Migrationskrise als Strategie zur Machtergreifung. Der Fall Polen

Analyse

Seit Wochen eskaliert an der polnisch-belarussischen Grenze die von Minsk bewusst instrumentalisierte Flucht- und Migrationskrise. Die polnische PiS-Regierung verbessert mit ihrer harten Politik zugleich ihre schlechten Umfragewerte. Eine Hintergrundanalyse von  Przemysław Sadura.

Polen-Soldaten an der Grenze. polnische Soldaten in der Nähe eines Zaunes an der Grenze

Einführung

Wir leben im Zeitalter der Migration. Wir wissen sehr gut, warum sich die Bewohner der Länder des globalen Südens für ein besseres Leben in den Ländern des globalen Nordens entscheiden. Die immer spürbarer werdenden Auswirkungen der Klimakatastrophe, die vor allem die Länder der subtropischen Zone treffen, machen die Lebensbedingungen in vielen von ihnen unerträglich. Die Destabilisierung der politischen Lage in den Ländern des Nahen Ostens, Zentralasiens und am Horn von Afrika führt zu internationalen Konflikten, Bürgerkriegen und ethnischen Säuberungen. Autoritäre Regime verfolgen oft eine Politik, die ganze Länder in Arbeitslager verwandelt (z. B. Eritrea). Globale wirtschaftliche Ungleichheiten und der Eintritt in ein die lokalen Arbeitsmärkte überforderndes demografisches Wachstum erhöhen den Migrationsdruck. All dies führt dazu, dass sich immer mehr Menschen für die Flucht entscheiden und dabei ihr eigenes Leben und das ihrer Familien aufs Spiel setzen.

Die Geburtsstunde der flüchtlingsfeindlichen Rhetorik der PiS-Partei

Im Rahmen dieses ständigen Migrationsdrucks kommt es immer wieder zu Kulminationspunkten, die im Zusammenhang mit der plötzlichen Destabilisierung einer ganzen Region, der Eröffnung einer neuen Migrationsroute oder vorsätzlichen Aktionen von Ländern stehen, die darauf abzielen, die Situation in bestimmten anderen Ländern zu destabilisieren. Dies war 2015 der Fall, als in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union laut Eurostat über 1,2 Millionen Asylanträge gestellt wurden, mehr als doppelt so viele wie 2014. Die meisten Personen wählten damals die Seewege nach Griechenland und Italien. Als diese Länder eine Bitte um Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen an den Rest der Europäischen Union richteten und Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, dass Bedürftigen in Europa Asyl gewährt werden sollte, machten sich Tausende von Flüchtlingen über die neue Balkanroute durch Ungarn auf den Weg in Richtung Österreich und Deutschland. Als Ergebnis dieser Ereignisse hat die Europäische Kommission im Jahr 2015 zwei Resettlement-Beschlüsse gefasst, auf deren Grundlage insgesamt 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland, Italien und Ungarn auf andere EU-Länder verteilt werden sollten.

CBOS - das wichtigste polnische Institut für die Durchführung von Sozialforschung für den öffentlichen Gebrauch, untersucht seit 2004 die Einstellung zu Flüchtlingen in Polen. Im Verlaufe der ersten zehn Jahre veränderte sich die Einstellung der Polen zu diesem Thema kaum. Vor den Sommerferien 2015, ebenso wie 2004, waren drei Viertel der Befragten (76 %) der Meinung, dass Polen Menschen, die in ihren Ländern wegen ihres Glaubens und ihrer politischen Aktivitäten verfolgt werden, aufnehmen sollte, und ein Viertel (22 %) der Befragten war bereit ihnen zu erlauben, sich dauerhaft in Polen niederzulassen. Ein Jahr später bereits war die Mehrheit der Polen (53 %) hingegen der Auffassung, dass Polen keine Flüchtlinge aufnehmen sollte. Ihnen in Polen Unterkunft zu gewähren, bis sie in ihr Land zurückkehren können, wurde von 37 % akzeptiert, aber nur 4 % der Befragten waren der Ansicht, dass ihnen ein Niederlassungsrecht in Polen gewährt werden sollte. Diese Ergebnisse sind bis zum Jahr 2021 im Grunde genommen gleich geblieben.

