China und die Taliban: Dreißig Jahre Schwanken zwischen Freund- und Feindschaft

Hintergrund

Chinas Avancen an die Taliban in Afghanistan sind vom Kalten Krieg der Nationalstaaten und der Abwesenheit des einfachen Afghanen geprägt.

Apache helicopter

Im Mai 2021 begannen die Streitkräfte der USA und der NATO ihren Rückzug aus Afghanistan. Seither ist den Taliban gelungen, weite Landstriche Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen, einschließlich der Hauptstadt Kabul. Der Rückzug der US-Streitkräfte vollzog sich so blamabel, dass die Regierung wohl unausweichlich in das Sperrfeuer der Republikanischen Partei gerät. Darüber hinaus kritisieren China, Russland und viele andere Staaten die USA dafür, weder in den 20 Jahren der Entsendung von Streitkräften nach Afghanistan noch während ihres endgültigen Rückzuges verantwortlich gehandelt zu haben. Daraus hat sich eine internationale Debatte über einen weiteren gescheiterten Versuch der Errichtung einer Demokratie entwickelt.

Wichtigste Punkte:

  • Seit ihrer Entstehung sind die afghanischen Taliban ein globales Problem, während Afghanistan als Land nur von internen und externen politischen Gruppierungen ausgehöhlt wird.
  • Während des Kalten Krieges versorgten die Vereinigten Staaten die Mudschaheddin mit Geld, China lieferte Waffen, und Pakistan unterstützte die Logistik.
  • Die Beziehungen zwischen China und den Taliban wandeln sich ständig, wie auch Chinas Narrative der Terrorabwehr. International werden diejenigen Organisationen als Terroristen gebrandmarkt, die als Feind wahrgenommen werden.
  •  Der Extremfall der Taliban zeigt die Abwesenheit von „Menschen“ im Spiel der internationalen Politik.

Während sich die Taliban unaufhaltsam der afghanisch-chinesischen Grenze nähern, suchen sie gleichzeitig den Dialog mit China. Zahlreiche öffentliche und private Treffen zwischen China und Vertretern der Taliban reichen bis in das Jahr 2014 zurück. In einem Interview für die Zeitschrift This Week in Asia im Juli 2021 begrüßte der Sprecher der Taliban, Suhail Shaheen, eine chinesische Beteiligung am Wiederaufbau Afghanistans. Noch im gleichen Monat, am 28. Juli, traf sich Wang Yi, der Außenminister Chinas, mit Mullah Abdul Ghani Baradar, einem der Taliban-Gründer, öffentlich in Tianjin. Angesichts der Tatsache, dass die Taliban noch gar keine formale Regierungsgewalt innehatten, war dies ein ausgesprochen hochrangiges Ereignis.

Wenn man die Volkszeitung als Maßstab für die Mainstream-Medien Chinas nimmt, so ist die Berichterstattung über die Lage in Afghanistan einerseits durchaus zurückhaltend, aber andererseits sichtbar positiv bezüglich des Fortschritts der Beziehungen zwischen China und den Taliban. Die Volkszeitung zitierte Wang Yi mit den Worten: „Die Taliban in Afghanistan sind militärische und politische Schlüsselkräfte, die bestimmt eine wichtige Rolle im Friedens-, Aussöhnungs- und Wiederaufbauprozess Afghanistans spielen werden.“ Die Global Times, die wiederum für ihre ausgesprochene antiamerikanische Haltung bekannt ist, betonte, „dass der Feind meines Feindes mein Freund sei“. In einem Editorial unter dem Titel „Afghanistan bringt die wahre Natur der Beziehungen zwischen China und den USA ans Tageslicht“ betonte die Zeitung, dass die „Taliban China immer als Freund betrachten würden“.

Wie ist Terrorismus eigentlich in der Vergangenheit definiert worden? Warum steht Afghanistan im Geflecht der internationalen Beziehungen zwischen Nationalstaaten auf doppelt verlorenem Posten? Um diese Fragen zu beantworten, soll an dieser Stelle ein Exkurs über die Entstehung der Taliban im Spannungsfeld von Kolonialherrschaft und Kaltem Krieg folgen, begleitet von einer Analyse der Entwicklung der Positionen Chinas gegenüber Afghanistan.

Der Autor schließt seine Ausführungen mit einer historischen Betrachtung der Logik des Handelns von Nationalstaaten und den Herausforderungen, denen sich die Institution der Nationalstaaten durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sieht.

Die Taliban: Ein Erbe der kolonialen Besetzung wie auch des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR

Zweifelsfrei ist das Problem der Taliban seit Anbeginn ein globales Problem. Dahingegen ist die Rolle Afghanistans als Staat vergleichsweise vernachlässigbar, oder, anders ausgedrückt, ein von externen und internen politischen Gruppierungen ausgehöhltes Afghanistan war weder im späten 20. noch im frühen 21. Jahrhundert jemals ein wirklich handlungsfähiges politisches Subjekt.

Afghanistan liegt im Herzen Zentralasiens. An Afghanistan grenzen die früheren zentralasiatischen Gliedstaaten der UdSSR, China, Pakistan und Iran. Außerdem ist es nicht weit bis nach Indien und dem Arabischen Meer; Afghanistan kann man auch als „Pufferzone“ der asiatischen Mächte betrachten. Der Hindukusch teilt Afghanistan in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Die Bevölkerung des Südens besteht hauptsächlich aus sunnitischen Paschtunen. Die Taliban definieren sich nicht nur über ihre Glaubensauslegung, sondern sind paschtunische bewaffnete Kräfte, die sich mit der patriarchalischen Stammesherrschaft der Paschtunen identifizieren. Die Bevölkerung des Nordens setzt sich hauptsächlich aus Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Hazara zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung des Nordens lehnt eine Herrschaft der Taliban ab und bildete 1996 die Nordallianz, der es 2001 gelang, die Taliban zu besiegen.

Aufgrund der zahlreichen ethnischen, sprachlichen und religiösen Gemeinsamkeiten sind Afghanistan und seine fünf nördlichen Nachbarstaaten eng miteinander verflochten, was schon früh zu Befürchtungen der UdSSR führte, dass ein Aufstand in Afghanistan sich an der verwundbarsten Stelle der UdSSR auf ganz Zentralasien auswirken würde. Da die UdSSR ein großes Interesse an einem Zugang zum Indischen Ozean hatte, versuchte sie regelmäßig, ihren Einfluss bei den dortigen Anrainerstaaten geltend zu machen, insbesondere Indien und Pakistan. Afghanistan war daher das natürliche Sprungbrett für diese Ziele. Der UdSSR gelang es bereits in den 1950er Jahren, Afghanistan in seine Einflusssphäre zu bringen, und mit der Invasion in Afghanistan 1979 wurde dort ein prosowjetisches Regime installiert.

