Freund oder Feind? Neubestimmung der türkischen Afghanistan-Politik außerhalb der NATO

Analyse

Der türkische Präsident Erdogan, sonst durchaus ein Freund vieler und oft auch harscher Worte brauchte fast eine Woche, bevor er zur Machtübernahme der Taliban in Kabul Stellung bezog. Während das Thema die türkischen Medien in den letzten Tagen genauso beschäftigte wie die deutschen, so ist die türkische Regierung bemüht, erstmal die Konsolidierung des Machtwechsels abzuwarten.

Erdoğans spricht beim Statesman’s Forum im Mai 2013

Die Türkei befindet sich in einer volatilen Situation, die man gern zum eigenen Vorteil wenden würde: Einerseits waren türkische Truppen Teil der ISAF-Mission, andererseits möchte man sich diplomatische Kanäle mit den Taliban offenhalten. Dazu gehört, dass man nicht mit den abziehenden europäischen und amerikanischen Truppen in einen Topf geworfen werden will - das türkische Außenministerium verkündete denn auch selbstbewusst, dass die Botschaft zwar an den Flughafen verlegt worden sei, es aber keine Pläne gäbe, die Vertretung zu schließen.

Die wachsende Eigenständigkeit der Türkei verfestigen

Bevor die Taliban Kabul überrannten, hatte Ankara noch geglaubt, eine neue Rolle in Afghanistan definieren zu können, die der Linie seiner in den letzten Jahren immer eigenständigeren Außenpolitik entspräche. Dass letztes Jahr Istanbul als Ort für die dann geplatzten Friedensgespräche im Raum stand, war schon ein Gewinn für die Türkei. Erst vor wenigen Monaten hatte man begonnen, mit der US-Regierung darüber zu verhandeln, dass das türkische Militär die Sicherung des Kabuler Flughafens von ihren US Kollegen übernehmen sollte.

Der Plan, wenn er denn realisiert wird, hätte zweierlei erlaubt: zum einen das ramponierte Verhältnis zu den USA aufzupolieren und zum anderen, zu zeigen, dass die wachsende Eigenständigkeit der Türkei außerhalb des NATO-Bündnisses trotzdem Vorteile für die Allianz hat. Die Türkei hat in Afghanistan seit Jahren immer wieder dafür geworben, dass aufgrund der gemeinsamen islamischen Wurzeln, die Türkei einen inhärenten Vorteil gegenüber anderen „westlichen“ Akteuren habe. Dass dieses simplizistische Labeling nicht zwingend jihadistische Akteure beindruckt, musste Ankara allerdings schon mit dem IS in Syrien und ash-Shabab in Somalia feststellen.

Türkei und Afghanistan: Brüder im Glauben und in der Außenpolitik?

Die kalte Schulter, die die Taliban der Türkei zuerst zeigten, macht deutlich, dass es auch in Afghanistan unklar ist, ob dieser Plan aufgeht. Die Taliban äußerten sich erst kritisch und verlangten einen Abzug der Truppen bis September. Angesichts der aktuellen „Charme-Offensive“ gegenüber der internationalen Gemeinschaft ist man aber zurückgerudert: Taliban-Sprecher Suhail Shaheen sagte dem türkischen Sender Ahaber erst diese Woche, dass man ein gutes Auskommen mit der Türkei wünsche, die Länder seien doch Brüder im Glauben. Auch wenn viele TürkInnen diese Interpretation in den sozialen Medien unter dem Hashtag #TalibanKardesimDegildir (Die Taliban sind nicht mein Bruder) zurückwiesen, kann nicht abgestritten werden, dass die türkische Führung versucht, aus der schwierigen Gemengelage das Beste zu machen. Präsident Erdogan hält daher auch daran fest, dass die Türkei weiterhin den Kabuler Flughafen managen wird. Wahrscheinlich ist das nur, wenn die Taliban zustimmen. Wenn es Ankara aber gelingt, die gewünschte Mediatoren-Positionen einzunehmen, könnte die zuletzt sehr angeschlagene außenpolitische Reputation der Türkei in Washington und Brüssel wieder wachsen.

Das Interesse in Ankara erscheint daher groß, an gedeihlichen Beziehungen mit Kabul festzuhalten. Die starken Verbindungen, die die Türkei mit Pakistan hat, könnten dies befördern. Die Türkei setzte dabei auf verschiedene Richtungen: so nutzt man die starken Verbindungen in den zentralasiatisch Nachbarländern Afghanistans, um Netzwerke aufzubauen, sie evakuierte etwa den afghanischen Außenminister und den Chef des Geheimdienstes nach Istanbul und hofft gleichzeitig darauf, dass Warlords wie Gulbuddin Hekmatyar, mit dem es enge, auch persönliche Kontakte gibt, wieder eine Rolle in einer afghanischen Regierung spielen können.

"Die Grenze ist (unsere) Ehre“: Afghanische Geflüchtete in der Türkei

Die eigentliche Sorge in der Türkei gilt möglichen Fluchtbewegungen aus Afghanistan, die in die Türkei gehen könnten. Schon seit Wochen, lange vor dem Fall von Kabul, wird in den Medien darüber diskutiert, dass immer mehr AfghanInnen auf der türkischen Seite der Grenze zum Iran angetroffen werden. Die Fernsehbilder von Menschengruppen, die ungestört die Hügel herunterkommen und sich auf den Weg entlang der Landstraßen machen, haben zu hitzigen Diskussionen im Land geführt.

