eine seit 2016 immer wieder neu aufgewärmte Gesetzesvorlage zur Regulierung von Nichtregierungsorganisationen, die im Jahr 2019 im Parlament eingebrachte Gesetzesvorlage zum ‚Schutz vor Internetfälschungen und Manipulationen‘, sowie die im letzten Jahr verabschiedete Änderung des Gesetzes zu ‚Unternehmen und verwandten Angelegenheiten‘, welche bei der Zivilgesellschaft für seine abstrafende Natur scharf in die Kritik geriet. 

Während die Begründung für diese Gesetze zunächst verständlich und gerechtfertigt erscheinen mag – etwa die Sicherstellung von guter Unternehmensführung in eingetragenen Unternehmen und Organisationen – sind deren Inhalte und die entsprechenden Befugnisse jedoch häufig vage formuliert und damit offen für Interpretation und Missbrauch. Das angebliche Bestreben der nigerianischen Regierung im Sinne des Allgemeinwohls regulieren zu wollen, wird de-facto zur staatlichen Kontrolle, und regierungskritische Meinungsäußerungen werden zunehmend als Cyber-Stalking oder Fake-News ausgelegt, die es zu bekämpfen gilt. 

Letzteres galt selbst für den brutalen Einsatz nigerianischer Soldaten in Lagos im Oktober 2020: Vor laufenden Kameras hatten die bewaffneten Einheiten der Streitkräfte in eine Menge von friedlichen #EndSARS Demonstranten gefeuert, die sich für die Abschaffung einer gefürchteten Spezialeinheit der Polizei, dem Special Anti-Robbery Squad (SARS), einsetzte. Ein Ereignis, dessen Erzählung als Massaker bis heute von der Regierung als eine von internationalen Medien aufgebauschte Lügengeschichte präsentiert wird.    

Die Chancen, dass der ausgeübte Druck auf bürgerliche Freiheiten in naher Zukunft abnehmen wird, stehen erdenklich schlecht. Die Covid-19 Pandemie hat die wirtschaftlichen und sozialen Schwachstellen Nigerias deutlich offenbart. Während die gesundheitlichen Folgen im internationalen Vergleich bisher milde ausgefallen sind, sieht sich das Land mit massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten und steigender Armut konfrontiert. Im zweiten Quartal 2020 brach das Bruttoinlandsprodukt um rund 6% ein. Dies hängt insbesondere mit der Tatsache zusammen, dass Nigerias Wirtschaft und Staat maßgeblich von den Einkommen aus dem Öl- und Gassektor des Landes abhängig sind. Im Jahr 2019 machten Einnahmen aus dem Ölgeschäft 70% der Staatseinnahmen und etwa 90% der Deviseneinnahmen aus. Obwohl der Internationale Währungsfond von einem Wirtschaftswachstum von 2,5% für das Jahr 2021 ausgeht, werden aufgrund der Pandemie bis zum Jahr 2022 schätzungsweise 11 Millionen mehr Nigerianer/innen in Armut leben. Laut der aktuellen Arbeitslosenstatistik sind ein Drittel der Erwerbsbevölkerung ohne Arbeit oder unterbeschäftigt. Im Februar 2021 erreichte die Nahrungsmittelinflation mit 22% den höchsten Stand in 15 Jahren. 

Angefeuert durch wirtschaftliche und soziale Not, gerät die Sicherheitslage im Land zunehmend außer Kontrolle. Allein in der ersten Juni Woche kamen mehr als 200 Nigerianer/innen bei gewalttätigen Angriffen ums Leben. Landesweit wurden mehr als 130 Menschen entführt. Der islamistische Terror im Nordosten, die Bandenkriminalität im Nordwesten, die Bauern-Hirten Konflikte im Zentrum und Süden Nigerias sowie die separatistischen Bestrebungen der Indigenous People of Biafra im Südosten des Landes haben sich über das vergangene Jahr allesamt zugespitzt. Die Bemühungen der Sicherheitskräfte zeigen bisher wenig Wirkung. Dennoch glaubt Buhari weiter daran, Feuer mit Feuer bekämpfen zu können. Dem ehemaligen Militärherrscher, der sich bei seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2015 Nigeria als „konvertierter Demokrat“ vorstellte, liegt dieser Reflex immer noch am nächsten. 

Die Spirale aus Armut und Gewalt schafft auf absehbare Zeit den Nährboden für weitere Regierungs-Eingriffe in die bürgerlichen Rechte und Freiheiten unter dem Denkmantel der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Eine Situation die sich durch die jetzt schon heiß diskutierten nationalen Wahlen Anfang 2023 weiter verschärfen wird.     

Mut macht derweil, dass sich auch angesichts der neusten Eingriffe der Regierung die breite Zivilgesellschaft und die junge Generation der nigerianischen Gesellschaft diesen offen und couragiert entgegenstellt. Kaum war Twitter nicht mehr zu erreichen, statteten die ersten ihre Smart-Phones mit Virtual Private Network (VPN) Apps aus, um das Twitter-Verbot mit einem vorgetäuschten Standort im Ausland zu umgehen. „VPN-App“ war am Tag nach der Sperrung der am zweithäufigsten gesuchte Trend bei Google in Nigeria. Die Androhung seitens des Justizministers, Verstöße zu bestrafen, blieb von vielen der 39 Millionen Twitter Nutzer Nigerias unbeachtet. Wie bereits bei den vergangenen #EndSARS-Protesten wird auch hier wieder in aller Deutlichkeit der Wunsch der Nigerianer/innen nach mehr -und nicht weniger- Partizipation in der Politik des Landes sichtbar - ebenso wie die Grenzen der Regierung bei dem Versuch, diesen mit brachialen Methoden unterdrücken zu können.

Wie die nigerianische Regierung das Kräfteringen um Twitter auf Dauer fortsetzen oder gar gewinnen will, ist schwer erkennbar. Der wirtschaftliche Ausfall beläuft sich jetzt schon auf geschätzte 6 Millionen Dollar pro Tag - in Zeiten, in denen jegliches Einkommen zählt. Teile der internationalen Gemeinschaft, angeführt von den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union als wichtige Entwicklungspartner, haben bereits ihre Enttäuschung über das Twitter-Verbot zum Ausdruck gebracht. 

Wenn sich Präsident Buhari zum Tag der Demokratie am kommenden Samstag zu Wort meldet, wird er wohl das Twitter-Verbot als Schutz der Demokratie des Landes gegen einen unkontrollierten und willkürlichen Social Media Giganten darstellen wollen. Die Ironie, dies von jemand zu hören, dessen erfolgreiche Präsidentschaftskampagne sich im Jahr 2015 maßgeblich auf Twitter stütze, dürfte den wenigsten Nigerianer/innen entgehen.