Die indirekte sowjetische Herrschaft war nachteilig für die paschtunischen Stammesführer, Kriegsherren und Groß- und Kleingrundbesitzer, die das Land lange Zeit kontrolliert hatten.  Die Marionettenregierung unter Führung des tadschikischen Paschtunen Babrak Karmal sorgte für weiteren Unmut unter den paschtunischen Anführern. Im Schutze des Hindukusch erhoben sich paschtunische Kriegsherren und bekämpften die Sowjets in einem Guerillakrieg, während sie sich untereinander gegenseitig das Land streitig machten. Die Sowjetunion sah in Afghanistan nicht mehr als einen Korridor zum Arabischen Meer und interessierte sich nicht für das soziale Gefüge dieses Satellitenstaates. Die Kriegsherren plünderten und verkauften, was ihnen in die Hände fiel, bis hin zu städtischen Stromkabeln, Brückenträgern und Straßenwalzen, während die einfache Bevölkerung in ständigem Hunger lebte und kaum genug zum Überleben hatte. Die Todesrate lag bei rund 20 Fällen auf 1.000 Einwohner, möglicherweise damals der höchste Wert der Welt.

Um die Sowjetunion einzudämmen, förderten die USA nach Kräften die traditionellen antisowjetischen Warlords und die aufstrebenden afghanischen Mudschaheddin, indem sie Ausbildung und finanzielle Mittel bereitstellten. Angesichts seiner Spannungen mit der Sowjetunion pflegte China antisowjetische Ambitionen und verkaufte den Mudschaheddin Infanteriewaffen wie Sturmgewehre, Minen, Raketen, Flugabwehrraketen, etc. Diese Waffen wurden via Pakistan nach Afghanistan verbracht.

 

„Das einzig richtige Vorgehen in Afghanistan besteht darin, den Widerstandskräften zu helfen, und dabei sollten [China und die USA] zusammenarbeiten. (...) Wir müssen Afghanistan in einen Morast verwandeln, in dem sich die Sowjetunion für lange Zeit in einem Guerillakrieg festfährt.“ (Deng Xiaoping, 08. Januar 1980)

 

Summa summarum versorgten die USA während der 1980er und 1990 Jahre die antisowjetischen Kräfte mit Geld, China lieferte Waffen, und Pakistan unterstützte die Logistik. Auch Staaten wie Saudiarabien und Ägypten beteiligten sich mit diversen Mitteln. Diese Geber interessierten sich vermutlich nicht für die Ziele der Mudschaheddin, die einen eigenen Staat errichten wollten, und sie hätten diese Ziele auch kaum unterstützt, aber im Rahmen des Kalten Krieges reichte ihre gemeinsame antisowjetische Haltung aus, um diese und andere Differenzen zu überwinden.

Afghanistan und die Zusammenarbeit von China und den USA während des Kalten Krieges

Einschlägige diplomatische Archive in China sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Viele chinesische Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan im Jahr 1979 von der chinesischen Führung als Beweis für die Bedrohung Chinas durch die Sowjetunion angesehen wurde.

1980 sagte Deng Xiaoping in Peking zum damaligen US-Verteidigungsminister Brown: „Das einzig richtige Vorgehen in Afghanistan besteht darin, den Widerstandskräften zu helfen, und dabei sollten wir zusammenarbeiten. (...) Wir müssen Afghanistan in einen Morast verwandeln, in dem sich die Sowjetunion für lange Zeit in einem Guerillakrieg festfährt.“ Brown antwortete: „Das ist auch unsere Absicht, aber wir müssen unsere Absichten vertraulich behandeln.“

Damals war diese Zusammenarbeit zwischen China und den Vereinigten Staaten in der so genannten Afghanistan-Frage Teil von Chinas Strategie der „Vereinigung mit den Vereinigten Staaten als Gegengewicht zur Sowjetunion“ (联美制苏). Auf der Grundlage US-amerikanischer und sowjetischer Dokumente erklärten chinesische Forscher, dass China während des Krieges über Pakistan und die CIA große Mengen an AK-47-Gewehren, Flugabwehrraketen und Raketenwerfern im Wert von schätzungsweise 2 bis 4 Milliarden US-Dollar an die Mudschaheddin lieferte.

Unterdessen flohen viele Afghanen nach Pakistan, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Paschtunen leben auf beiden Seiten der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan, von daher gab es ohnehin einen ständigen Grenzverkehr. Die Regierung Pakistans und auch zivile Einrichtungen errichteten in den Flüchtlingslagern zahlreiche Medresen. In den meisten Medresen wurde die fundamentalistische sunnitische Deobandi-Lehre unterrichtet. Die Deobandi-Bewegung wurde im 19. Jahrhundert in Indien gegründet und breitete sich im Zuge der Teilung von Indien und Pakistan auch in Pakistan und Afghanistan aus. Mit der Annahme wahhabitischen Gedankengutes und der strengen Stammesordnung der Paschtunen radikalisierte sich diese Lehre immer weiter und inspirierte die Koranschüler zum Kampf gegen die sowjetische Herrschaft, weswegen sowohl die USA als auch pro-US-Kräfte im wahhabitischen Saudi-Arabien die Errichtung dieser Medresen unterstützten.

Die Regierung Pakistans verfolgte ganz pragmatisch die Errichtung einer propakistanischen afghanischen Regierung als zielführende Rückversicherung gegen Indien. So wurden dank ihrer zahlreichen Förderer die Medresen auf pakistanischem Gebiet zu Nährböden der antisowjetischen Kräfte in Afghanistan.