Die Türkei, die vier Millionen geflüchtete Menschen aus Syrien aufgenommen hat, kämpft seit über zwei Jahren mit einer Wirtschaftskrise - Inflation und Arbeitslosigkeit sind auf Rekordniveau. Der Ärger über die schon früher nicht besonders beliebte Regierungspolitik zu syrischen Geflüchteten bricht sich in der schlechten Wirtschaftslage immer öfter auch gewalttätig Bahnen. Oppositionspolitiker haben das Thema dazu als wahlkampfgeeignet erkannt, besonders die größte Oppositionspartei CHP macht Stimmungen gegen SyrerInnen und AfghanInnen und verkündet „die Grenze ist (unsere) Ehre“.

Die Regierung hatte es dementsprechend auch sehr eilig klarzumachen, dass die Türkei nicht bereit ist, mit den AfghanInnen das gleiche zu machen wie mit den syrischen Geflüchteten. Der Versuch der EU, in das aktuell neu auszuhandelnde dritte Paket der EU-Türkei Erklärung auch afghanische Geflüchtete miteinzubeziehen, lehnt Ankara vehement ab. Mehrere PolitikerInnen erklärten öffentlich, die Türkei sei nicht das Flüchtlingslager der Europäer.

Schon vor längerer Zeit hat die Regierung begonnen, die iranisch-türkische Grenze genauso zu befestigen wie die syrische. Eine mehrere Meter hohe Mauer zieht sich jetzt dort über die Hügel. Doch trotzdem kommen immer noch Menschen ins Land. Das Gebiet, in dem der Schmuggel schon seit der Republikgründung und der Ziehung der neuen Grenzen 1923 einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellt, ist schwer zu kontrollieren. Bestechungen von Grenzbeamten sollen durchaus üblich sein, sagen KennerInnen. Schon 800 bis 1500 Dollar bringen einen über die Grenze.

Wie hoch die Zahlen der Neuankommenden sind, ist tatsächlich schwer zu sagen. Die türkische Regierung hält sich bedeckt. Manche Beobachter meinen, dass Migration aus Afghanistan nichts Neues sei, erst letztes Jahr ertranken 61 AfghanInnen als ihr Boot auf dem ostanatolischen Van-See unterging, den Geflüchtete auf dem Weg nach Westen überqueren, um Polizeikontrollen an Land zu umgehen. Nicht alle Personen scheinen dazu vom aktuellen Vormarsch der Taliban motiviert zu sein, einige Personen berichten auch, dass sie schon länger im Iran ausharrten, bis sich ein günstiger Moment für den Grenzübertritt ergab. Waren im letzten Jahr die Zahlen wegen Corona zurückgegangen, vermuten manche BeobachterInnen, dass sie jetzt einfach wieder auf das Vor-Corona-Niveau ansteigen werden. Die Durchquerung des Iran dauert -je nach Kontrollen- um die zehn Tage für die Geflüchteten - ob iranische Behörden Interesse daran haben, Personen, die ohnehin vorhaben das Land schnell wieder in Richtung Türkei zu verlassen, aufzuhalten, wird von türkischer Seite bezweifelt.  Eventuell durch die Einnahme von Kabul verursachte Fluchtbewegungen würden daher erst mit Verzögerung in der Türkei registriert werden.

Die Türkei als Ziel der afghanischen Fluchtbewegung

Die Befürchtung der Türkei ist dabei auch, dass dieses Mal für viele AfghanInnen gar nicht der Plan besteht, die Reise nach Europa fortzusetzen. Schon in den Jahren vor der Wirtschaftskrise war die Türkei für viele AfghanInnen eher Ziel- als Durchreiseland, da, als die türkische Wirtschaft noch brummte, es einfach war, besonders im Boom-Sektor Baugewerbe informelle Arbeit zu finden. Diese Möglichkeiten haben zwar stark abgenommen, gleichzeitig wissen viele MigrantInnen und Geflüchtete auch, dass der Weg in die EU teuer und schwierig ist, seitdem die Außengrenzen immer stärker militarisiert werden.

Nach SyrerInnen sind AfghanInnen die zweitgrößte Gruppe von MigrantInnen und Geflüchteten im Land. Auch wenn keine offiziellen Zahlen vorliegen, gehen Schätzungen von bis zu 500.000 Afghanen aus, von denen sich die meisten im Großraum Istanbul aufhalten sollen. Da die Türkei bei der VN-Flüchtlingskonvention einen Regionalvorbehalt eingelegt hat, ist es Nicht-EuropäerInnen nicht möglich, in der Türkei Asyl zu beantragen, es ist lediglich möglich, sich vom UNHCR zum Zwecke der Umsiedlung in einer aufnahmebereites Drittland registrieren zu lassen. Aufgrund der seit 2011 stetig zunehmenden Gruppe von geflüchteten SyrerInnen und des Drucks der internationalen Gemeinschaft wurde 2014 das Asylrecht reformiert und bietet seitdem für SyrerInnen einen subsidiären Schutzstatus, der sie größtenteils vor Abschiebungen schützt und den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssektor, sowie seit 2016 zum formalen Arbeitsmarkt ermöglicht. Da AfghanInnen diesen Status nicht bekommen, leben die meisten unregistriert in der Illegalität als Tagelöhner. Ein Limbo, der, so hofft die türkische Regierung, leichter dazu führt, dass AfghanInnen das Land wieder verlassen. Da dies nicht häufig freiwillig geschieht, hat die Türkei in den letzten Jahren immer wieder große Gruppen nach Afghanistan oder z.T. auch illegal in den Iran abgeschoben.

Neben der geopolitischen Dimension ist es also auch aus Gründen der Migrationsabwehr für Ankara eine Priorität, den Kontakt nach Kabul zu halten. Die ohnehin unter starker Kritik stehende Regierung Erdogan möchte sich mit möglichen afghanischen Geflüchteten keine weitere offene Flanke gegenüber der Opposition leisten.

 

Kristian Brakel ist Leiter des Büros in Istanbul.