Bürgerrechtskämpfe von Migrant*innen und die Transnationalisierung linker Politik vor dem Mauerfall

Hintergrund

Die 1980er Jahre als Schauplatz rechter Gewalt, institutionellen Rassismus und antirassistischer Kämpfe sind im Erinnerungsdiskurs kaum präsent. Doch ihre Mikrogeschichten sind wichtig für heutige Auseinandersetzungen.

Landesarchiv Berlin, B Rep. 002 14979
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Kommunikation in Westberlin, 1980: Eın Telegramm von höchster Aktualität.

Das 60-jährige Jubiläum zum Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland steht in diesem Jahr in einem neuen Licht der Erinnerungspraxis. Die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Festakt bietet wichtige Erkenntnisse um Versäumnisse und Fehler der deutschen Migrationspolitik. Ein historisierendes Gedenken droht allerdings im Hier und Jetzt mit der gerade erst begonnen Aufarbeitung der kritischen Geschichtsschreibung der Migration abzuschließen. So würde einerseits den „Gastarbeiter*innen“ ein Gedenken gewidmet und ihre Geschichte andererseits haarscharf von der Gegenwart der Migrationsgesellschaft in Deutschland getrennt werden. So wie die NSU-Akten sprichwörtlich abgeschlossen und weggeschlossen wurden, droht die von der Zivilgesellschaft und den Kindern und Enkeln von „Gastarbeiter*innen“ in ihren antirassistischen Kämpfen eingeforderte Aufarbeitung des institutionellen und strukturellen Rassismus und der rassistischen Gewalt vor dem Mauerfall abgeschlossen zu werden.[1] Die Intensität antirassistischer Proteste hat nach dem rechtsterroristischen Attentat in Hanau 2020 zugenommen. Wir erleben derzeit eine wichtige Phase der Verbindung von globalen migrationspolitischen und menschenrechtlichen politischen Inhalten mit lokalen Perspektiven des Antifaschismus und Antirassismus. Und diese Verbindung hat selbst eine Geschichte, die erinnert werden will.

Die vergessenen 80er Jahre

Im Januar 1980 wurde der türkeistämmige, sozialistische Gewerkschafter Celalettin Kesim in Kreuzberg von einem türkeistämmigen Faschisten erstochen. Für ihn steht zwar ein Denkmal am Kottbusser Tor, doch selten wird die Mikrogeschichte des politischen Mordes in Bezug auf die politischen Auseinandersetzungen über die Abschottungspolitik gegenüber Gastarbeiter*innen in der Kohl-Ära und dem tief verwurzelten institutionellen Rassismus gelesen.[2]

Landesarchiv Berlin, B Rep. 00214979
Politische Gewalt im Alltag: Die Täter begingen weitere Anschläge.(Hier klicken zum vergrößern).

Celalettin Kesim arbeitete als Lehrer in Berlin. Als er ermordet wurde, war er 36, seine Frau gerade schwanger und sein Sohn sieben Jahre alt. Die Tagespresse titelte einen Tag nach dem Mord an Kesim reißerisch: „Schwere Auseinandersetzungen zwischen Türken in Berlin“ und schrieb zum Übergriff, nach Angaben des stellvertretenden Leiters der Staatsschutzabteilung hätten etwa zwanzig Mitglieder des Arbeitervereins am Kottbusser Tor Flugblätter verteilt, in denen sie zu einer Demonstration vor dem türkischen Generalkonsulat zum Protest gegen eine Intervention des Militärs in die türkische Politik aufriefen. „Wie türkische Zeugen dem Staatsschutz berichteten, seien während der Flugblatt-Verteilung etwa 50 Türken aufgetaucht, die aus einer nahegelegenen Moschee in der Skalitzer Straße 35 gekommen seien.“[3] Nur wenige Tage später, am 8. Januar schrieb die Föderation progressiver Volksvereine der Türkei in Europa aus Hamburg in ihrer Presseerklärung, dass Islamisten und Faschisten der Grauen Wölfe[4] die Flugblattverteiler*innen gut vorbereitet mit Latten, Schlagringen und Eisenstangen überfallen hätten. Celalettin Kesim brach, von einem Messerstich getroffen, zusammen und verblutete. Die Föderation kritisierte die abwartende, passive Haltung des Berliner Senats, die sie als Ermutigung der türkisch-nationalistischen Faschisten bezeichnete, und fragte: „Wann wird endlich etwas gegen die Mordbanden unternommen?“[5] Demokratische Parteien wie die SPD und die Alternative Liste, die IGM und Studierende der TU unterstützten die Kritik der türkischen Antifaschist*innen. Die Gewalt sei nur möglich gewesen, weil Bedrohungen und Schikanen von den deutschen Behörden in den vorherigen Jahren aktiv geduldet wurden. Sie verurteilten, dass der faschistische Überfall zu einer „Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Türken“ heruntergespielt wurde, und forderten ein Verbot faschistischer Organisationen wie der Grauen Wölfe. [6]