Die Taliban („Taliban“ leitet sich vom arabischen talib ab und bedeutet [Koran-]Student) rekrutierten sich aus genau diesen Medresen. Unter ihnen waren sowohl afghanische Flüchtlinge als auch Pakistanis. Mit Hilfe und Unterstützung der USA, Pakistans und Chinas organisierten sie 1994 einen Studentenaufstand und kämpften sich nach Afghanistan zurück. Da sie sowohl vorher gegen die sowjetischen Streitkräfte gekämpft hatten als auch gegen die Warlords kämpften, gewannen sie anfangs an Popularität. Im Gegensatz zur früheren Generation der Mudschaheddin waren die meisten dieser studentischen Soldaten in Pakistan geboren; unter ihnen gab es sogar Pakistaner, die nur Soldaten geworden waren, um zu überleben. Sie hatten allenfalls höchst vage Vorstellungen des Nation-Building, keinerlei Sympathie für Land und Leute Afghanistans und waren von völliger Unkenntnis städtischen Lebens, als sie nach Afghanistan zurückkehrten und dort ein „Regime“ errichteten, das noch schlimmer als die Besetzung durch die Warlords war. Neben Plünderungen, Säuberungen und Bombenangriffen errichteten sie ein rein islamisches Regime; ihre völlige Kompromisslosigkeit führte zu einem Zerwürfnis mit den Interessen der USA und so verloren sie nach und nach deren Unterstützung.

Wie in einer früheren Analyse von Initium Media beschrieben, hat nun die Konstellation eines neuen Kalten Krieges in Verbindung mit der Indo-Pazifik-Strategie der USA zu einem Prioritätenwechsel geführt. Die USA ziehen ihre Truppen zum frühestmöglichen Zeitpunkt aus Zentralasien ab, um stattdessen den Kräfteaufbau in der Taiwan-Straße, dem Südchinesischen Meer und dem Pazifik voranzutreiben. Eine andere Analyse weist darauf hin, dass sich nicht nur die USA und Indien annähern, sondern auch die Beziehungen zwischen Pakistan und Russland enger werden. Russland stellt sich nicht gegen den Griff der Taliban zur Macht, da aus russischer Perspektive ein von den Taliban kontrollierter Norden Afghanistans einer Stabilität in den fünf zentralasiatischen Nachbarstaaten zuträglich sein dürfte, was von Russland als Gewinn innerer Sicherheit verbucht wird.

 

Chinas Haltung zu den Taliban änderte sich kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001, als das Ministerium für öffentliche Sicherheit Chinas 2002 die erste Liste offiziell anerkannter Terrororganisationen und Terroristen Ostturkestans veröffentlichte.

Beziehungen zwischen China und den Taliban: Etliches ändert sich, nur die Taliban nicht

Zwar sind China und Afghanistan Nachbarn, doch sind sie nur durch den schmalen Wachankorridor verbunden. Wegen Sicherheitsbedenken hat China keine Straße gebaut, die bis an die Grenze reicht, und nimmt gegenüber diesem Nachbarn, der auch als „Friedhof der Weltreiche“ bekannt ist, eine vorsichtige, um nicht zu sagen negative Haltung ein. Die von China in den 1950er Jahren eingeführten „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ gelten seither für die meiste Zeit der Chinesisch-Afghanischen Beziehungen, auch wenn die Regimes in Afghanistan sich seit 1949 rasch ablösten. Sieht man vom Karmal-Regime ab, das von der Sowjetunion gestützt wurde, so wurde die Mehrheit der Regimes von China umgehend anerkannt. Allerdings ist „Friedliche Koexistenz“ nicht mit passiver Hinnahme gleichzusetzen, sondern bezeichnet eigentlich aktives Engagement ohne direkte bewaffnete Intervention. Egal wer an der Macht ist, egal, ob es sich um legitime Regierungen handelt oder nicht, solange eine mögliche Bedrohung durch Akteure unter Einschluss der Taliban besteht, soll dadurch wenigstens sichergestellt werden, dass sie China nicht feindlich gesinnt sind.

Vor dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik hatte China außer der Grenzsicherung keine unmittelbaren Interessen in Afghanistan; allenfalls kam der Einfluss der immer engeren Beziehung zwischen China und Pakistan zum Tragen. Der direkte Einsatz sowjetischer Streitkräfte zu Ende der 1970er Jahre verstärkte die Wahrnehmung Chinas einer Einkreisung durch die Sowjetunion, weswegen China den anti-sowjetischen Dschihad unterstützte, ohne dabei Unterstützer des politischen Islams zu sein. In internationaler Wahrnehmung war „Dschihad“ damals noch ein relativ neutraler Begriff, und auch „Terrorismus“ war noch nicht mit islamistischem Extremismus verknüpft, sondern wurde eher beim Linksradikalismus verortet (vergleichbar dem Gebrauch des Begriffes in den USA heute). 1981 wurde das Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps hastig wieder eingerichtet, nachdem es sechs Jahre zuvor aufgegeben worden war, und Soldaten wurden an den Grenzen Chinas zu Afghanistan und den Ländern Zentralasiens stationiert. Gleichzeitig verkaufte China Waffen an die Mudschaheddin.

Chinas wohlwollende Haltung zu den regierungsfeindlichen bewaffneten Kräften setzte sich auch während der Taliban-Ära fort.  Im Jahre 2021 sorgte die enge Beziehung zwischen China und den Taliban bei zahlreichen Internetnutzern in China für Frustration, doch wer sich an die Medienberichterstattung über die Taliban in den frühen 1990er Jahren erinnert, weiß, dass die ersten Nachrichten ein neutrales, wenn nicht sogar positives Bild der Taliban zeichneten. Die bewaffnete Gruppierung wurde als Zusammenschluss antisowjetischer Studentensoldaten dargestellt, die weder nach Macht noch persönlichem Ruhm strebten und deren unaufhaltsamem und unerbittlichen Vormarsch die verkommenen Warlords, ihre Lumpenarmeen und die Überreste der Sowjetunion nichts entgegenzusetzen hatten.

So behaupteten beispielsweise Pan Yi und Gong Min in einem Artikel unter der Überschrift „Aufstand“,  den sie 1995 für Outlook News Weekly verfasst hatten, dass die Taliban „die Warlords hinweggefegt und das Land wiederaufgebaut“ hätten, dass sie übermächtige Gegner ohne die Unterstützung ausländischer Kräfte geschlagen hätten und ihre Feinde sich kampflos ergeben hätten. Cui Yansheng beschrieb die Taliban in einem Artikel als „disziplinierte und heldenhafte Gruppe, die ausgezogen sei, um alle Lager zu befrieden und das Land zu retten“; auch seien sie beim Volk beliebt. Was die Abschaffung der Unterhaltung durch die Taliban, die Förderung von Lynchjustiz, die Verbrennung ausländischer und nichtreligiöser Bücher sowie das Arbeits- und Ausgehverbot für Frauen betrifft, so taten die Medien dies mit dem Kommentar ab, dass die Taliban „islamisches Recht praktizierten“ und „alle als unmoralisch geltenden Handlungen verboten seien“.