Was ist 2015 passiert, das dazu geführt hat, dass sich die Zahl der aufnahmebereiten Polen innerhalb weniger Monate halbieren konnte? Im Herbst 2015 fanden in Polen Wahlen statt. Als die Europäische Union auf solidarische Weise beschloss, die Flüchtlingskontingente untereinander zu teilen (Polen wurde zur Aufnahme von weniger als 7.000 Personen verpflichtet), machte die Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) (PiS) Flüchtlinge zum Wahlkampfthema. Politiker dieser Partei begannen immer häufiger damit, von Islamophobie und Rassismus durchdrungene Ansichten zu vertreten. Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der PiS, benutzte eine Sprache, die viele Kritiker mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachten, und beschuldigte Flüchtlinge, gefährliche Krankheiten und Parasiten zu verbreiten. Die der Bürgerplattform angehörende Premierministerin Ewa Kopacz  passte ihre Argumentation an und behauptete, sie selbst unterstütze die Aufnahme von Flüchtlingen nicht, wolle aber ihren Verpflichtungen gegenüber der EU nachkommen, um das Land nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dies ermöglichte es der PiS, der Regierung eine Unterwerfung unter das „Diktat von Berlin und Brüssel“ vorzuwerfen und das Wahlergebnis zu ihrem Sinne zu entscheiden. Die Haltung der Polen gegenüber Flüchtlingen ist seither zurückhaltend geblieben, und die PiS nutzte von Zeit zu Zeit die Gelegenheit, um Ängste vor ihnen zu schüren.

Die Flüchtlingskrise selbst ging 2015 an Polen vorbei. Auf der durch dieses Land verlaufenden Ost-Europa-Route wurden nur 2 Tausend illegale Grenzübertritte festgestellt, im Vergleich zu 1,8 Millionen Übertritten auf allen europäischen Routen und 800 000 auf der Balkanroute durch Serbien und Ungarn (die auch durch den auf der gesamten Länge der ungarisch-serbischen Grenze gebauten Zaun nicht verhindert wurden). Die flüchtlingsfeindliche Haltung der Gesellschaft ist jedoch zu einer der Säulen der Macht der Partei Recht und Gerechtigkeit geworden.

2021 Hybrider Konflikt mit Belarus und die Geburt einer Strategie des Angstmanagements 

Die Situation von 2015 wiederholte sich im Sommer 2021, als Präsident Aleksandar Lukaschenko als Reaktion auf die EU-Sanktionen gegen Belarus wegen der Entführung eines Flugzeugs mit dem Oppositionellen Roman Protassewitsch an Bord beschloss, den grenzüberschreitenden Flucht illegaler Einwanderer offen zu unterstützen. Dies sollte auch ein Racheakt für die angebliche Unterstützung von friedlichen Demonstrationen gegen Wahlbetrug in diesem Land durch Polen, Litauen und Lettland im Jahr 2020 sein. Die belarussischen Behörden haben Kanäle für die Schleusung von Flüchtlingen und Migranten über die EU-Außengrenzen auf dem Territorium Litauens, Polens und Lettlands eingerichtet, darunter Menschen aus dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern des Nahen Ostens und Afrikas. Die Behörden dieser Länder behandelten den organisierten Transfer wiederum als eine der hybriden Kriegsführung ähnelnde Situation und beschlossen, in den Grenzgebieten zu Belarus den Ausnahmezustand einzuführen. Belarus ist vielleicht der erste Fall in der jüngeren  Geschichte, in dem Flucht- und Migrationssituationen von einem Staat dermaßen instrumentalisiert werden. Der gesamte Fluchtkanal entlang der osteuropäischen Route wurde mit Zustimmung des Regierungsapparats, der daran Geld verdient, und mit ihm verbundener Agenturen in Gang gesetzt, die gemeinsam bestimmte politische und wirtschaftliche Ziele verfolgen: die Destabilisierung Polens, Litauens und Lettlands sowie der gesamten EU.

Von Anfang an, also ab August 2021, verfolgt die PiS-Regierung eine Art „Abfangpolitik“, die darauf abzielt, die sich mit der Migrationskrise überlagernden politischen und humanitären Krisen im Kampf um politische Unterstützung für die Regierungspartei zu nutzen.

Die Kommunikation der der Regierung unterstellten Medien richtet sich nicht nur gegen das Lukaschenko-Regime. Es dient auch dazu, die verzweifelten Opfer der Methoden der belarussischen Behörden zu Feinden zu stilisieren. Flüchtlingen wird der Zugang zu Asylverfahren verwehrt. Wie Menschenrechtsorganisationen wiederholt nachgewiesen haben, werden die Geflüchteten gewaltsam aus dem Hoheitsgebiet der Republik Polen vertrieben, was nicht selten den Verlust von Gesundheit und Leben zur Folge hat. Zu diesem Zweck werden so genannte Pushbacks angewendet, die mithilfe einer Verordnung eingeführt wurden, die mit dem polnischen Recht und dem Völkerrecht (u. a. der Verfassung der Republik Polen, der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Kinderrechtskonvention) unvereinbar sind. Nur wenigen Bedürftigen wird die notwendige Hilfe gewährt. In offiziellen Mitteilungen wird versucht, tatsächlichen Gewalttaten einen Anschein von Legalismus zu geben, indem Begriffe wie „Zurückbringen an die Grenze“ und „Grenzverteidigung“ verwendet werden. Die staatlichen Behörden setzen bei offiziellen Pressekonferenzen unter Beteiligung des Innenministers und der Geheimdienstchefs Methoden zur Entmenschlichung von Asylbewerbern ein, einschließlich der Verwendung obszöner Bilder und einer Sprache, die Assoziationen mit Terrorismus hervorruft.

