Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel: Grünes Licht für Risiken

Atlas

Bevor Pestizide auf den Markt kommen, durchlaufen sie einen Genehmigungsprozess, in dem ihre Wirkungen getestet werden. Die indirekten Folgen auf Nahrungs­ketten und Biodiversität sowie der schwer kalkulierbare Effekt von Pestizidmischungen finden kaum Beachtung.
 

Pestizidatlas Infografik:Anzahl der weiterhin verwendeten Pestizide im Jahr 2021, die laut EU-Regularien ersetzt werden sollten (Substitutionskandidaten), nach Mitgliedsland; Anzahl biologischer Schädlingsbekämpfungsmittel (Biopestizide) im Jahr 2020 auf dem Weg zur Marktreife in der EU
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Obwohl EU-Mitglieder gehalten sind, besonders gefährliche Wirkstoffe möglichst schnell zu ersetzen, werden sie noch in vielen Ländern eingesetzt. Als Alternativen könnten Biopestizide dienen. Die werden aber zu langsam zugelassen

Komplexe nationale und internationale Zulassungsverfahren 

In der Europäischen Union funktioniert das Zulassungsverfahren von Pestiziden zweistufig: Im ersten Schritt werden Wirkstoffe EU-weit genehmigt. Im zweiten Schritt werden die in der Praxis eingesetzten Produkte, die den Wirkstoff schließlich enthalten, durch die einzelnen Mitgliedsstaaten zugelassen. Federführend auf Europäischer Ebene ist die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Sie beauftragt ein Mitgliedsland, das von dem Hersteller erstellte Wirkstoff-Dossier zu prüfen. Die beauftragte Zulassungsbehörde des Mitgliedslands bewertet die Studien der Herstellerfirmen und andere Informationen – und interpretiert sie mit Blick auf das Risiko für Mensch und Umwelt. Wird ein Wirkstoff zugelassen, gilt die Genehmigung meist für zehn Jahre. Vor einer Verlängerung müssen neue Daten in die Entscheidung einbezogen werden.

Cover des Pestizidatlas 2022

Der Pestizidatlas 2022

Der Pestizidatlas zeigt in 19 Kapiteln Daten und Fakten rund um die bisherigen und aktuellsten Entwicklungen, Zusammenhänge und Folgen des weltweiten Pestizidhandels und Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft.

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Die EU-weite Genehmigung eines Wirkstoffes bedeutet noch keine automatische Zulassung von Pestizidprodukten, die diesen Wirkstoff enthalten. Die wiederum findet auf der Ebene der Mitgliedsstaaten statt. In Deutschland ist in diesem Kontext die wichtigste Behörde das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) – im Einvernehmen mit dem Umweltbundesamt (UBA) und unter Einbindung weiterer Fachbehörden wie dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und dem Julius Kühn-Institut für Kulturpflanzen (JKI).

Umweltbundesamt spielt entscheidende Rolle

So prüft das Julius Kühn-Institut, ob ein Pestizid ausreichende Wirkung gegenüber dem Schadorganismus entwickelt. Auch mögliche Schäden an anderen Pflanzen und die Beeinträchtigung von Nützlingen wie zum Beispiel dem Marienkäfer werden berücksichtigt. Das BfR prüft die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und legt Grenzwerte fest, wie stark Menschen dem jeweiligen Pestizid ohne gesundheitliche Folgen ausgesetzt sein können. Eine zentrale Rolle spielt das Umweltbundesamt, ohne dessen Zustimmung kein Pestizidprodukt in Deutschland zugelassen werden kann. Das Amt bewertet auf Basis der eingereichten Studien die zu erwartenden Auswirkungen auf die Umwelt, Gewässer, Boden, Luft und die dort lebenden Organismen. Kommt es zum Ergebnis, dass keine „unannehmbaren“ Auswirkungen auf die Umwelt zu erwarten sind, stimmt das UBA einer Zulassung zu. Das bedeutet: Nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt oder Nützlingsorganismen werden akzeptiert, wenn sie als vertretbar eingestuft werden – zum Beispiel, wenn zu erwarten ist, dass sich Nützlingsbestände nach einem Spritzgang erholen.

Standard-Zulassungsprüfungen betrachten nur einen Ausschnitt möglicher Pestizideffekte auf die Umwelt
Die Erkenntnisse aus Zulassungstests mit nur wenigen Arten sind mit Unsicherheiten behaftet. Eingerechnete Sicherheitsfaktoren sollen diese Unsicherheiten kompensieren

Obwohl in der EU strenge Kriterien für eine Pestizidzulassung existieren, kann die derzeitige Umweltrisikobewertung offenbar nicht verhindern, dass zugelassene Pestizide schädliche Auswirkungen auf die Umwelt haben. Die EFSA hat Richtlinien ausgearbeitet, wie Pestizidwirkstoffe im Hinblick auf Vögel, Säugetiere, Honigbienen, Wildbienen oder Regenwürmer bewertet werden sollen. Zivilgesellschaftlichen Organisationen reicht das nicht. Sie fordern, dass auch die Auswirkungen auf Amphibien, Fledermäuse, Reptilien oder Wildkräuter Berücksichtigung finden.

Zuwenig Aufmerksamkeit für Wechselwirkungen und Pestizidmischungen

Fachleute kritisieren zudem die geringe Aufmerksamkeit, die indirekte Auswirkungen auf Nahrungsketten oder die biologische Vielfalt auf der Anbaufläche erhalten. So werden in Zulassungsverfahren Wechselwirkungen zwischen Organismen nicht bewertet – wodurch indirekte Pestizideffekte außer Acht bleiben. So ist es möglich, dass ein Herbizid wie Glyphosat keine akut toxische Wirkung auf Insekten und Vögel zeigt, jedoch dazu beiträgt, Kräuter auf Feldern zu reduzieren. Bestäubende und pflanzenfressende Insekten finden dadurch weniger Nahrung, was sich wiederum auf die Nahrungsgrundlage vieler anderer Tiere auswirkt. So sind etwa die Bestände der Feldvögel in der EU in den letzten vierzig Jahren um mehr als 30 Prozent gesunken. Auch experimentell konnte der Zusammenhang zwischen Herbizideinsatz, Insektenvorkommen und dem Überleben von Rebhuhnküken bereits in den 1980ern gezeigt werden.

Außerdem finden in den meisten landwirtschaftlichen Kulturen mehrere Pestizide pro Saison Anwendung. Äpfel werden am häufigsten pro Saison gespritzt. Bei einzelnen Behandlungen können auch mehrere Pestizide gleichzeitig zum Einsatz kommen. Trotzdem wird in Zulassungsverfahren bloß die Anwendung eines Wirkstoffs oder eines Pestizidprodukts bewertet. Effekte dieser Mischungen auf die Umwelt sind bislang weitestgehend unbekannt – Hinweise mehren sich, dass sie stärker sein können als die jeweiligen Einzelwirkungen. Auch für die menschliche Gesundheit könnte die Belastung mit Pestizidmischungen gefährlicher sein als bisher bekannt. Um Pestizidschäden rasch zu erkennen, fordern zivilgesellschaftliche Organisationen und Fachleute eine verbesserte, an der landwirtschaftlichen Praxis orientierte Überprüfung der Anwendungen über einen längeren Zeitraum.