Die neutrale oder sogar positive Darstellung aller Handlungen des lokalen Regimes als übereinstimmend mit der lokalen Kultur war ein deutliches Echo des in den 1990er Jahren vorherrschenden Postkolonialismus. Gleichzeitig handelte es sich hierbei um einen integralen Bestandteil von Chinas diplomatischem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten verschiedener Staaten der Dritten Welt, ein Ausdruck der ehedem so beliebten Bevorzugung von „Souveränität vor Menschenrechten“.

Erst als die Taliban allen Einwänden zum Trotz die 1.500 Jahre alten Buddhastatuen von Bamiyan sprengten und die ganze Welt ihre Untaten verurteilte (dass zugleich hunderte von Flüchtlingen aus Bamiyan getötet wurden, kam in internationalen Medien kaum zur Sprache), setzte in Chinas offiziellen Medien ein Kurswechsel ein. China hat das Vorgehen der Taliban nie öffentlich verurteilt; lediglich einige Zitate in der Volkszeitung verweisen knapp auf die Verurteilung durch buddhistische Kreise Chinas und die UNESCO.

Die größere der beiden Buddha-Statuen von Bamiyan vor und nach der Zerstörung.
Die größere der beiden Buddha-Statuen von Bamiyan vor und nach der Zerstörung.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 brachten die Verbindung zwischen den Taliban und Al-Qaida ans Tageslicht. Der Drahtzieher von Al-Qaida, Osama Bin Laden, war früher Mitglied der Taliban gewesen und wurde nach den Anschlägen von ihnen geschützt. Gleichzeitig waren die Beziehungen zwischen den USA und China nach einer Reihe von Zwischenfällen wie der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 und der Flugzeugkollision bei Hainan 2001 auf einem Tiefpunkt angelangt. Die offiziellen chinesischen Medien zogen es vor, das Feuer aus der Entfernung zu beobachten. Obwohl sie sich nicht positiv zu Al-Qaida äußerten, waren sie erfreut, dass jemand die arroganten Imperialisten abstrafen und den „Vereinigten Staaten eine Lektion erteilen würde“, und griffen das Thema einer Zusammenarbeit in der Terrorabwehr nur langsam auf. Die öffentliche Meinung ging noch einen Schritt weiter und bejubelte die Taliban als antiamerikanische Helden.

Ostturkestan

Ostturkestan ist, wie viele Forscher betonen, „eine eher vage geografische Bezeichnung“ und eng mit politischen, ethnischen und kulturellen Kontroversen verbunden. Der Begriff entstand im 19. Jahrhundert unter russischen Gelehrten und bezog sich auf das Tarim-Becken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Region zum Gegenstand der Rivalitäten zwischen China, Russland und Großbritannien im Rahmen des „Great Game“. In den 1930er und 1940er Jahren gab es dort kurzzeitig zwei verschiedene Staaten namens "Republik Ostturkestan“, bevor die KPCh 1949 in China die Macht übernahm und 1955 das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang gründete.

Dem renommierten Anthropologen Dru Gladney zufolge wurden verschiedene uigurische Organisationen in Xinjiang durch die Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken nach dem Untergang der Sowjetunion ermutigt und hofften, ein unabhängiges Ostturkestan zu bilden. Inzwischen hat China den Begriff verboten und die Vereinigten Staaten und die Vereinten Nationen dazu veranlasst, die Gruppe East Turkestan Islamic Movement (ETIM) im Jahr 2002 als terroristische Organisation einzustufen.

Chinas Haltung zu den Taliban änderte sich erst wenig später wirklich, als das Ministerium für öffentliche Sicherheit Chinas 2002 die erste Liste offiziell anerkannter Terrororganisationen und Terroristen Ostturkestans veröffentlichte. Chinesischen Untersuchungen zufolge erhielten die „Islamische Partei Ostturkestans“ und die „East Turkestan Liberation Organization“ von den Taliban seit den 1990er Jahren bis 2001 Training und Unterstützung. Auf jeden Fall hat China den transnationalen Charakter der Taliban, ihr Bedrohungspotential für die chinesische Regierungsgewalt und das Scheitern einer rein nationalstaatsbasierten Strategie der Terrorabwehr erkannt und konnte so eine Verbindung zwischen einheimischen terroristischen und separatistischen Kräften einerseits und der Situation der Taliban und Afghanistan sowie den größeren Problemen der islamischen Welt andererseits herstellen.

International betreibt China eine aktive „Anti-Terror-Diplomatie“. China schloss sich der internationalen Koalition gegen den Terror an und unterstützte die USA logistisch im Krieg gegen den Terror im Austausch für die Anerkennung der ETIM (East Turkestan Islamic Movement) als terroristische Organisation am Jahrestag der Anschläge des 11. September (die USA annullierte die Anerkennung 2020). Dieser diplomatische Erfolg wurde noch am folgenden Tag von einem Sprecher des Außenministeriums bestätigt. China bildete seinerseits mit fünf Staaten Zentralasiens eine eigene Terrorabwehr (auf Grundlage der damals gerade gegründeten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit [SCO]), der sich außerdem Russland, Ägypten und sogar Indien anschlossen. Obwohl all diese Staaten in Afghanistan konkurrierende Interessen verfolgten und die meisten von ihnen lokale bewaffnete Gruppen in Afghanistan mit unbestreitbaren Bezügen zur gegenwärtigen Situation gefördert hatten, so teilten sie doch eine gemeinsame Forderung und die Hoffnung, dass der Bürgerkrieg in Afghanistan nicht auf ihre Territorien übergreifen und die Taliban keine regierungsfeindlichen bewaffneten Kräfte in die Nachbarstaaten exportieren möge. In Bezug auf den langjährigen Alliierten Pakistan betonte China wiederholt, dass Hilfen nur möglich seien, wenn Pakistan Ostturkestan nicht unterstütze.

