Ich wollte nur weg

Hintergrund

Wann und wie unterscheiden sich Arbeitsmigration und politische Flucht? Murat, Hânde und Çetin verließen die Türkei aus unterschiedlichen Gründen. Drei Menschen, drei Generationen Migration. Ihre Porträts zeigen, dass Zuhören wichtiger ist als Kategorisieren.

Zerstörtes Wohngebiet in der Stadt Cizre, März 2016.
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Nach einem Angriff des türkischen Militärs: Zerstörtes Wohngebiet in der Stadt Cizre in den kurdischen Gebieten, März 2016.

Ein Hinterhaus im Berliner Stadtbezirk Neukölln. Das Tempelhofer Feld ist fußläufig zu erreichen, die Hermannstraße mit ihren Cafés und Supermärkten um die Ecke. An den Wänden der Wohnung im dritten Stock hängen Bilder von Familienmitgliedern, von Verwandten aus der Türkei und Deutschland. „Herzlich Willkommen, komm doch herein!“... Hier leben Murat und seine Frau Dilara seit 45 Jahren, hier haben sie ihre drei Kinder großgezogen und unzählige Stunden miteinander verbracht. Knapp 3.200 Kilometer liegen zwischen ihrem Zuhause und dem Geburtsort von Murat, einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Sivas.

Als er dort 1969 eine Ausbildung zum Elektriker abschließt, erfährt der damals 19-Jährige über einen Lehrer vom deutsch-türkischen Anwerbeabkommen. Wie so viele andere macht Murat sich auf den Weg nach Istanbul, um Tests und Aufnahmeprüfungen zu bestehen. Ein paar Wochen später ist es dann soweit. Zusammen mit drei Freunden macht er sich – vier Jahre, bevor das Anwerbeabkommen gestoppt wird – auf den Weg nach Deutschland. Voller Vorfreude, so erzählt er, und mit wenig Gepäck beginnt seine erste große Reise am Istanbuler Bahnhof Sirkeci.

In Deutschland angekommen werden Murat und seine Freunde zunächst mit dem Zug nach Hamburg gebracht. Dort kommen sie in einem Arbeiterwohnheim der Firma Siemens unter. Ein Jahr lang teilen sie ihren Alltag auf engsten Raum miteinander. In ihrer Mitte ein Radio, das allabendlich Neuigkeiten aus der Türkei verkündet. Der Anfang ist nicht einfach und der Kontakt außerhalb von türkeistämmigen Migrant*innen schwierig. Viel Arbeit, wenig Zeit, kaum Berührungspunkte.

In Sicherheit

Auch wenn Murat bereits einige Worte Deutsch spricht und sich dies schnell unter den Fabrikaufsehern herumspricht, begleitet ihn doch ein mulmiges Gefühl. Noch nie hat er so weit weg von seiner Familie gelebt, so vieles ist ihm nicht vertraut: Wie funktionieren U-Bahnen? Warum sind die Straßen tagsüber so leer? Und wieso schauen uns die Menschen eigentlich so an, wenn zwei Männer händchenhaltend über die Straße laufen?

Als er einige Jahre später nach Berlin zieht, gründet er mit seinen Freund*innen einen Arbeiterjugendverein. Hier vermitteln sie türkischen Migrant*innen unter anderem auch Wissen über den Umgang mit deutscher Geschichte und tauschen sich über aktuelle politische Ereignisse in der Türkei aus. Die 70er und 80er sind geprägt von gesellschaftlichen Spannungen. Bombenanschläge, politische Morde und bürgerkriegsähnliche Zustände erschüttern das Land. Murat, der mittlerweile Ehemann und Vater von drei Kindern ist, atmet mehr als einmal erleichtert auf. „Ich hatte mich an Deutschland gewöhnt, an die anderen Lebensweisen. Aber ich freute mich auch, dass ich mit meiner Familie in einem Rechtsstaat lebte.“

Zerstörungen und Repressalien in den Dörfern führen schließlich dazu, dass zahlreiche kurdische Familien ab Ende der 70er Jahre ihre Herkunftsorte verlassen müssen. Insbesondere die Folgen des Putsches 1980, wie etwa das Verbot der kurdischen Sprache, die Auflösung aller politischen Gruppen, die Verfolgung und Verhaftung Oppositioneller mit schwerer Folter sowie die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und dem türkischen Militär seit 1984 sorgen dafür, dass tausende Kurd*innen und Oppositionelle ab den späten Achtzigerjahren Asyl in Deutschland beantragen.

