Das Lernen neu lernen

Wenn sich das Wirtschaften verändern soll, muss sich auch die Weiterbildung ändern: Neben der Schule, der Ausbildung und dem Studium muss sie zu einer vierten Säule des Bildungswesens werden.

Die Arbeitswelt verändert sich – getrieben durch Digitalisierung, Globalisierung und ökologische Transformation – in einem rasanten Tempo. Arbeitsplätze fallen weg, andere verändern sich, wieder andere entstehen komplett neu. Das führt bei vielen Menschen zu Abstiegsängsten und Verunsicherung. Zukunftsängste bergen sozialen und politischen Sprengstoff. Deshalb dürfen die Betroffenen diesen Umbrüchen nicht schutzlos ausgeliefert werden. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass die Gesellschaft sie durch ein solidarisch organisiertes Weiterbildungssystem darin unterstützt, mit den technischen und sozialen Veränderungen Schritt zu halten und sich die notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen anzueignen. Auf diese Herausforderungen ist das deutsche Weiterbildungssystem weder qualitativ noch quantitativ vorbereitet. Das System ist gekennzeichnet durch fehlende Transparenz hinsichtlich der Zugangsbedingungen und der Qualitätsstandards. Die Definition einzelner Weiterbildungsabschlüsse und -zertifikate ist oft von Land zu Land und Kammerbezirk zu Kammerbezirk unterschiedlich.

Intransparente Anbieterlandschaft

Ein Beleg dafür, wie schwierig es ist, sich in dieser historisch gewachsenen Strukturlosigkeit zurechtzufinden, ist die vom Bundesinstitut für berufliche Bildung (BIBB) herausgegebene und fünfzigseitige (!) Checkliste, die Interessierte dabei unterstützen soll, eine für ihre berufliche Entwicklung relevante Fortbildung zu finden. Dass die intransparente Anbieterlandschaft insbesondere auf «bildungsferne» Menschen abschreckend wirkt, zeigt auch die Tatsache, dass die Weiterbildungsquote von Geringqualifizierten um mehr als die Hälfte unter derjenigen der Höherqualifizierten liegt. Mit anderen Worten: Statt Versäumnisse während der beruflichen Erstausbildung auszugleichen, verstärkt das deutsche Weiterbildungssystem die Bildungsungleichheit im späteren Verlauf des Lebens noch weiter.

Wenn lebenslanges Lernen zum selbstverständlichen Teil einer jeden Berufsbiografie werden soll, muss die fragmentierte und intransparente Weiterbildungslandschaft zu einem stimmigen und aufeinander aufbauenden System entwickelt werden. Dabei ausschließlich auf den Markt als Regulierungsmechanismus zu setzen, hieße, etwas fortzuschreiben, was seit Jahren nicht funktioniert. 

Vierte Säule des Bildungssystems

Zukünftig wird der Berufs- und Studienabschluss kein Endpunkt des Bildungswegs mehr sein, sondern Ausgangspunkt für weitere Bildungsaktivitäten. Weiterbildung wird der Erstausbildung also in puncto Relevanz künftig nicht mehr nachstehen, weswegen der öffentliche Bildungsauftrag erweitert werden sollte. Weiterbildung muss neben Schule, Ausbildung und Studium zu einer gleichberechtigten vierten Säule des Bildungssystems werden.

Öffentliche Verantwortung heißt allerdings nicht Verstaatlichung. Der Staat soll aber dafür sorgen, dass eine gute Weiterbildungsinfrastruktur entsteht, Aufgaben erfüllt und Spielregeln eingehalten werden – sowie dafür, dass ein Rahmen für die unterschiedlichen Akteure gesetzt wird.

Weiterbildung mit Struktur

Dies sollte allerdings nicht durch eine staatliche Weiterbildungsbehörde geschehen, sondern – in Anlehnung an die Organisationsstruktur für die duale Ausbildung – gemeinsam mit den Sozialpartnern und in enger Abstimmung mit den Ländern und anderen Akteuren der Weiterbildung. Ein beim Bundesinstitut für berufliche Bildung angesiedelter «Hauptausschuss der beruflichen Weiterbildung» sollte sich unter Beteiligung von wissenschaftlichen Expert/innen und Fachleuten aus der betrieblichen Praxis darüber verständigen, welche Kompetenzen und Qualifikationen in den unterschiedlichen Branchen und Berufen künftig gebraucht werden – und wie die dazu erforderlichen Weiterbildungsmodule gestaltet sein könnten. Fortbildungsinteressierte, aber auch Arbeitgeber hätten damit eine Orientierung, welche Weiterbildungen relevant und bundesweit anerkannt sind.