 In seiner eigenen Propaganda betont China, dass die Niederschlagung der Ostturkestan-Bewegung und des Separatismus wichtige Elemente der Terrorismusabwehr seien, bezichtigt die USA „doppelter Standards“ und verlangt, dass die „fehlgeleitete Haltung des Westens aus der Zeit des Kalten Krieges, nämlich: ‚was in einem Land als Terrorist bezeichnet wird, ist im andern Land der Freiheitskämpfer‘, aufzugeben sei“. China beharrt auf dem Standpunkt, dass „Terroristen, egal welchen Landes, überall Terroristen seien“, und dass „Terroristen, insbesondere Separatisten und religiöse Extremisten, unter keinen Umständen politisches Asyl und Flüchtlingsstatus beanspruchen dürften, nur um sich der Rechtsdurchsetzung zu entziehen“.

Freund oder Feind?

Es stimmt, dass die USA in ihrer Haltung zu terroristischen Aktionen in anderen Ländern schwankend und ambivalent waren, aber bis in die 1980er Jahre entsprach auch die Propaganda Chinas der vom Westen so geförderten Ideologie des Kalten Krieges: Ähnliche Gewaltakte wurden als terroristisch gebrandmarkt, wenn sie von gegnerischen Staaten ausgingen, aber als legitimer Kampf, wenn sie von den „Brüdern in Asien, Afrika und Lateinamerika“ geführt wurden. So brachte beispielsweise die Volkszeitung im Jahr 1982 während des israelisch-palästinensischen Konflikts einen Artikel mit dem Titel „Wer sind die Terroristen?“. Darin hieß es: „Wenn Begin die Palästinensische Befreiungsorganisation, die für das Überleben der Nation kämpft, als terroristische Organisation bezeichnet, so ist das eine völlige Diffamierung. […] Sie führen einen unnachgiebigen Kampf für die Rückkehr von Millionen ihrer Landsleute, die vertrieben wurden und im Elend leben. Worin besteht das Verbrechen, wenn überhaupt?“ 

In der Berichterstattung zum Terrorismus gewann der Tenor, dass „China vom Terrorismus heimgesucht“ würde, an Dominanz, insbesondere wurden die abscheulichen Angriffe auf chinesische Bürger in Afghanistan aufmerksam verfolgt. Das Medienbild der Taliban wandelte sich vom jungen, unfehlbaren und unschlagbaren Studentensoldaten zum mörderischen Monster mit Maschinenpistole in der linken und einem menschlichen Kopf in der rechten Hand; nach den Unruhen in Urumqi im Juli 2009 verschmolz dieses Bild rasch mit dem Medienbild der ETIM-Mitglieder. Kinder, die als menschliche Bomben rekrutiert wurden, Frauen, die ausgepeitscht und gesteinigt wurden, Männer, die ausgeraubt und gehängt wurden, Ausländer, die gegen Lösegeld entführt wurden – all diese Grausamkeiten kamen ans Tageslicht, und die Frage der Menschenrechte in Afghanistan geriet erneut in den Blickpunkt. Diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen wurden in dichter Folge begangen und bedürfen eigentlich dringend einer Aufarbeitung. Da die Taliban trotz des temporären Verlusts der Kontrolle von ganz Afghanistan schon früh ihre Krallen und Zähne gezeigt haben, ist ein Gerichtsverfahren eigentlich längst überfällig.

In den Medien von Festlandchina gab es die verbreitete Meinung, dass „der Terrorismus der Stein sei, den sich die USA auf die eigenen Füße hatten fallen lassen“, und das Wiederaufleben des Terrorismus mit den USA verknüpft wurde. Diese überspitzte Kritik wurde auch von offiziellen Medien gestützt (siehe den 2005 erschienenen Kommentar „Wer ist der Lehrmeister des ‚Terrorismus‘?“ in Study Times, der Zeitung der Zentralen Parteihochschule) setzte sich insbesondere unter Militärfans und Beobachtern internationaler Beziehungen durch. So sehr die Kritik auch zutreffen mag, die ganze Wahrheit ist sie nicht. Ungeachtet jahrzehntelanger Aufrufe, sich nicht länger in Afghanistan einzumischen, hat sich zumindest kein Nachbar Afghanistans unmittelbar in Afghanistans inneren Angelegenheiten engagiert.

Pikanterweise haben weder die Vereinigten Staaten noch China die Taliban in ihre jeweiligen Listen von Terrororganisationen aufgenommen, obwohl die Taliban nicht nur die Interessen beider Staaten bedrohen, sondern auch den jeweiligen nationalen Definitionen von Terrorismus genügen (siehe die chinesische Definition, veröffentlicht vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit Chinas, und die US-Definition nach dem United States Code) Auf amerikanischer Seite ist dies hauptsächlich der engen Fokussierung auf die offensichtlich antiamerikanische Al-Qaida zuzuschreiben, im Gegensatz zu den Taliban, von denen die Annahme bestand, dass sie einen Staat errichten wollten. Solange die Taliban Mitglieder von Al-Qaida übergaben, schien die Lage in Afghanistan der Aufmerksamkeit nicht wert, zumal ja die Sowjetunion bereits vor langem zerfallen war. Andererseits verbietet das US-Recht, dass Regierungen mit Terrororganisationen verhandeln; um Verhandlungen zu ermöglichen, wurden die Taliban nicht in die Liste der Terrororganisationen aufgenommen.

 

Bis zum Mai folgte die öffentliche Meinung auf dem Festland der seit 2002 etablierten und populären Anti-Terror-Haltung, nach der die Taliban als Terroristen galten. In der aktuellen aufgeheizten antiamerikanischen Stimmung behaupten mehr und mehr Nutzer der sozialen Medien offen, dass die Taliban die wahren Repräsentanten des afghanischen Volkes und Freunde Chinas seien.

 

China hingegen hat deutlich gemacht, dass es nur gegen China agierende Terrorgruppen als solche anerkennt. Mit der Zunahme des Außenhandelsvolumens Chinas im 21. Jahrhundert und der Belt and Road Initiative wachsen Chinas Interessen in Afghanistan allmählich über reine Terrorabwehr und Sicherheit hinaus, so dass die Möglichkeit einer Kooperation mit den Taliban nicht von der Hand zu weisen ist. Verschiedenen Statistiken zufolge ist China der größte Geber und Investor in Afghanistan mit Hilfszusagen über US $ 150 Millionen über fünf Jahre im Jahr 2002. Chinesische Unternehmen haben 2008 und 2011 in Aynak, die zweitgrößte Kupfermine der Welt, und die Erschließung des Amudarja-Ölfeldes investiert, darüber hinaus in geringem Umfang auch in Infrastruktur. 2018 ermöglichte China die Gründung der China-Afghanistan Economic Community (CAEC), einer Plattform für die privatwirtschaftliche Zusammenarbeit und den Handel von Rohstoffen und Erzeugnissen.