Schnell mal kurz weg

Eine von ihnen ist auch Hânde. Nachdem sie 1999 Flyer für die Partei Hadep (eine Vorgängerpartei der HDP) verteilt, werden sie und ihre Freund*innen gesucht. Sie weiß nur noch, dass sie gerade auf dem Weg zum Parteibüro war, als ihr einige Freund*innen entgegenkommen und ihr aufgeregt mitteilen, dass nach ihr gefahndet werde. Dies alles passiert ungefähr zur selben Zeit, als die Staatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die Hadep einleitet, eine politische Repräsentation bei der Parlamentswahl im April 1999 soll verhindert werden. Insbesondere nach der Verhaftung von PKK-Chef Öcalan scheint der Zeitpunkt gekommen, auf militärische Niederschlagung zu setzen.

Hânde weiß, wie ihre Chancen stehen, wenn sie bleibt. Viele Freund*innen sind bereits verhaftet, zu oft hat sie Geschichten von Folter und Vergewaltigungen in den türkischen Gefängnissen gehört. Sie ist sich sicher, sie muss erst mal weg. In ein paar Wochen wird der Spuk schon wieder vorbei sein...Versteckt in einem Lastwagen, inmitten von Kisten harrt sie mit sieben anderen Flüchtigen den langwierigen Weg nach Deutschland über aus, immer darauf vorbereitet, entdeckt zu werden. Viel Platz bleibt nicht, raus können sie nur abends, wenn es dunkel ist und sie einen abgelegenen Parkplatz finden. Einen Monat dauert diese schreckliche Reise, dann kommen sie in Aachen an.

Zusammen mit einer Freundin kommt Hânde zunächst in einer Gemeinschaftsunterkunft in Sachsen-Anhalt unter, teilt sich hier mit sechs weiteren Frauen ein Zimmer. Sie erinnert sich nur ungern an die Zeit zurück, an die vielen Streitigkeiten unter den Frauen, die Sprachbarrieren, die nicht getrennten Waschräume. Kontakte mit Einwohner*innen des Ortes gibt es nur selten. „Wir haben eigentlich niemanden gesehen. Ich denke, die Einwohner*innen hatten Angst vor uns“. Es ist aber nicht der wenige Kontakt, der ihr zu schaffen macht, es sind Momente wie jene beim Netto. „Jedes Mal wurde ich beim Einkaufen kontrolliert und musste meine Taschen öffnen.“ Irgendwann ist sie nur noch formal dort gemeldet, verbringt die meiste Zeit bei Freund*innen in Berlin. Hier fühlt Hânde sich wohl und kann sich mit anderen Oppositionellen aus der Türkei treffen. Hierher zu ziehen ist dennoch nicht möglich. Als Asylbewerberin unterliegt Hânde einer Residenzpflicht. Sie darf sich offiziell nur in der Region aufhalten, für die ihre Behörde auch zuständig ist.

So geht‘s nicht weiter

Aus ein paar Wochen Unterschlupf werden schließlich Jahre, wird ihr Zuhause. Zwei Jahre lang hofft sie, dass sie wieder zurück kann. Dann fasst sie einen Entschluss: „So wie jetzt geht es nicht weiter!“ Sie beschließt die Sprache zu lernen, die Abendschule zu besuchen, endlich in Deutschland anzukommen. Elf weitere Jahre dauert es, bis Hânde das erste Mal wieder in die Türkei reist. Im Sommer 2012 ist es soweit. „Ich wollte, dass meine Familie mein Kind kennenlernt. Ich hatte die deutsche Staatsbürgerschaft und fühlte mich sicher.“

Ab 2013 führt die türkische Regierung auch Friedensgespräche mit der PKK, zweieinhalb Jahre halten diese an, dann eskaliert der Konflikt im Juli 2015 erneut. Es folgen grausame Monate für die kurdische Zivilbevölkerung im Südosten des Landes: Mitten in Friedensdemos und auf HDP-Veranstaltungen explodieren verheerende Bomben, es kommt zu wochenlangen Ausgangssperren, die den Zugang zu Nahrung und Medizin erschweren. Ganze Wohnblöcke und Stadtbezirke werden im Zuge der Auseinandersetzungen zerstört.

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

Menschenrechtsorganisationen und lokale Initiativen warnen schon länger vor den verheerenden Folgen, als am 16. Januar 2016 die Petition „Bu Suça Ortak Olmayacağız(deutsch: Wir werden nicht Teil des Verbrechens sein) von der Initiative „Akademiker*innen für den Frieden“ online geht. Die Unterzeichnenden kritisieren den Einsatz des türkischen Militärs im Südosten und fordern die sofortige Aufhebung der Ausgangssperren, ein Ende des Massakers sowie die Wiederaufnahme der Gespräche.