Die rivalisierende Bande als unpolitischer Einzeltäter

Landesarchiv Berlin, B Rep. 00214980
Die Gedenkfeier für den Ermordeten fand in der Neuen Welt statt.(Hier klicken zum vergrößern).

Stattdessen versuchte die Politik, eine asylpolitische Debatte fortzuführen, die Mörder und Opfer auf eine Stufe stellte, Verschärfungen des Ausländerrechts forderte und sich kaum für die politischen Hintergründe interessierte. In den Diskursen dominierte vor allem die Angst vor der Politisierung von „Gastarbeiter*innen“, gleichzeitig aber wurde die Interpretation vorangetrieben, es seien rivalisierende kriminelle Migrant*innen umtriebig. Die Welt sprach vom „Bruderkrieg“ und die Bild vom „Türken-Krieg“.[7] Der Berliner Anzeiger titelte  „Gefahr für den Frieden in Berlin“ und brachte die Kernaussage der gesellschaftlichen Ängste nach dem Mord deutlich zum Ausdruck:

„Die schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen, die die Türken seit Monaten erschüttern, greifen in letzter Zeit immer stärker auch auf unsere Stadt über. (…) Mit seinen rund 100.000 Türken [ist] West-Berlin sozusagen eine der größten türkischen Städte. Die Versuchung für rechts-  und linksgerichtete Extremisten ist darum groß, ihre Aktivitäten ohne Rücksicht auf ihr Gastland auch auf unsere Stadt auszudehnen. (…) Gefährdet wird dadurch in erster Linie die große Mehrheit türkischer Gastarbeiter, die hier in Ruhe leben und arbeiten will. Doch wenn man sie durch passiven Druck zur Parteiname zwingt, ist eine andere Gefahr nicht weit: dass dieser Dampf in Arbeitsstätten und sogar Schulen hineingetragen wird – womit auch wir betroffen wären.“[8]

Schluss mit Gastrecht

Der Berliner Innensenator selbst warnte die „Türken“, das Gastrecht werde missbraucht. Die Polizei sei angewiesen, jeden Ausländer, der mit einer Waffe angetroffen werde – dazu gehörten auch Messer und Schlagwerkzeug jeder Art – festzunehmen. „Die ausländerrechtlichen Maßnahmen könnten bis zur Abschiebung reichen“, hieß es in seiner Erklärung[9]. Eine Schnellmaßnahme war es, die Polizeipräsenz in den Wohngebieten der Migrant*innen zu erhöhen, wie etwa auf dem „Türkenmarkt“ in Berlin-Kreuzberg, um „verfeindete“ Gruppen auf diese Weise abzuschrecken. Der rechtsextreme Hintergrund der Mörder wurde damit unsichtbar gemacht.

Zur gleichen Zeit begannen in vielen Städten des Ruhrgebiets die NPD-Bürgerinitiativen zum „Ausländerstopp“. 15 Professoren unterzeichneten das Heidelberger Manifest, einen Brandbrief rechter Ideologen. Die extreme Rechte befand sich in einem Generationenwechsel und mordete im Westdeutschland der 1980er Jahre unterhalb der politischen und medialen Aufmerksamkeitsschwelle. Dutzende Tote werden nur von 1980 bis zum Mauerfall gezählt. Auf parlamentarischer Ebene spiegelte sich die gesellschaftliche Hetze und Abschottung mit dem Wechsel zur schwarz-gelben Bundesregierung unter Helmut Kohl 1983 im Bestreben nach der Manifestierung des Anwerbestopps, der Abschottung, der Einschränkungen beim Familiennachzug und vor allem der Rückkehrpolitik, die auch „Hau-Ab-Prämie“ genannt wurde und 1983 als Paradebeispiel der geistig-moralischen Wende unter Kohl verabschiedet wurde. Nach der Verjährung britischer Geheimdokumente wissen wir nun aus den Akten, dass es offenbar Kohls Pläne waren, "jeden zweiten Türken loszuwerden“ und zwar aufgrund der Andersartigkeit ihrer Kultur.

