„Für viele Organisationen ist die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz ein langer Weg“

Interview

Körperliche oder sexuelle Gewalt gehört vielerorts zur alltäglichen Erfahrung von Frauen - auch am Arbeitsplatz. Häufig geht es dabei um Machtmissbrauch. Auch in einigen Nichtregierungsorganisationen gab es in den vergangenen Jahren Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt. Schutzmaßnahmen wurden daraufhin ergriffen. Doch reicht das aus? Ein Interview mit Christine Ash Büchner.

Hände sind schützend vor den Körper gehalten
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Die Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt müssen gestärkt werden.

Können Sie uns etwas über geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz erzählen: Was ist das und was sind die Ursachen?

Christine Ash Büchner: Nun, wie wir wissen, handelt es sich bei geschlechtsspezifischer Gewalt um schädliche Handlungen gegen eine Person aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Geschlechtsidentität. Sie hat ihre Wurzeln in der Ungleichheit zwischen den Menschen, in der Geschlechterungleichheit, es geht um Machtmissbrauch und schädliche Normen. Wenn wir also in diesem Kontext darüber nachdenken, speziell am Arbeitsplatz, dann sind es dieselben Dinge, die aufgrund eines Machtungleichgewichts geschehen. Dort hat eine Person in einer Machtposition eines Geschlechts diese Macht über ein anderes Geschlecht. Das kann in Form von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sein, oder in Form von Mobbing oder Diskriminierung, was zum Beispiel schwerwiegende Folgen auf die psychische Gesundheit hat, oder etwas ganz konkretes wie nicht befördert zu werden. Sie kann auch in Form von verletzender Sprache oder unangemessenen Witzen auftreten. Es geht um Missbrauch und Ausbeutung, die mit dem Geschlecht zu tun haben.

In den letzten Jahren hat sich international in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen viel getan; es gab Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt, was die Organisationen dazu veranlasste, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Sie waren bei einigen dieser Organisationen tätig. Können Sie uns mehr über Ihre Erfahrungen berichten?

Anfang der 2000er Jahre wurden erste Rahmenwerke und Strategien entwickelt. Bei der Prüfung einer UN-Mission in Westafrika stellten Gutachter fest, dass die Anzahl der gemeldeten Fälle von sexuellem Missbrauch an schutzbedürftigen Frauen und Kindern zugenommen hatte, und dabei UN-Mitarbeiter und Mitarbeiter internationaler NROs als mutmaßliche Täter in Frage kamen. Als dieser Bericht ca. 2001 herauskam, gab es einen großen Aufruf des Ständigen interinstitutionellen Ausschuss (Inter-Agency Standing Committee, IASC), einem Forum des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, den Vereinten Nationen und einigen internationalen NRO, dass wir Grundsätze für unser Verhalten brauchen. Was ist angemessenes Verhalten, was ist unangemessenes Verhalten?

So entstanden in 2002 die IASC-Richtlinien. Das IASC hat sechs Richtlinien herausgegeben, die festlegen, wie mit sexueller Ausbeutung und Missbrauch umzugehen ist. Auf diesen Grundsätzen basiert das Bulletin des Generalsekretärs, das 2003 veröffentlicht wurde. Die Grundsätze wurden im Jahr 2019 aktualisiert. Darin heißt es zum Beispiel, dass der Austausch sexueller Gefälligkeiten gegen Geld oder Sex mit Personen unter 18 Jahren verboten ist, und dass Angestellte in Führungspositionen eine besondere Verantwortung dafür tragen, bei einem Ungleichgewicht von Macht und Vertrauen ein sicheres Arbeitsumfeld für die Angestellten zu gewährleisten. Wer den Verdacht hat, dass die Grundsätze missachtet werden, ist zur Meldung verpflichtet, damit ein besseres Follow-Up gewährleistet werden kann.

Aus dieser Entwicklung entstand die ganze Kinderschutzbewegung - wie müssen Projekte gestaltet sein um Kinder zu schützen? Daraufhin begannen wir, uns auch damit auseinanderzusetzen, wie Programme für den Schutz Erwachsener gestaltet werden können. Der Gedanke hinter einer Strategie, mit der wir versuchen, sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch zu verhindern, entstand 2008-2009, als das IASC die Richtlinien innerhalb der Vereinten Nationen festigte und man begann, sie in die Arbeit zu integrieren. In den frühen 2010er Jahren kamen viele Skandale zum Vorschein. 2015 berichteten Medien über einen Skandal in Haiti, in den eine große internationale NRO verwickelt war. Den Medien wurden Dokumente zugespielt, aus denen hervorging, dass der Landesdirektor und andere Angestellte in Führungspositionen Sexarbeiterinnen beschäftigten. Es gab zwar eine interne Untersuchung, das ganze wurde aber ziemlich heruntergespielt. Die Angestellten in Führungspositionen wurden zwar abgesetzt, aber nicht entlassen. Diese Affäre machte deutlich, wie wir unsere Arbeit leisten und welches Verantwortungsbewusstsein wir gegenüber den Gemeinschaften haben, mit denen wir arbeiten. Es entzündete eine rege Debatte darüber, was unsere Verantwortung ist, warum diese Dinge passieren und ob wir gegenüber den Menschen, für die und mit denen wir arbeiten, rechenschaftspflichtig sind.