Die Entscheidung, Medien und Hilfsorganisationen den Zugang zum Grenzgebiet zu entziehen, führt zu gesellschaftlichem Misstrauen und Informationschaos. Trotz wiederholter Aufrufe des Europarats zur humanen Behandlung von Flüchtlingen und dem Ersuchen der Europäischen Kommission zu einer Zusammenarbeit mit Frontex, blieb Polen hartnäckig und versucht das Problem selbst zu lösen, bricht dabei aber alle internationalen Konventionen. Ein Staat, der die Krise tatsächlich lösen wollte, würde das Potenzial und Knowhow der sich mit Migration beschäftigenden NGOs und sogar der Agentur Frontex nutzen, die Erfahrung im Umgang mit organisiertem Menschenschmuggel haben und auch mit der Überprüfung der Asylgesuche und Bitten um die Gewährung internationalen Schutzes. All dies bringt Polen der Lösung des Flüchtlingsproblems keineswegs näher, aber mit ihrer unerbittlichen Politik will die PiS andere Ziele erreichen. Um dies gut zu verstehen, nützt ein Blick auf das Geschehen im vom Ausnahmezustand betroffenen Grenzgebiet.

Das Geschehen im Grenzgebiet: der psychologische und politische Eskalationseffekt

Zu den wenigen Vertretern unabhängiger Institutionen, denen es gelungen ist, legal in das vom Ausnahmezustand betroffene Gebiet zu gelangen, waren Prof. Przemysław Sadura (der Autor des vorliegenden Texts) und Dr. Sylwia Urbańska, die beide als Soziologen an der Universität Warschau tätig sind. Sie durften ethnografische Recherchen und Interviews mit Einwohnern im Grenzgebiet durchführen. Die vorläufigen Ergebnisse ihrer Untersuchungen wurden in Form von zwei soziologischen Reportagen im Magazin „Krytyka Polityczna“ (Politische Kritik) veröffentlicht.

Die durchgeführten Untersuchungen zeigten, was die allmähliche Eskalation der Gewalt mit den Menschen im Grenzgebiet, also Flüchtlingen, Einwohnern und Mitarbeitern uniformierter Dienste, macht und zeichnete den sich beschleunigenden Prozess der Traumatisierung von Einheimischen und Neuankömmlingen auf. Seit der Einführung des Ausnahmezustands verstärkten sich Ängste, die Furcht vor dem Ausbruch eines Kriegs sowie islam- und fremdenfeindliche Einstellungen unter Vertretern lokaler Gemeinschaften. Obwohl Freiwillige von Hilfsorganisationen in den sozialen Medien über Abschiebungen informierten, riefen Anwohner beim Anblick von Flüchtlingen sofort den Grenzschutz.

Die Mitarbeiter der uniformierten Dienste wurden ebenfalls in eine schwierige Situation gebracht. Das von der PiS auf gesamtstaatlicher Ebene präsentierte falsche Dilemma – entweder ein humaner Umgang mit Flüchtlingen und Migranten oder Schutz der Grenze und der Interessen des Staats – wurde jedem Beamten des polnischen Staates auferlegt. Soldaten, Grenzschützer und Polizisten müssen sich täglich entscheiden, ob sie auf ihren menschlichen Instinkt und Reflex, der ihnen das Gewähren von Hilfe für den hungrigen und durchfrorenen Nächsten nahelegt, hören oder sich gemäß dem Befehl zur Grenzverteidigung verhalten. Dies führt dazu, dass sie verängstigte Flüchtlinge, darunter oft Frauen, Kinder und ältere Menschen, in den Wald und in die Sümpfe treiben. Eine solche Situation gefährdet nicht nur die Gesundheit und das Leben von Migranten, sondern führt auch zu zahlreichen Dysfunktionen unter den Mitarbeitern der uniformierten Dienste (Dissoziation, PTSD und andere psychische Probleme, Alkoholmissbrauch).

