Die Enkel:innengeneration: „Ich will Zazaki lernen!“

Hintergrund

Wie transnational und transkulturell Migrationsgeschichten sein können, zeigt ein Blick auf die junge Generation, die sich von nationalstaatlichen Zuschreibungen befreit und lange diskriminiertes, kulturelles Erbe wiederentdeckt.

Titelblatt der kauderzanca Zeitschrift
Teaser Bild Untertitel
Karikatur von Hayati Boyacioğlu auf dem Titelblatt der kauderzanca Zeitschrift für Interkultur, Jugend und Politik vom Sommer 1995.

In diesem Artikel soll es aus Perspektive der Enkelin Rüya[1] um ihren Umgang mit Zugehörigkeit, Partizipation und Repräsentation, und um die Migrationsgeschichten ihrer transnational und transkulturell divers verflochtenen Familien gehen. Dabei beziehe ich mich auf meine ethnographische Langzeitstudie zu Identitätsprozessen, Diskriminierungserfahrungen und Empowerment-Strategien bei mehrgenerationellen Arbeitsmigrationsfamilien.

Mittlerweile volljährig, hat auch Rüya an den jüngsten Wahlen in Deutschland erstmals mit ihren Stimmen aktiv teilgenommen. Ihre Großeltern durften hingegen nicht mitwählen, wie rund 10 Millionen andere Menschen in Deutschland ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Wenige Jahre nach dem Mauerbau kamen die Eltern ihrer Mutter als sogenannte Gastarbeiter:innen aus der Türkei in den Westen, in die damalige Bundesrepublik Deutschland (BRD), die Eltern ihres Vaters hingegen als politische Geflüchtete aus Griechenland in die damalige Deutsche Demokratische Republik (DDR).

Während Rüyas Mutter noch in einem Dorf in der Türkei zur Welt kam, wurden ihr Vater in der DDR, ihr Onkel mütterlicherseits in der BRD und sie selbst wie ihr Bruder und ihre Cousin:en nach dem Mauerfall und der Wende im vereinigten Deutschland in Städten geboren.

Titelblatt der kauderzanca Zeitschrift
Titelblatt der kauderzanca Zeitschrift für Interkultur, Jugend und Politik vom Sommer 1995. Der Autor, Halil Can, war einer ihrer Mitbegründer.

Als vor etwa 20 Jahren Rüyas Großeltern nach einem langen und beschwerlichen Arbeitsleben in den Ruhestand traten, begann für sie eine neue Lebensphase, die des transnationalen Pendelns zwischen Herkunfts- und Einwanderungsländern, in dem einen Fall zwischen Deutschland und der Türkei und im anderen zwischen Deutschland und Griechenland. Dieses grenzüberschreitende Unterwegssein und Residieren an verschiedenen Orten als neue Lebenspraxis dauerte bei Rüyas Großeltern väterlicherseits so lange an, bis der Großvater schwer erkrankte und verstarb. Die Großmutter wurde pflegebedürftig. Nun liegt der Großvater auf dem griechischen Friedhof in Neustadt[2] begraben. Für beide Familienhälften wurde Neustadt, eine historisch schon immer kosmopolitische Migrationsgroßstadt im Wandel zwischen West und Ost in der Mitte Europas, unverhofft über die Generationen hinweg zu einem familiären Zuhause und die beiden Familien mit ihren Kindern und Enkelkindern zu Grenzgänger:innen und  Brückenbauer:innen, trotz aller nationalen, ethnisch-kulturellen, religiösen und sprachlichen Grenzziehungen.

Auf der anderen Seite bekamen sie, und das gilt gleichermaßen für die sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter:innen wie für Geflüchtete, in ihren Zuwanderungs- wie Herkunftsländern nie die gebührende Anerkennung.

Das Wiedererwachen des Verdrängten und Unterdrückten in der diasporischen Enkel:innengeneration

 

„Was ich nicht so gut fand, war, dass wir nicht so viel vom Zazaki mitbekommen haben. Das Türkische ist mir nicht wichtig. Ich will Zazaki lernen. Ich spüre meine Wurzeln einfach in der Sprache. Ich will das aufsaugen, weil ich weiß, diese Sprache wird immer weniger, die stirbt einfach aus. Würde ich irgendwann Kinder haben, würde ich sagen, bestimmte Sachen will ich, dass ihr sie lernt.“

 

Als Erdbebenüberlebender kam Rüyas Großvater Hasan Ende der 60er Jahre aus dem ostanatolischen Dersim als ‚Gastarbeiter‘ nach Deutschland, holte nach einem längeren Zeitraum der familiären Trennung nacheinander seine Ehefrau Gülperi und die vier Kinder, darunter auch Rüyas Mutter Gül, nach. Währenddessen wurden ein weiteres Kind und Enkelkinder in Deutschland geboren und wuchsen hier auf, so auch die mittlerweile studierende Enkelin Rüya.

In der Familie und im Dorf wurde bis zur Migration vorwiegend Zazaki gesprochen, sodass Gülperi nach wie vor ausschließlich Zazaki bzw. nach der Migration das Zazaki-Türkisch im Kauderwelsch spricht.

