Solostück Jogging – Wenn Frauen töten

Veranstaltungsbericht

Mit der Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut entwickelte Hanane Hajj Ali 2017 das Solostück „Jogging – theatre in progress“. Damit tourt sie bis heute durch den Libanon – und die ganze Welt, denn dieses Stück ist fürs Reisen und fürs in Bewegung bleiben gemacht: schlicht, kompakt und anpassungsfähig an neue Gegebenheiten und politischen Veränderungen und gleichzeitig so vielschichtig und universell, dass es weit über den Libanon hinaus einen Nerv trifft.

Hanane Hajj Ali während ihrer Performance "Jogging". Sie wirbelt ein transparentes rotes Tuch um sich herum und über ihr Gesicht.
Teaser Bild Untertitel
„Jogging – theatre in progress“ - Ein Solostück von Hanane Hajj Ali

Hananes Stück ist auf Arabisch. Sie ist allein auf der schwarzen Bühne. Ein Hocker in der Ecke, zwei Wasserflaschen, ein paar Tücher, ein Mantel – mehr nicht. Sie spielt 1 ½ Stunden ohne Pause. Dabei wechselt sie von Dehnübungen zum Joggen, vom Arabischen ins Englische, von einer Rolle in die andere so leichtfüßig und problemlos, als würde sie tagein und tagaus nichts anderes machen, als dieses Stück zu spielen. Dabei sind auch die Bühnen im Libanon von der allgegenwärtigen Misere betroffen. Das Land ist in einem Strudel aus Wirtschaftskrise, Politikversagen und Pandemie versunken. Die Inflation lässt den Geldwert ins Bodenlose fallen, Diesel ist knapp und somit auch Strom. Kann man unter diesen Umständen an Kunst denken?

Widrige Umstände fürs Theater

Hanane und ihre Crew sind dankbar für die Tage in Berlin als eine Gelegenheit, Atem zu schöpfen von den Widrigkeiten des Alltags und gleichzeitig über die verheerende Situation des Libanons zu sprechen. Trotzdem ist sie mit Gedanken dort, kauft Medikamente so viel in ihren Koffer passen, denn auch die Apotheken dort sind seit Monaten geschlossen.

Für viele Zuschauende ist es das erste Mal seit Monaten, dass sie ein Theater besuchen. Dass es sich bei der Spielstätte der Shakespeare-Company um ein Freilufttheater handelt, macht die Sache während der Pandemie einfacher. Weder Regen noch S-Bahn-Streik schrecken ab und so bleiben nur wenige Stühle leer.

Mach dich locker

Das Stück beginnt mit Aufwärmübungen. Hanane scherzt und lacht. Sie bezieht das Publikum ein und zeigt gleich in den ersten Minuten: Tabus gibt es für sie nicht. Aufhänger ist, dass sie sich an die ersten Jahre ihrer Karriere zurückerinnert, an Rollen, von denen jede Schauspielerin träumt – wie Medea. Medeas Geschichte und ihre Taten –  der Mord an ihren Kindern – erzählt Hanane noch nüchtern. Doch spätestens an dem Punkt, an dem sie ihr eigenes krebskrankes Kind erwähnt, das so litt, dass sie als Mutter darüber nachdachte, es von Leid und Schmerz endlich zu erlösen, wird es still im Zuschauerraum. Das Krächzen der Krähe in den Baumwipfeln passt zur Stimmung. Hanane ist die ganze Zeit in Bewegung und lädt die Zuschauenden ein, ebenfalls in Bewegung zu bleiben, zumindest im Geist. Sie schlüpft in die Rolle von Yvonne, die ihre drei Töchter und schließlich sich selbst tötet.

 Hanane Hajj Ali hält während ihrer Performance "jogging" eine Krone in der Hand

Was hat sie dazu getrieben? Im Stück werden verschiedene Erklärungen angeboten - der wahre Grund ist mit dem Video, das die Täterin vor ihrem Selbstmord aufgenommen hatte, vernichtet worden. Diese Geschichte ist tatsächlich so passiert – doch bei den Erklärungen spielt Hanane mit Teilen anderer Biografien. Die Botschaft: Jenseits der heilen Oberfläche liegt in Familien, in Gesellschaften manches im Argen, gerade, was häusliche Gewalt an Frauen betrifft. Auf der Suche nach dem Warum verwebt Hanane Realität mit Fiktion, Wahrheit mit Erfundenem, Taten mit Schauspiel. Dadurch eröffnet sie Türen und lädt die Zuschauenden ein, hinter die Fassaden zu blicken. Während die nüchterne Aussage – Mutter tötet Töchter mit vergifteten Obstsalat und begeht Selbstmord – noch Unverständnis und Ablehnung hervorruft, weicht dem Verstehen und Mitfühlen. Bei der nächsten Frauenfigur, Zahra, geht es um eine Mutter, die nach gesellschaftlichen Standards nicht etwa um ihre Söhne trauern sollte, sondern stolz sein, dass diese als Märtyrer gestorben seien.

Hanane Hajj Ali während ihrer Performance "Jogging" - sie hat ein Tuch über dem Kopf und bewegt sich auf einer schwarzen Bühne

Doch ein heimlich herausgeschmuggelter Brief ihres letzten Sohns erzählt eine andere Geschichte:

„Weigere dich, Mutter, für mich Schwarz zu tragen. Ich muss sterben, weil ich mich geweigert habe zu töten. Hier in Aleppo sollte ich gegen Terroristen kämpfen, aber alles, was ich sehe, sind arme Leute.“

Für diese aufrechte Haltung wird er hingerichtet. Hanane nimmt auf der Bühne kein Blatt vor dem Mund und spricht, ja schreit uns die unterschwelligen Konflikte – in Beirut ebenso wie in Berlin - ins Gesicht: Es geht um Macht, Missbrauch, Abhängigkeit, Ausweglosigkeit und Sex.

Sprich mit mir

Hanane Hajj Ali im Gespräch mit Zuschauer*innen

Trotz der schweren Momente im Stück hält Hanane die Nähe zum Publikum. Der Austausch mit ihm ist ihr wichtig. Im Libanon haben Frauen aus Protest ihre Vorstellung verlassen – Hanane ist ihnen gefolgt und hat das Gespräch gesucht. Sie haben es sich noch einmal angeschaut. Auch auf dem Berliner Südgelände gibt es Fragen und Hanane beantwortet sie geduldig. Sie sieht glücklich aus, dort oben auf der Bühne, keine Spur von Erschöpfung. Als die Nacht endgültig ihr schwarzes Tuch ausbreitet und die Reihen sich lichten, hüpft sie behände von der Bühne. Getreu dem Motto: Immer in Bewegung bleiben.