Bisher hat allerdings das Chaos in Afghanistan jedes weitere Nachschießen von Kapital seitens der chinesischen Regierung und chinesischer Unternehmen vereitelt. Angesichts der zunehmenden Fälle von Ermordungen und Entführungen chinesischer Projektmitarbeiter bedroht dieses Chaos die Sicherheit bestehender Projekte massiv und sorgt für endlose Verzögerungen beim laufenden Kupferprojekt. China und die legitime Regierung Afghanistans haben darüber zahlreiche Gespräche geführt, wobei das Kooperationsmodell zwischen China und Pakistan als Vorlage dienen sollte, aber wegen der Sicherheitsbedrohungen und der Zerstörung der Infrastruktur sind alle Arbeiten zum völligen Stillstand gekommen.

Angesichts der reichen Rohstoffvorkommen Afghanistans – insbesondere Kupfer, Kohle, Erdgas, Blei und Quecksilber – hat China nachvollziehbar hohe Erwartungen an ein stabileres Investitionsumfeld und freien Güterverkehr im Lande. Unter den Warlords konnte Afghanistan weder Stabilität noch freien Verkehr sicherstellen; nach dem Verlust der Unterstützung durch die US-Streitkräfte war die afghanische Regierung gleichermaßen unfähig, dies zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel und klug, dass China sich mit den Taliban einlässt. Die Taliban hatten bereits im August 2021 weite Teile Afghanistans besetzt, und frühe Kontakte mit den Taliban sollten sicherstellen, dass die neue Regierung China nicht allzu feindlich gesonnen sein sollte. Offizielle Medien des Festlandes wiederholten eins ums andere Mal: Die Taliban Afghanistans lassen sich nicht mit den Taliban Pakistans vergleichen, da sie im Gegensatz zu den letzteren keine Terrororganisation sind. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die Taliban Afghanistans kein Interesse am Export ihres Regimes über die Grenzen Afghanistans hinaus haben, während die Taliban Pakistans die Errichtung einer transnationalen islamischen Herrschaft anstreben, was nicht nur Pakistan als strategischen Partner Chinas bedroht sondern auch China selbst.

Um die beträchtliche Wandlung in den Beziehungen und der Propaganda zwischen China und den Taliban verstehen zu können, muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Terrorismus“ trotz seiner scheinbar einmütigen globalen Ablehnung je nach Land andere Konnotationen aufweist. Wer als Terrororganisation gebrandmarkt wird, richtet sich in der Praxis nicht danach, ob diese Organisation nichtmilitärische Ziele angreift, sondern ob diese Organisation Freund oder Feind ist.

Seit Mai haben Chinas Internetnutzer einige interessante Kommentare verfasst. Bis zum Mai folgte die öffentliche Meinung auf dem Festland der seit 2002 etablierten und populären Anti-Terror-Haltung, nach der die Taliban als Terroristen galten. In der aktuellen aufgeheizten antiamerikanischen Stimmung behaupten mehr und mehr Nutzer der sozialen Medien offen, dass die Taliban die wahren Repräsentanten des afghanischen Volkes und Freunde Chinas seien. Diese Kommentare reflektieren zwar völlig die öffentliche Haltung der Taliban gegenüber China wie auch die Behauptung des Außenministeriums, dass die Taliban Afghanistans im Gegensatz zu den Taliban Pakistans keine Terrororganisation seien. Die wirkliche Haltung der Taliban gegenüber chinesischen Bürgern scheint die Bildung dieser öffentlichen Meinung jedenfalls nicht beeinflusst zu haben.

Eine doppelte Ironie: die bittere Frucht des selbst zugefügten Schadens

Angesichts des raschen Zusammenbruchs der Lage in Afghanistan ist China unsicher bezüglich seiner nächsten Schritte. Am 6. August 2021, neun Tage nach dem Treffen mit der Taliban-Führung, traf Cheng Guoping, Beauftragter für auswärtige Sicherheitsangelegenheiten des chinesischen Außenministeriums, mit dem Botschafter der legitimen Regierung Afghanistans zusammen, um sich über „Zusammenarbeit bei Sicherheit und Terrorabwehr“ auszutauschen. Anschließend gab es keine weiteren amtlichen Verlautbarungen Chinas zur Situation Afghanistans bis zum Einmarsch der Taliban in Kabul. Nicht nur China, auch andere Länder äußerten sich ambivalent. Nachdem die Taliban versichert hatten, dass sie sich „nicht in den fünf Ländern Zentralasiens einmischen würden“, erklärte Russland im Juli, dass es beabsichtige, „die Beziehungen zu den Taliban zu verbessern“. Russland verlegte jedoch gleichzeitig vier Bomber in die Grenzregion und veranstaltete gemeinsam mit China eine großangelegte militärische Übung, die auch als Machtdemonstration gedacht war. Als auch die iranische Regierung erkannte, dass die Taliban, die sie bis dahin entschieden bekämpft hatte, die politische Macht ergreifen könnten, änderte sie ihre Haltung und unterstützte Friedensgespräche zwischen der Regierung Afghanistans und den Taliban. Gleichzeitig verbreitete sie, dass die Taliban „schiitischen Muslimen kein Leid zufügen würden“. Die USA verlegten die Bomber, die bereits abgezogen worden waren, zurück, um jederzeit umfangreiche Luftschläge vornehmen zu können.

Der historische Rückblick zeigt uns, dass dieses hochnotpeinliche Zaudern und Lavieren seit Gründung der Taliban ein Dauerzustand ist, das umso zynischer anmutet, je klarer sich mit dem Zuwachs ihrer Macht die wahre Natur der Taliban offenbart.

In der Vergangenheit bildete einzelstaatliche Afghanistanpolitik die Sicherheitsinteressen des jeweiligen Nationalstaates ab. In ihrer Gesamtheit war die Struktur dieser Interessen sowohl ein Produkt der Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion während des Kalten Krieges als auch eine Fortsetzung der „Freund-Feind-Logik“ des Kalten Krieges und der aus ihm hervorgegangenen Weltordnung, die von mächtigen Nationalstaaten dominiert wurde. Die Vereinigten Staaten unterstützten die Taliban, um die UdSSR einzudämmen; China tolerierte die Taliban anfänglich zur Abschreckung der Sowjetunion, verfolgte diese Politik aber später als Gegengewicht gegen die Stärke der USA; Saudi-Arabien unterstützte die Taliban, um den USA gefällig zu sein und sich dem  Iran entgegenzustellen; Pakistan schließlich half den Taliban, um Indien in Schach zu halten. Die Geschichte dieser Beziehungen macht es überdeutlich, dass die gegenwärtige internationale Politik der Logik folgt, dass „du mein Feind bist, wenn du nicht mein Freund bist, wobei es weder dauernde Freundschaft noch Feindschaft, sondern nur dauernde Interessen gibt“.

