Bedingt rechen­schaftspflichtig

Eine Lesart des Ernährungsgipfels der Vereinten Nationen.

Knapp 800 Millionen Menschen weltweit leiden Hunger, auch in wohlhabenden Ländern wie Deutschland können sich arme Haushalte häufig keine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten. Jeder dritte Mensch weltweit leidet an krankhaftem Übergewicht. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel aller Lebensmittel gar nicht auf unseren Tellern landet: Sie werden weggeschmissen oder vergammeln auf dem Weg von Feld zur Vermarktung. Die Landwirtschaft und der durch sie hervorgerufene Landnutzungswandel (z.B. Entwaldung) ist für ein Viertel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Landwirtschaft gilt als einer der zentralen Treiber des Verlusts der biologischen Vielfalt.

Um diesen Trends zu begegnen, hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN) einen Gipfel durchgeführt, der sich der Transformation unserer Ernährungssysteme widmet (United ­Nations Food System Summit). Der Gipfel fand im Rahmen der UN-General­versammlung im September 2021 statt. Unter Ernährungssystem werden alle Aspekte der Ernährung verstanden: von der Produktion über die Verarbeitung bis zum Konsum.

Am vorbereitenden Gipfel im Juli 2021 nahmen mehr als 20.000 Menschen online teil. Expert*innen von allen Kontinenten arbeiteten an Lösungsvorschlägen für die Transformation des ­Ernährungssystems. Aus diesen gingen sogenannte Koalitionen hervor, die diese Ergebnisse nun weitertragen sollen. Schulernährung und Agrarökologie sind zwei dieser Koalitionen. Im Kontext des Gipfels wurden seitens einer Vielzahl der UN-Mitgliedsstaaten nationale Strategien erarbeitet, wie die Ernährungssysteme in den Ländern transformiert werden sollen.

Eine Frau wartet mit ihrem Kind an einer Essensausgabe
Die schwangere Arot Isike vom Volksstamm der Turkana mit ihrem Kind bei einer Essensausgabe in der Nähe von Lodwar im Nordwesten Kenias. Die Turkana-Region gilt als die ärmste Region des Landes. Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ernährungssicherheit in dieser ohnehin schon von Wasserknappheit gekennzeichneten Region treffen insbesondere die armen Haushalte.

Die Organisation des Gipfels zog allerdings schon von Anfang an Kritik auf sich. Als Sonderbeauftragte für den Gipfel wurde ­Agnes Kalibata benannt. Agnes Kalibata ist seit 2014 Präsidentin der «Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika» (AGRA) ­(Alliance for a Green Revolution in Africa). AGRA steht für ein Modell der landwirtschaftlichen Entwicklung, das maßgeblich auf Produktivität setzt und alternative landwirtschaftliche Entwicklungsmodelle (z.B. Agrarökologie) nicht oder nur sehr eingeschränkt repräsentiert. Weite Teile der Zivilgesellschaft haben sich deswegen vom Gipfel abgegrenzt.

In der Substanz hat der Gipfel viel Wissen über eine nachhaltige Landwirtschaft zusammengetragen. In fünf sogenannten Handlungsarenen (action areas) haben Expert*innen Lösungs- und Transformationsansätze zusammengetragen. Gleichzeitig wurden zentrale Aspekte der gegenwärtigen Ernährungssysteme nur sehr am Rande behandelt. Dazu zählt die Machtkonzentration in den Händen einiger weniger Konzerne, zum Beispiel bei der Vermarktung oder der Produktion und dem Vertrieb von Saatgut. Kurz vor dem Gipfel wurde darüber hinaus die Handlungsarena zu «Governance der Ernährungssysteme» in eine zu «Finanzierung» (means of implementation) umgewandelt. Die Umsetzung von Menschenrechten wurde zu einem «Hebel» für Transformationen und damit auf eine Ebene mit Innovationen und Finanzierung gestellt.

Ob von den nationalen Strategien ein echter Transformations­impuls für die Ernährungssysteme ausgeht, hängt von deren Ausgestaltung und Umsetzung ab. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen hat festgehalten, dass es im Kern Armut und Ungleichheiten sind, die ursächlich für Hunger und Fehlernährung sind. Wirkliche Transformationspfade für ­nachhaltige Ernährungssysteme setzen daher eine stärkere Rechenschaftspflicht von Regierungen gegenüber ihren Bürger*innen voraus. Vertreter*innen der Zivilgesellschaft betonen aber immer wieder, wie schwer es ihnen fällt, die Belange derjenigen in Politikprozesse einzuspeisen, die an Hunger und Fehlernährung leiden.

Die Transformation der Ernährungssysteme zur Umsetzung des Rechts auf angemessene Nahrung muss deswegen in strukturelle Änderungen der Beziehung zwischen Staat und Bürger*innen eingebettet sein. Genau zu diesem Punkt aber lieferte der Gipfel keine Ansatzpunkte.


Jes Weigelt leitet den TMG Think Tank for Sustainability in Berlin, zuvor war er Projektleiter des Global Soil Forum am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS).

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