Rüyas Mutter Gül kam Anfang der 70er Jahre mit sieben Jahren nach Neustadt und zur Einschulung direkt in eine sogenannte Ausländerklasse für türkische Gastarbeiterkinder. Dort lernte sie erstmals Türkisch und verlernte bald ihre Erstsprache Zazaki. Als Zazaki-Sprecherin erfuhr sie Ablehnung und Ausgrenzung zunächst bei ihren türkischsprachigen Mitschüler:innen und später dann auch in der Regelklasse, nun aufgrund ihres zugeschriebenen Türkischseins. Über ihre zazaki-sprachige Zugehörigkeit, und damit in doppelter Fremdzuschreibung eine Außenseiterin und ‚Fremde‘ zu sein, wurde Gül sich somit erst in der familiären Gastarbeitsmigration bewusst. Um in den jeweiligen offiziell anerkannten Gruppen mit verhältnismäßig privilegiertem Status angenommen zu werden, praktizierte sie die unbewusste Strategie der Verdrängung und damit des Verlernens des familiären Zazaki. Damit einher ging für sie die Aneignung zweier Fremdsprachen mit Nationalstatus; zunächst Deutsch als Sprache der Mehrheitsgesellschaft und dann Türkisch als dominante Sprache der diasporischen Community.

Buch Mevlıd-ê Kırdî von Ehmed-ê Xasi
Das 1899 in Diyarbakır verlegte Mevlıd-ê Kırdî von Ehmed-ê Xasi gilt als eines der frühesten literarischen Werke auf Zaza.

Als Rüyas Familie mütterlicherseits noch in der Türkei in Tovar lebte, war das Zazaki offiziell noch eine nicht anerkannte und verbotene Sprache, die anders als das Türkische dem iranischen Zweig der indogermanischen Sprachen zugeordnet wird. Die in der Türkei einzig staatlich legitimierte und gesellschaftlich dominante Sprache war und ist nach wie vor die türkische. Auch mit der Glaubenszugehörigkeit zum Alevitentum wichen Hasan und seine Familie von der gesellschaftlich dominanten und staatlich legitimierten sunnitischen Religion ab.

Heilung durch Erinnerung, Aufarbeitung und Versöhnung

,Von den bis heute kaum aufgearbeiteten staatlichen Massenmorden in Dersim 1938 und den tödlichen Pogromen wie in Maraş und Sivas bis hin zu aktuellen Diskriminierungsformen gehören Ablehnung, Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt zur Geschichte und Erfahrung zazakisprachiger Alevit:innen, wie auch anderen diskriminierten Gruppen, etwa Armenier:innen, Christ:innen und Kurd:innen. Der lange bis in die Gegenwart reichende Schatten der unaufgearbeiteten Vergangenheit liegt noch allzu schwer auf der Türkei und damit auch auf den diasporischen Communities. Auch in Deutschland gilt es für diese Communities, sich durch Erinnerung und Aufarbeitung dieser Vergangenheit zu stellen und somit nachhaltig Versöhnung und Heilung zu bewirken. Die transnationale Migrationssituation mit ihren kritischen Debatten und Interventionen von Black, Indigenous und People of Color (BIPoC) kann zu einem multiperspektivischen Erinnerungsdiskurs beitragen, insbesondere im räumlich und zeitlich grenzüberschreitenden Zusammendenken von intersektionalen Diskriminierungs- und (Kolonial-)Rassismuserfahrungen.

Als eine bewährte Handlungspraxis gegenüber sozialer Diskriminierung und Rassismus bildete für Rüyas Vorgängergenerationen die Takiye, also das Verschweigen und Verheimlichen des eigenen Andersseins im öffentlichen Raum, noch bis in die 90er Jahre eine bewährte Strategie des existentiellen Selbstschutzes und Überlebens. Dass diese Mimikry-Praxis dennoch familiär zwischen den Generationen auch nach der Migration nach Deutschland bis in die diasporische Enkelgeneration weiter tradiert wurde, davon spricht Rüya im obigen Interviewzitat im kritischen Vorwurf an die Mutter, das sprachlich-kulturelle Erbe an sie und ihre Generation nicht weitergegeben zu haben. Gleichzeitig geht sie dabei in kritischer Selbstreflektion dazu über, den Wunsch auszusprechen, Zazaki zu erlernen und wiederzubeleben und die Verdrängungen der älteren Generationen als innere Takiye gegenüber den Nachfolgegenerationen nicht zu wiederholen.

Alevitischer Friedhof in Berlin
Eingang zum alevitischen Friedhof an der Berliner Herrmannstraße.