Nichtsdestotrotz sind diese Länder ins Feuer der Taliban und anderer von ihnen geförderten Organisationen geraten. Am schlimmsten traf es Pakistan, das Land, das den Taliban in Afghanistan die großzügigste Hilfe gewährte. Nicht nur die frühere Premierministerin Pakistans, Benazir Bhutto,  wurde ermordet, auch zahlreiche andere führende Regierungsmitglieder fielen Attentaten zum Opfer.

Heute folgen viele Länder erneut der Freund-Feind-Logik, um ihre Beziehungen mit den Taliban neu auszurichten, aber im Vergleich zu vor 30 Jahren hat die Unsicherheit dramatisch zugenommen. Auch wenn das Ziel der Taliban die Errichtung eines islamischen Staates ist, so bringt dieses Ideal, das seinerseits ein Überbleibsel des Nationalismus in West- und Zentralasien nach dem I. Weltkrieg ist, keine Nationalstaaten hervor, sondern nur wachsende Unsicherheit. Die Taliban Afghanistans und ähnliche Organisationen (allen voran die Tehrik-i-Taliban Pakistan und ISIS) verfügen über keinerlei nationalstaatliche Grundlagen, sondern agieren allein in grenzübergreifenden Einheiten von Ethnien, religiösem Glauben und Stämmen. Es gibt keine stabilen Wirtschaftsinteressen, keine auswärtigen Beziehungen, kein Staatsvolk, keinerlei soziale Verantwortung (und auch keine entsprechenden Lasten), und keinerlei Grenzen mit Nationalstaaten. Zerschlägt man diese Organisationen mit eiserner Faust, zerfallen sie in Splitter und ziehen sich in Nachbarstaaten zurück. Weder verfügen sie über einen Körper, der bekämpft oder bedroht werden kann, noch können sie das von allen Ländern gewünschte „Afghanistan“ ersetzen oder in das System der Nationalstaaten integriert werden.

Aus diesem Grund ist die Lage in Afghanistan nur eine „kreative“ Kopie des im 20. und 21. Jahrhundert verbreiteten diplomatischen Narrativs, wonach man sich im Umgang mit nicht-nationalstaatlichen Akteuren die „Steine auf die eigenen Füße fallen lässt.“ Die Logik des Nationalstaates wird herausgefordert, gerät aber nicht ins Wanken. Stattdessen fordern terroristische Vereinigungen und andere transnationale Kräfte den Nationalstaat heraus, werden aber gleichzeitig zu Schachfiguren im Spiel der Nationalstaaten. Nur allzu oft sieht man, wie Nationalstaaten die Macht nichtstaatlicher Akteure ausnutzen, um sich gegenseitig zu schwächen, während die nichtstaatlichen Akteure von der Rivalität der Nationalstaaten profitieren, um ihre eigene Machtposition zu verbessern, ganz im Sinne der Redensart: „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“. In den Augen vieler Salonstrategen hat dieses Spiel durchaus seinen Reiz und seine Logik. Im finsteren Irrgarten Afghanistans ist das Spiel der Großmächte so ungerecht wie Rashomon.

 

Die grausame Realität ist, dass man aus der Perspektive von Nationalstaaten nur Nationalstaaten sieht. Wie viele Nationen sich auch um Afghanistan sorgen, so sorgt sich doch kein Land um die Afghanen. Erst im Rahmen der Souveränität werden die anderen Ebenen, von transnationalen terroristischen Organisationen bis hin zu gewöhnlichen ethnischen Gruppen, Vereinigungen und Einzelpersonen, sichtbar und bekommen eine Bedeutung verliehen.

 

Wenn es schon ironisch ist, dass die Regeln des nationalstaatlichen Spiels von Nicht-Nationalstaaten in Frage gestellt werden, so sind die Versuche der Nationalstaaten, Nicht-Nationalstaaten in die Regeln ihrer eigenen Großmachtspiele einzubinden, von einer noch schmerzhafteren Ironie begleitet: Der Nationalstaat wird zur einzigen Einheit in der politischen Vorstellungskraft, das Interesse des Nationalstaates zum einzigen Kriterium im Spiel, und Nicht-Nationalstaaten haben nur dann instrumentellen Wert, wenn sie die Macht eines Nationalstaates schwächen oder stärken können. Jede andere Einheit außerhalb oder unterhalb des Nationalstaates wird weder in ihrem Verhalten beurteilt noch werden ihre Forderungen zur Kenntnis genommen.

Auf die Frage, die jüngst im chinesischen Online-Forum Zhihu gestellt wurde: „Warum werden die Taliban von der öffentlichen Meinung in den online-Medien tendenziell unterstützt?“ gab es eine Antwort, die den dramatischen Bruch im Denken verdeutlicht: „Viele Chinesen hassen den Terrorismus und hassen die Vereinigten Staaten, lieben aber den Terrorismus, der sich gegen die Vereinigten Staaten richtet“.

Gleichzeitig herrscht in den Vereinigten Staaten die Ansicht vor, dass es klüger sei, sich aus Afghanistan zurückzuziehen und stattdessen die Kräfte auf Taiwan zu konzentrieren, um China einzuhegen. Stellvertretend sei hier der Titel eines Bloomberg-Kommentars genannt: „Ein Rückzug aus Afghanistan ist keine Katastrophe (außer für die Afghanen). Taiwan aufzugeben wäre ein gewaltiger Fehler“. Afghanistan steht im Zentrum der Geschehnisse, aber die Afghanen erscheinen nur in Klammern.

Was dürfen die Afghanen erwarten? Obwohl alle beteiligten Länder behaupten, dass man das nicht genau sagen könne, gaben die Taliban bereits vor 2001 eine eindeutige Antwort. In der Tat haben die Taliban gesagt, dass „Frauen zur Schule gehen und arbeiten dürften“, aber solche mündlichen Zusicherungen gab es schon in den 1990er Jahren viele. Jedes Mal wurden diese Zusicherungen unter Verweis auf die „fehlende Infrastruktur, um die Sicherheit der Frauen zu gewährleisten“ zurückgenommen.