Von da an wurden Maßnahmen eingeführt, die insbesondere dem Schutz vor Missbrauch dienen sollten - sowohl in kleineren Organisationen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, und solchen, die der Demokratieförderung gewidmet sind und innerhalb von Communities, wo die Menschen sagten: Nein, wir tragen die Verantwortung, dass die Menschen, für die und mit denen wir arbeiten, etwas von uns erwarten können.

In dieser Zeit wurde eine ganze Reihe von Schutzmaßnahmen eingeführt, und die Organisationen haben entsprechende Richtlinien eingeführt. Inzwischen wissen wir, dass Richtlinien zwar gut sind, aber wenn Mitarbeiter/innen nicht darin geschult werden, was diese Richtlinien in ihrem eigenen Kontext bedeuten, und wenn wir keine kulturspezifischen Leitfäden für die jeweiligen Länder entwickeln, in denen wir arbeiten, werden sie nicht funktionieren. Das fällt uns immer wieder auf, wenn ein Skandal aufgedeckt wird. Zuletzt kam im Februar 2021 heraus, dass während der Ebola-Krise 2016 Frauen im Kongo Sex anboten, um einen Job bei der WHO zu bekommen.

Als praktizierende Beraterin und Ermittlerin, die jetzt selbst für eine große NRO arbeitet, weiß ich, dass solche Dinge weiterhin passieren und die Menschen immer noch Angst haben, sie zu melden. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Warum haben sie Angst, sie zu melden? Was können wir tun, damit sie sich sicher fühlen?

Das leitet zur nächsten Frage über: Was können wir tun, um Menschen zu schützen, und wie tun wir es bereits? Was bedeutet es für eine Organisation, einen Schutzmechanismus für Mitarbeiter, Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt, Whistleblower und andere Personen zu schaffen?

Ich denke, dass eine Organisation sicherstellen muss, dass auf allen Ebenen ein Verständnis für Fragen geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz vorhanden ist. Damit ein Rahmenwerk funktioniert, muss die oberste Führungsebene zeigen, dass sie die Richtlinien einhält und unterstützt und sich gegenüber den anderen Abteilungen bei der Umsetzung der Richtlinien kooperativ zeigt. In der Praxis bedeutet dies, dass Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen, um Mitarbeiter/innen für das Fallmanagement einzustellen, aber auch, um Schulungen für die Mitarbeiter/innen durchzuführen. Außerdem sollte Zeit investiert werden, damit  Projekt- und Programmmanager/innen in der Lage sind, die Schutzmaßnahmen in das alltägliche Programm-Management zu integrieren.

Es muss auch regelmäßig überprüft werden, ob die Regeln eingehalten werden. Wie könnte das aussehen? Es könnte z.B. bedeuten, dass alle Mitarbeiter/innen die Richtlinie unterzeichnen müssen und dass es eine Vollzeitstelle gibt, die sich dezidiert mit der Umsetzung der Richtlinie befasst. Die Einhaltung der Richtlinie umfasst auch, dass die Projekte geschützt sind und dass das eingestellte Personal in Hinblick auf Lebenslauf und Ausbildung überprüft wird, dass sie über eine entsprechende Ausbildung verfügen und eine Sensibilisierungsschulung absolviert haben, so dass sie das Wissen anwenden und an andere weitergeben können.

Effiziente Schutzmaßnahmen umfassen auch Mitarbeiter/innen, die für das Fallmanagement ausgebildet sind. Zum Fallmanagement gehört nämlich noch mehr. Man braucht einen geeigneten Feedback- und Reaktionsmechanismus. Dieser Prozess zieht sich bis zur lokalen Ebene. Es kommt nicht auf die Größe eines Büros an, sondern darauf, ob es reibungslose, transparente Kommunikationsprozesse gibt und dass die Angestellten lernen, wie die Schutzmaßnahmen in die alltäglichen Abläufe integrierbar sind. Die Perspektive eines/einer Mitarbeiter/in in der Finanzabteilung ist ganz anders, als die eines/einer Berater/in, der/die internationale Workshops leitet. Es ist wichtig, dass diese Unterschiede verstanden werden.

Ich denke, dass die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz für viele Organisationen ein langer Weg ist. Es beginnt damit, dass wir ein gewisses Maß an Verantwortung für unsere Handlungen und unser Verhalten bei unserer Arbeit übernehmen. Verantwortung zu übernehmen heißt, Maßnahmen zu entwickeln und einen geeigneten, den internationalen Arbeitsstandards entsprechenden Rahmen zu schaffen. Die größte Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass diese Richtlinie ein lebendiges Dokument wird, das sich mit der Zeit ändert und das man ständig aktualisieren und anpassen muss. Das ist nicht einfach, trotzdem müssen alle Organisationen da durch, unabhängig davon, wie groß sie sind. Wichtig ist, dass die Richtlinien ernstgenommen werden und auf die Arbeit aufbauen, die man sowieso schon tut. Man braucht sie für die weitere Entwicklung, und muss sie stetig optimieren. Ich bin hoffnungsvoll, dass zivilgesellschaftliche und humanitäre Entwicklungsorganisationen die Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt stärken werden, denn sie hat an einem Arbeitsplatz nichts zu suchen.