Çetin, der zu diesem Zeitpunkt gerade an der Nişantaşı Universität in Istanbul lehrt, ist einer von rund 2.200 Unterzeichner*innen. Die Unterzeichner*innen werden zur Zielscheibe der türkischen Regierung. Aus den Medien erfahren Hunderte von Menschen, dass sie aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden. Çetin fühlt sich niedergeschlagen und lebt in der teuersten Stadt der Türkei arbeitslos.

Ein Stipendium der Humboldt-Stiftung hilft ihm, in Deutschland Fuß zu fassen. Spätestens seit dem Putschversuch im Juli 2016 ist für ihn klar, dass es kein Zurück mehr gibt. „Ich vermisse zwar meine Familie und Freund*innen. Die Türkei als Land ist für mich aber verdorben.“ Er spricht bereits Deutsch, kennt sich aus, weiß wie Land und Leute ticken. Das macht vieles leichter. Sein Terminkalender ist voll, Journalist*innen und Initiativen wollen mit ihm über die Lage in der Türkei sprechen. „Ich war plötzlich in der Situation zu erzählen, statt zuzuhören.“

Çetin genießt vor allem auch seine Freiheit, sagen zu können, was er denkt. Dennoch fühlt er sich nicht ganz frei. Er kennt die Mordlisten und ist sich darüber im Klaren, dass Menschen, die gegen Erdoğan anschreiben, angegriffen werden können. „Türkische Faschisten sind für uns genauso gefährlich wie Neonazis.“ Mit diesem Wissen bewegt er sich auf der Straße vorsichtig, richtet seinen Blick immer wieder nach hinten.

Das unerreichbare Grab des Vaters

2019 war die vorerst letzte Reise von Hânde geplant. Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters wollte sie sein Grab besuchen. Sie hatte schon alles soweit vorbereitet, dann klingelt ihr Telefon. Ihre Schwester ist dran: „Komm nicht. Sie fragen wieder nach dir.“ Warum, weiß Hânde bis heute nicht. Schon vor 20 Jahren versuchte sie dies über einen Anwalt herauszubekommen, der aber keine Auskunft von den Behörden bekam. „Ich habe Flugblätter verteilt – das kann doch nicht alles sein, was sie mir vorwerfen?“

Aber sie spürt auch hier in Deutschland anti-kurdischen Rassismus. Sie bekommt mit, wie ihr Sohn, der einen kurdischen Namen trägt, von Geburtstagen ausgeschlossen wird. Immer wieder begegnen ihr im Alltag türkeistämmige Menschen mit Vorwürfen, wenn sie erklärt, Kurdin zu sein. Verletzend sei aber auch die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft, die nicht anerkennen würde, dass sie keine Türkin sei, und zu wenig über marginalisierte Gruppen in der Türkei wisse. „Es verletzt mich, dass wir alle in einen Topf geworfen werden.“

„Viel zu selten wird darüber gesprochen“

Murat und Dilara geben mir nach dem Interview selbstgebackene Poğaca mit. Über 50 Jahre lebt der Siebzigjährige jetzt in Deutschland. Er ist davon überzeugt, dass sich auch die deutsche Gesellschaft mit der Zeit daran gewöhnt hat, dass sie bleiben, dass sie hierher gehören.

Auf dem Nachhauseweg denke ich noch einmal über einen seiner Sätze nach: „Viel zu selten wird darüber gesprochen.“ Recht hat er. Viel öfter sollten wir davon hören, viel öfter sollten wir auch danach fragen und die leeren Phrasen vom „Gastarbeiter*in“ und „türkischem Migrationshintergrund“ mit Leben füllen. Ihren Geschichten mehr Raum geben. Murat, Hânde und Çetin, deren Geschichten in diesem Artikel vorkommen, spiegeln nur einen Bruchteil dieser Realität wieder. Aber sie stehen auch für drei Generationen von Immigration und Flucht.

Seit ich 2015/16 in der Türkei gelebt habe, merke ich immer wieder, wie einseitig unsere Sicht auf türkeistämmige Menschen ist, wie wenig wir doch über die Gesellschaft und Geschichte der Türkei wissen. Besonders prägend war eine Reise in die kurdischen Gebiete. Deshalb habe ich mich an dieser Stelle auch für Murat, Hânde und Çetin entschieden. Ihre Geschichten waren mir zuvor nicht bewusst. Dies mag auch daran liegen, dass wir diesen Part deutscher Geschichte nie wirklich im Unterricht behandelt haben. Um das zu ändern, sind auch wir, die Mehrheitsgesellschaft, zukünftig gefragt, mehr nachzufragen und hinzuhören.

 

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unseres Büros in Istanbul.