Noch prekärer ist die Situation für 60% der afghanischen Bevölkerung, die nicht den Paschtunen angehört, insbesondere den schiitischen Muslimen, die wenigstens 10% der Bevölkerung ausmachen. Nach nicht abgeschlossenen Statistiken des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sind seit Beginn der Taliban-Offensive Ende Mai bereits 2,5 Millionen Afghanen vertrieben worden, und 80% der Vertriebenen sind Frauen und Kinder. Diese Zahl steigt weiter dramatisch an. Durch die Kriegswirren ist die Landwirtschaft fast völlig zum Erliegen gekommen, und derzeit leidet die Hälfte der Kinder in Afghanistan an schwerer Unterernährung. Die Tragödie nimmt kein Ende. Während ihrer letzten Herrschaft haben die Taliban in besetzten Städten immer wieder Zivilisten massakriert. Jetzt scheinen sie zwar mehr auf ihr internationales Image bedacht, aber trotzdem gibt es schon wieder zahlreiche Berichte von Bombenanschlägen auf Afghanen, die mit der Regierung kooperieren, schiitische Muslims und Schulmädchen.

Die Taliban unternehmen nichts, um zivile Opfer in Gefechten zu vermeiden, und es ist unmöglich, die genaue Zahl der Menschen zu ermitteln, die auf den Straßen gestorben sind. Viele Afghanen appellieren über die Medien an die internationale Gemeinschaft, um auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen, die sich in Afghanistan entwickelt. Die Vereinten Nationen fordern alle Staaten auf, Druck auf die Taliban auszuüben und ihre Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. In Erwartung der kommenden Flüchtlingswellen haben allerdings Länder wie Österreich, Deutschland, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Griechenland begonnen, ihre Einwanderungspolitik zu verschärfen, und teilweise sogar schon afghanische Flüchtlinge ausgewiesen, die bereits eingereist waren.

Die grausame Realität ist, dass man aus der Perspektive von Nationalstaaten nur Nationalstaaten sieht. Wie viele Nationen sich auch um Afghanistan sorgen, so sorgt sich doch kein Land um die Afghanen.

Erst im Rahmen der Souveränität werden die anderen Ebenen, von transnationalen terroristischen Organisationen bis hin zu gewöhnlichen ethnischen Gruppen, Vereinigungen und Einzelpersonen, sichtbar und bekommen eine Bedeutung verliehen. Der Nationalstaat ist im Grunde das einzige politische Subjekt, das Truppen entsenden kann, um in anderen Ländern zu intervenieren und seine eigenen Rechte mutig zu verteidigen, aber er hat auch die Tugend, sich aus Respekt vor der politischen Souveränität des anderen nicht einzumischen, und er ist klug genug, Spielregeln nicht zu brechen. Diese Tapferkeit, Tugend und Besonnenheit kann es nur zwischen Nationalstaaten geben, während der Einzelne von diesen Werten nicht tangiert wird. Individuen sind nur als Teil der Bevölkerung, des Eigentums und der Produktivität schützenswert, aber auch Gegenstand vorsätzlicher Schädigung und Manipulation, weil sie Eigentum des Nationalstaates sind.

 

Der Extremfall der Taliban zeigt die Abwesenheit von Menschen in der internationalen Politik auf höchst zynische und katastrophale Weise, und tatsächlich ist im Kampf um einen personifizierten Staat die Abwesenheit von menschlichen Erwägungen in jedem Moment des Spiels der Großmächte sichtbar.

 

Die einfachen Leute Afghanistans gehören erkennbar momentan keinem Land an. Während die meisten Herrscher der letzten hundert Jahre wie die Taliban das Land ausgeplündert und rücksichtslos besetzt haben, können die Menschen nie auf die Struktur eines souveränen Nationalstaates bauen, sind nie Teil einer produktiven Bevölkerung oder politisch mündige Bürger, und sind daher fast nie wichtig oder sichtbar genug, um für aus- und inländische Mächte nützlich zu sein. Den Warlords, den Sowjets und den US-Truppen sind die einfachen Afghanen herzlich egal, solange sie keine Waffen tragen. Noch schlimmer sind die Taliban. Lebensmittel werden täglich geraubt, Angriffe auf nichtmilitärische Ziele finden auch täglich statt, und das nur, weil die Menschen nicht die Bevölkerung der Taliban, nicht die Bevölkerung der Vereinigten Staaten und auch nicht die Bevölkerung Chinas sind. Sie sind einfach niemandes Bevölkerung.

Wie dynamisch die Lageentwicklung in Afghanistan auch sein mag, egal wie hitzig das Gedränge auf der politischen Bühne („Dein Abgang ist mein Auftritt“) ist, letzten Endes ist im Ringen der Giganten kein Platz für gewöhnliche Menschen, sondern nur für personifizierte Länder wie die Vereinigten Staaten, China, Pakistan und Russland mit ihren recht schlichten temporären Interessen. Der Zweck dieser nationalen Personifizierung ist es gerade, bestimmte Menschen und ihre Interessen auszulöschen, die sich nicht in die Politik der Großmächte einsortieren lassen. Selbst in einer globalisierten Wirtschaft ist das Leben dieser Menschen zu unbedeutend für das verwirrende Geflecht von Feindschaften und Allianzen.

Der Extremfall der Taliban zeigt die Abwesenheit von Menschen in der internationalen Politik auf höchst zynische und katastrophale Weise, und tatsächlich ist im Kampf um einen personifizierten Staat die Abwesenheit von menschlichen Erwägungen in jedem Moment des Spiels der Großmächte sichtbar. Wenn wir über internationale Politik sprechen und die Erfolge und Misserfolge Chinas und der Vereinigten Staaten in den Stürmen Afghanistans bewerten, müssen wir uns immer wieder vor Augen führen: Welche Rolle spielen China, die Vereinigten Staaten, Russland und vor allem das afghanische Volk? Welche Vorteile haben sie in diesem Spiel der Großmächte? Wie werden sie in Zukunft betroffen sein? Worin besteht der wesentliche Unterschied, Teil der Bevölkerung eines souveränen Staates zu sein, oder aus der souveränen Welt vertriebener Afghane zu sein?

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf der Webseite Echowall - sowie im chinesischen Original auf The Initium".