Das Wiederauftauchen des verdrängten, unterdrückten und erodierten individuell-familiären und kollektiven kulturellen Erbes, hier der Zazaki-Sprache, in der Enkel:innengeneration bzw. den Nachfolgegenerationen und deren  Motivation, dieses durch aktive Wiederaneignung wiederzubeleben, sind ein weithin bekanntes Phänomen in der (Sozial-)Psychologie, den Sozial- wie auch in den Migrationswissenschaften. Dort wird von „sozialer Vererbung“ gesprochen. In Rüyas Worten artikuliert hört sich das wie folgt an:

 

„Vor allen Dingen bei mir ist es so, dass ich sehr stark immer das mitfühle, was meine Vorfahren… – Je mehr ich darüber weiß, desto mehr. Also, das klingt komisch, aber irgendwie spüre ich das, den Schmerz. Also, ich kann das mitempfinden, dass die diese Sprache nicht sprechen konnten oder ihre Kultur nicht leben konnten. Dann hab‘ ich dieses Gefühl, dass ich, weil die so darunter gelitten haben, es erst recht ausleben muss.“

 

Ihre Empathie mit den Verletzungserfahrungen ihrer Vorgängergenerationen ist jedoch nicht abstrakt oder bloß vorgestellt, sondern beruht auf eigenen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Für Rüya ist im Verlauf der transnationalen familiären Migrationen eine individuelle soziale Realität mit vielfältigen nationalen, ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Bezügen, Verbindungen und Verflechtungen entstanden. Das macht es für homogen konzipierte Nationalgesellschaften wie Deutschland, Griechenland und die Türkei, und damit auch für die sich entsprechend positionierenden Personen und Gruppen schwer, diverse und hybride Uneindeutigkeiten in Bewegung zu akzeptieren.

Selbstbemächtigt hat Rüya, anders als ihre Eltern- und Großelterngeneration, gelernt, vielfältige Strategien anzuwenden, sich switchend und mixend zu positionieren und dabei zugleich uneindeutig und somit offen für neue Positionierungen zu bleiben. So sagt sie:

 

„Um ehrlich zu sagen, es ist mir gar nicht so wichtig zu sagen, was ich bin. An sich ist es nicht wichtig zu sagen, was man ist, was bist du jetzt, bist du Moslem, bist du Christ, was bist du, sag’s mir. Das ist nicht so wichtig, wenn du dich gut verstehst. Ich glaube, ich positioniere mich immer irgendwie. Ich bleib nicht fest in meinen Meinungen, ich finde es auch immer wichtig offen zu bleiben, deine Meinung sollte nicht immer festbleiben, du lernst jeden Tag neue Leute kennen.“

Migration heißt, (sich) zu verändern und stets im Wandel zu bleiben

Migrationen finden nur dem Anschein nach individuell statt, sie sind soziale Bewegungen, auf der Mikroebene meist eingebettet in familiäre Verflechtungen und mit großen Herausforderungen für die einzelnen Betroffenen verbunden – von Trennungs- über Verlusterfahrungen bis hin zu Anpassungserfordernissen. Gleichzeitig bieten Migrationsbewegungen aber auch Hoffnungen und Chancen, sich aus festgewachsenen (Denk-)Gewohnheiten und prekären Verhältnissen zu lösen und sich auf neue Perspektiven einzulassen.

Rüyas Familien stehen exemplarisch für diesen lebensweltlichen Wandel. Dabei zeigt sich in der Person und Biographie von Rüya als Angehörige ihrer transnational und transkulturell verflochtenen Mehrgenerationenfamilien die sich transgenerationell fortsetzende  Diversifizierung und Hybridisierung in den Positionierungen, Bezügen, Verbindungen und Verflechtungen als eine neue biographische, familiäre und soziale Realität und Ressource. Die Gesellschaften und Länder Deutschland, Türkei und Griechenland, mit denen Rüya sozial-kulturell verbunden ist, tun sich noch schwer, ihre Diversität und migrationsgesellschaftliche Realität als eigene zu erkennen und zu verinnerlichen und sich auch institutionell und strukturell diesem Transformationsprozess zu öffnen. Doch die Akteur:innen der Migration haben mit sich selbst auch diese Realität längst unwiderruflich und nachhaltig geprägt und verändert. Vor diesem Hintergrund zeigt Rüyas (Familien-)Biographie und kreative, verflechtende Identitätsarbeit die Horizonte und Visionen für ein mögliches und tatsächliches gesellschaftliches Zusammenleben auf. Ihr Gelingen erfordert jedoch ein resilientes und konsequentes Handeln gegen jede Art von Diskriminierungen und Rassismen. Zugleich gilt es, die auch durch Migration geprägte gesellschaftliche Vielfältigkeit in allen ihren Facetten wertzuschätzen, zu schützen und zu stärken. Als ein permanenter, nachhaltiger und offener Prozess der Ent- und Verflechtung bedeutet in diesem Sinne Migration, offen zu sein für Neues und Anderes, (sich) zu verändern und stets im Wandel zu bleiben, in kreativer Praxis jenseits von festen Grenzen und Ordnungen.

 

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unsere Büros in Istanbul.


[1] Eigen- und Ortsnamen wurden geändert.

[2] Auch dieser Name ist fiktiv und bezieht sich nicht auf eine der realen Kleinstädte mit dem Namen Neustadt.