Aufarbeitung verlangt Veränderung

Diese massive rechtliche Einschränkung des Asylrechts und die innenpolitische Abschottung vor Migration stellte politisch verfolgte Asylsuchende institutionell unter den Generalverdacht des Asylmissbrauchs. Progressive Migrant*innen haben in den 1980er Jahren mit ihren antifaschistischen, sozialen und politischen Kämpfen in der Diaspora die lokale progressive Politik mit ihren eigenen internationalen Themen zur Transnationalisierung politischer Inhalte herausgefordert. Die eigenen Lebensbedingungen als Geflüchtete und Migrant*innen wurden dabei mehr und mehr in eine Kritik der Asyl- und Ausländerpolitik der Ära Kohl überführt. Die 1980er Jahre stellen eine kaum erinnerte Phase der Kämpfe um gleiche soziale Rechte, asylpolitische Bleibeperspektiven, politische Teilhabe (besonders das Wahlrecht), Antifaschismus und Antirassismus dar. Diese Geschichte zu erinnern und anzueignen ist Teil einer vielstimmigen Erinnerungskultur, in der die Perspektive, die Stimmen und politischen Auseinandersetzungen von Migrant*innen eine wichtige Rolle spielen.[10] Ebenso gilt es  Celalettin Kesim zu gedenken.[11]

Die 1980er Jahre erscheinen so als ein Jahrzehnt vor dem Mauerfall in der Bonner Republik, das nicht friedlich war, sondern in dem versucht wurde, die Phase der Arbeitsmigrationsrekrutierung zwischen 1955 und 1973 rückgängig zu machen. Hier sollte verdrängt werden, was nicht mehr zu verdrängen war, weil die Gesellschaft schon lange migrantisch war und es auch bleiben würde. Einwanderung war Teil von Westdeutschland, aber anstatt rechte Diskurse zu bekämpfen, wurde weiterhin auf eine restriktive Abschottungspolitik gesetzt. Erinnern bedeutet Auseinandersetzung. Aufarbeitung verlangt Veränderung.

 

 

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unsere Büros in Istanbul.

 


[1] Vgl. zur Aufarbeitung des Mauerfalls aus der Perspektive von Migrant*innen und Jüd*innen: Lierkes/Perinelli (2020) Erinnern Stören. Vebrecher Verlag: Berlin.

[2Vgl. Deniz Yücel (2015): „Zur Erinnerung an Celalettin Kesim“, in: TAZ v. 21.1.2015.

[3] Tagespresse vom 6.1.1980, in: LA Berlin, B. Rep. 002. Nr. 14980.

[4Die ersten Verbotsanträge gegen die „Grauen Wölfe“, wurden Ende der 1970er Jahre gestellt. Bis heute gibt es ein derartiges Verbot nicht, obwohl 2020 ein aktueller fraktionsübergreifender Antrag des Bundestags gestellt wurde. Vgl. zur historischen Organisierungsstruktur und insbesondere Verbindungen zu deutschen Politikern und zur Verflechtung zwischen den Grauen Wölfen und dem türkischen Geheimdienst in Deutschland: Fikret Aslan/Kemal Bozay (2012): Graue Wölfe heulen wieder. Münster: Unrast Verlag: S. 183-190+197-199.

[5] Brief der Föderation progressiver Volksvereine der Türkei in Europa an Senatskanzlei, in: LA Berlin, a.a.O.

[6] Vgl. exemplarisch Schreiben der IG Metall im DGB-Berlin an Senatskanzlei Berlin, in: LA Berlin, B Rep. 002. Nr. 14980.

[7WELT, 7.1.1980: „Polizei: Der „Türken-Krieg“ kann noch härter werden“, in: Landearchiv Berlin, a.a.O.

[8Berliner Anzeiger (ohne Datum) „Gefahr für den Frieden in Berlin“, in: Landearchiv Berlin, a.a.O.

[9] Vgl. FAZ vom 8.1.1980: „Berliner Innensenator warnt die Türken. Das Gastrecht darf nicht mißbraucht werden“, in:  LA Berlin, B Rep. 002, Nr. 14980.

[10Vgl. Bermani/Bologna/Mantelli (1997): Proletarier der ' Achse' - Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeit in NS-Deutschland 1937 – 1943. De Gruyter: Berlin.

[11Alphonse Kahn (1984); in: FIDEF (Hg.): Internationale Konferenz. Gegen die Diskriminierung von Ausländer[n] für volle Gleichberechtigung. Düsseldorf (Eigendruck). In:  International Institut for Social History, Amsterdam, IISG 2000/5557. S.: 88f.