Eine der Auswirkungen dieser Aktionen ist auch die gegenseitige Eskalation von Gewalt. Die immer wieder abgedrängten und teilweise ausgeraubten Flüchtlinge versammeln sich in immer größeren Gruppen und versuchen, gewaltsam die Grenze zu überschreiten. Die uniformierten Dienste reagieren darauf mit immer aggressiverem Verhalten, setzen Tränengas, Hunde und andere direkte Zwangsmittel ein. An den Orten, an denen die Untersuchungen durchgeführt wurden, fanden von Gruppen durchgeführte Versuche zum gewaltsamen Überschreiten der Grenze schon lange vor dem Zeitpunkt statt, als internationale Medien Bilder von den Kämpfen zeigten, die am 8. und 9. November in der Nähe des Grenzübergangs in Kuźnica ausgetragen wurden. Die von Forschern im Gebiet des Ausnahmezustands beobachteten Mechanismen wurden anschließend durch das Handeln der PiS-Regierung auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet.

Unter Beibehaltung des Monopols für die Berichterstattung über Ereignisse im Grenzgebiet (wo keine Journalisten zugelassen sind) bedienen die Behörden die Öffentlichkeit mit Bildern von jungen Männern, die auf Befehl belarussischer Beamter die Grenzbarrieren stürmen, verbergen hingegen die Bilder von Frauen und Kindern, die die Opfer des an der Grenze laufenden „Spiels“ geworden sind. Die polnische Gesellschaft, sowohl von den belarussischen und polnischen Behörden mit diesen Bildern gefüttert, hat vermehrt Angst vor dem Ausbruch eines Kriegs und der Flut einer unkontrollierten Flüchtlings- und Migrantenwelle. In dieser Atmosphäre ließ sich eine Mehrheit (52 %) von der Politik der Behörden überzeugen und unterstützt das Aufgreifen und Zurückdrängen jener Flüchtlinge an die Grenze, denen das Betreten des polnischen Staatsgebiets gelungen war. Nur 41 % der befragten Polen würden es vorziehen, dass Polen seine humanitäre Verpflichtungen einhält und Anträge von Flüchtlingen auf die Gewährung internationalen Schutzes prüft. Landesweite Umfragen haben gezeigt, dass sich diese Strategie für die Partei Recht und Gerechtigkeit auszahlt: anfänglich hat sie ihr zusätzliche gesellschaftliche Unterstützung in Umfragen verschafft, derzeit dämpft sie den Rückgang der Unterstützung für die PiS-Regierung angesichts der höchsten Inflationsrate unter EU-Ländern.

Die von Polen vorgeschlagenen Lösungen zur Stabilisierung der Lage haben keine Aussicht auf Erfolg. Neben dem Einsatz illegaler Pushbacks soll der Bau einer Mauer an der Grenze nach dem Vorbild von Trump und Orban als grundlegendes Instrument dienen. Migrationsexperten argumentieren, dass Mauern die Migration nur vorübergehend begrenzen können, weil Schmuggler immer wieder andere Migrationswege finden. Es ist unmöglich, sich von der Außenwelt abzuschneiden. Spezialisten für das Geschäft mit der politischen Manipulation wissen, dass das Bauen von Mauern die Furcht vergrößert, Empathie gegenüber Fremden reduziert und in der Politik den Effekt eines „to the king” („zum König hin“), also des Schließens der Reihen um die derzeitig Regierenden, hervorruft. Letzteres ist, wie es scheint, das eigentliche Ziel der Aktivitäten der polnischen uniformierten Dienste an der Grenze zu Belarus.


Dr. hab. Przemysław Sadura, Professor an der Universität Warschau. In den Jahren 2019-2020 Gastwissenschaftler an der UCL School of Slavonic and East European Studies in London, wo er zu Immigrantengemeinschaften geforscht hat. Inhaltlicher Leiter des Instituts für Fortgeschrittene Studien von Krytyka Polityczna. Zusammen mit Sławomir Sierakowski  ist er der Autor der Untersuchung „Politischer Zynismus der Polen“ sowie von „Das Ende der Hegemonie von 500 Plus“. Zusammen mit Sylwia Urbańska hat er einen Forschungsbericht zur Situation an der polnisch-belarussischen Grenze unter dem Titel Tam, gdzie ich zbierają i „gonią” z powrotem. (dt. „Da, wo sie sie einfangen und wieder vertreiben“) verfasst.


Tipp:Der Tag vom 11.11.2021 | DW

Mit einem Kommentar (ab Minute 13.30) von Joanna Maria Stolarek, Büroleitung der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau.

"Schutz der Grenzen und Widerstand gegen Lukashenkas perfides Regime schliesst humanitäre Hilfe für die in der Grenzregion gestrandeten Menschen nicht aus. Diese muss sofort passieren."