Überleben im Überfluss

Für Wohlhabende gibt es in westlichen Gesellschaften keinen Mangel an Lebensmitteln, dafür ein wachsendes Bewusstsein für die Probleme, die mit ihrer Herstellung verbunden sind. Essen wird zu einem Baustein der Identität.

Ernährung ist ein Grundbedürfnis aller Menschen; sie müssen ­essen, um zu überleben. Dabei scheint die existenzielle Bedeutung der Ernährung in der Wohlstandsgesellschaft nahezu vergessen, denn in westlichen Industrieländern ist heute nicht nur die ausreichende Verfügbarkeit an Lebensmitteln für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als Problem gelöst. Ebenso ist es Normalität, dass räumliche und zeitliche Restriktionen des Essens außer Kraft gesetzt sind. Im westlichen Kontext geht es heute weniger um die Grundsicherung der Ernährung der Bevölkerung. Vielmehr werden die Folgen der industrialisierten Erzeugung von Lebensmitteln diskutiert, die anstelle des Mangels ein Überangebot an Nahrung schaffen. Es geht um Fragen des Umgangs mit Nahrungswohlstand und Verschwendung, um Probleme der sogenannten Fehlernährung durch Überernährung. Und um gravierende ökologische Folgewirkungen westlicher Ernährungsstile.

Dieser gesellschaftliche Wandel vom Mangel zum Überfluss stellt historisch gesehen eine einmalige Situation in Deutschland dar. Er findet seinen Ausdruck unter anderem in den durchschnittlich sinkenden Lebensmittelausgaben der deutschen Privathaushalte. Betrug ihr Anteil im Jahre 1950 noch 44 Prozent – also fast die Hälfte des Haushaltseinkommens –, so nahm er über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich ab und betrug 2019 nur noch 14 Prozent. Diese Entwicklung wurde lange Zeit als Anzeiger für Wohlstand diskutiert. Vor allem, weil Privathaushalten so in den letzten Jahrzehnten mehr Mittel für andere Konsumentscheidungen zur Verfügung standen. Als Problem erscheint diese Entwicklung allerdings, wenn sinkende Lebensmittelausgaben heute mit geringer Wertschätzung oder Lebensmittelverschwendung einhergehen. Dies könnte leicht als Zeichen für eine einseitige Wohlstandsdebatte missverstanden werden, wenn nicht offensichtlich wäre, dass Mangel und Hunger trotz Wohlstand auch in der Überflussgesellschaft anzutreffen sind.

Mangel an Lebensmitteln

Die gesellschaftliche Herausforderung des «Überlebens im Überfluss» fokussiert nicht nur auf die gesundheitlich relevanten Probleme der sogenannten Fehlernährung, sondern gleichermaßen auf die ökologischen Folgeprobleme entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Lebensmitteln: der Produktion, der Verarbeitung, des Transports, der Zubereitung und des Verzehrs sowie des Wegwerfens. So lassen sich vor allem am Fleischkonsum gravierende ökologische Problemlagen aufzeigen. Etwa der Flächen- und Wasserverbrauch, die hiermit verbundene Wasser- und Bodenverunreinigung, der einhergehende Biodiversitätsverlust, die enorme Klimabelastung – und nicht zuletzt tierethische Probleme.

Diese Art der Ernährung in der Überflussgesellschaft ist mit einer Zunahme an Komplexität verbunden, die von vielen als Zunahme von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit empfunden wird. Neue Produkte, globale Produktionsstandorte, neue Herstellungsverfahren und der ‚ökologische Fußabdruck‘ verlangen Neuorientierungen der Konsumierenden und brechen mit «alten» Selbstverständlichkeiten. Bio-Erdbeeren zur Weihnachtszeit oder Spargel im Herbst aus Peru erscheinen dann nicht mehr verwunderlich. Diese Entwicklungen gehen einher mit einer zunehmenden Reflexion über die Art und Weise der Ernährung in der westlichen Wohlstandsgesellschaft, die ihren Ausdruck in den Fragen findet, was man essen kann, wie viel wovon und ob das alles überhaupt gesundheitlich zuträglich und umweltethisch vertretbar ist.

Der Überfluss an Nahrungsmitteln führt aber nicht nur zu einer allgemeinen Verunsicherung, sondern macht Ernährung auch verfügbar für Identitätsgewinne. Ernährungstrends und individuelle Ernährungsstile sind nicht nur Ausdruck einer Zunahme von Komplexität. Sie versprechen auch eine Reduktion von Komplexität, indem die Vielzahl der Möglichkeiten aus- und eingegrenzt wird mit der Absicht, Entscheidungssicherheit wiederzuerlangen. Darum werden Lebensmittel heute vor allem darüber definiert, was in ihnen nicht (sic!) enthalten ist, indem sie als «frei von» deklariert werden. Mit Ernährungstrends werden jeweils Ordnungssysteme aufgestellt, die Produktions-, Zubereitungs- oder Speiseregeln definieren. Das Essen dient damit nicht nur dem Sattwerden, sondern im entscheidenden Maße auch der individuellen Selbstbeschreibung, der Verfertigung von Identität. Die «Definition des Selbst» über die Auskunft, worauf man bei der Ernährung Wert legt und was man sich leisten kann, erfolgt dabei immer in Unterscheidung von und Abgrenzung zu anderen. Die zunehmende Moralisierung des Essens ist dann Teil der kollektiven Identitätsherstellung.


Jana Rückert-John ist Professorin für «Soziologie des Essens» an der Hochschule Fulda.

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