Öffentliche Verantwortung

Zur Entwicklung der Weiterbildung als gleichberechtigte vierte Säule des Bildungssystems gehört die Einrichtung einer hochwertigen und flächendeckenden Infrastruktur. Dieser Ausbau kann nicht allein privaten Trägern überlassen bleiben. Private Weiterbildungsträger richten ihr Angebot nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit aus. Dass das – sowohl regional als auch inhaltlich – zu erheblichen «weißen Flecken» führt, zeigt der Weiterbildungsatlas 2018 der Bertelsmann-Stiftung. Der Zugang zu Weiterbildung darf aber nicht vom Wohnort abhängig sein. Deshalb sollten die Angebote privater Träger durch Angebote öffentlicher Träger ergänzt werden. Besonders geeignet sind dafür die Institutionen der Erstausbildung wie Berufsschulen, Fachschulen und Hochschulen. Außerdem könnte auf diese Weise ein Beitrag dazu geleistet werden, die starre Trennung zwischen Ausbildung und Weiterbildung zu überwinden und den Wissenstransfer zwischen Lehre und Praxis zu verbessern.

Finanzierung und Teilhabe

Um allen eine Beteiligung an Qualifizierungsmaßnahmen zu ermöglichen, muss der Lebensunterhalt während der Weiterbildung gesichert sein. Dabei sollte die Finanzierung den unterschiedlichen Bedarfen Rechnung tragen. Ideen wie das Chancenkonto oder das Bildungsgrundeinkommen, die allen Bürgern die gleiche Summe zur Verfügung stellen, laufen Gefahr, die Bildungsungleichheit zu verstärken. Denn der Bedarf an Qualifizierung und die damit verbundenen Kosten sind sehr unterschiedlich. Insbesondere Geringqualifizierte können einen Weiterbildungsbedarf haben, der durch ein einheitliches Budget nicht gedeckt werden kann. Zugleich hat diese Gruppe in ihrer bisherigen Bildungsbiografie meist deutlich weniger Bildungskosten in Anspruch genommen als zum Beispiel Akademiker/innen.

Aus diesen Gründen sind solidarische Lösungen wie eine Arbeitsversicherung vorzuziehen, die die Unterstützung am jeweiligen individuellen Bedarf für Weiterbildung ausrichtet. Durch die Arbeitsversicherung gefördert werden sollten Weiterbildungen, mit denen ein arbeitsmarktrelevantes Zertifikat – gegebenenfalls auch ein neuer Berufsabschluss – erreicht werden kann, das bundesweit anerkannt ist. Damit würde ein zusätzlicher Anreiz gesetzt, landesspezifische Regelungen oder an Kammergrenzen gebundene Abschlüsse zu vereinheitlichen. Neben der Übernahme der direkten Kosten (Teilnahmegebühren, Fahrtkosten, Übernachtungskosten, Unterrichtsmaterial) sollten auch indirekte Kosten – also auch Lohnersatzleistungen – übernommen werden. Durch zusätzliche finanzielle Anreize könnten Gruppen mit einer geringen Weiterbildungsbeteiligung, wie etwa Geringqualifizierte, besonders unterstützt werden.

Finanziert werden sollte die Arbeitsversicherung je zu einem Viertel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und zur Hälfte durch einen Steuerzuschuss. Eine derartige Finanzierung würde auch die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für den Bereich der Weiterbildung unterstreichen.

Neue Weiterbildungskultur

Insgesamt geht es um die Etablierung einer Weiterbildungskultur, die sich an den Leitlinien Chancengerechtigkeit, Offenheit und Verfügbarkeit orientiert. Denn eine systematische und kontinuierliche Weiterbildung ist eine entscheidende Voraussetzung für die Bewältigung der digitalen Transformation. Dies gilt sowohl für den Einzelnen im Hinblick auf die Sicherung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit als auch für die Wirtschaft zur Deckung des Fachkräftebedarfs und zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.


Brigitte Pothmer war Bundestagsabgeordnete der Grünen (2005-2017) und Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik.

Philipp Antony ist Referent für Bildung und Wissenschaft in der Heinrich-Böll-Stiftung.

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