Inklusion: Mehr Miteinander

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Gesellschaft soll für Menschen mit Behinderung so gestaltet sein, dass diese gleichberechtigt teil­haben können. Dafür müssen noch viele Barrieren abgebaut und Benachteiligungen aufgehoben werden. 

Sozialatlas Infografik: Die Sozialbetriebe sollen Menschen mit Behinderung durch Arbeit am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen, wenn möglich auch im ersten Arbeitsmarkt. Letzteres gelingt kaum
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Sie galten als vorbildlich, zunehmend aber erweisen sich die Behindertenwerkstätten als Inklusionshindernis.

Fast jede(r) Zehnte lebt mit einer Behinderung

Behindert, denken viele, das sind nur „die anderen“. Das liegt vor allem an der mangelnden Präsenz behinderter Menschen in der Alltagswelt. Tatsächlich aber lebt fast jede zehnte Person in Deutschland mit einer schweren Behinderung, also einem Grad der körperlichen, seelischen oder geistigen Einschränkung von über 50 Prozent – 7,9 Millionen Menschen. Nur ein geringer Teil davon, rund drei Prozent, gilt schon vom ersten Lebensjahr an als behindert. Mit Abstand die meisten Beeinträchtigungen ereilen die Menschen erst im Lauf ihres Lebens, etwa in Folge einer schweren Krankheit. Unfälle sind nur in einem Prozent der Fälle die Ursache. 78 Prozent der Betroffenen sind älter als 55 Jahre.

Cover Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022 bringt Übersicht in die Komplexität des Sozialsystems, zeigt seine Grundlagen und Perspektiven. So wird sichtbar, dass der soziale Zusammenhalt auf einer Kooperation von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft beruht – und seine Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden kann.

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Behinderung daher nicht nur sichtbar zu machen, sondern dieser großen Bevölkerungsgruppe mithilfe besserer Rahmenbedingungen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen – dafür steht das politische Vorhaben der Inklusion. Vereinfacht gesagt, -sollen Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam aufwachsen, lernen, arbeiten und leben – jeder und jede im Rahmen -seiner oder ihrer Möglichkeiten. Doch noch ist dieses Mitein-ander mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Vorgezeichnete Lebenswege

Seit sich Deutschland 2009 der UN-Behindertenrechtskonvention angeschlossen hat, ist zwar viel geschehen; die Bundesländer haben sie in geltendes Recht umgesetzt. Dennoch scheinen die Lebenswege – insbesondere die geistig -Behinderter – in Deutschland wie vorgezeichnet zu sein: Nach der Förderschule wechseln sie in eine Behindertenwerkstatt und bleiben ihr Lebtag in betreuten Einrichtungen weit-gehend unter sich.

Die Lebenswelten trennen sich früh. Hatten im Schuljahr 2008/09 4,8 Prozent aller Kinder der Jahrgangsstufen 1 bis 10 eine Förderschule besucht, lag diese Quote zehn Jahre später bei kaum veränderten 4,2 Prozent. Die Exklusionsquote – die abbildet, wie viele Kinder in eine gesonderte Schule gehen – zeigt, dass sich die Zahl an Schülerinnen und Schülern, die in ihrer körperlich-motorischen und geistigen Entwicklung unterstützt werden müssen, sogar erhöht hat. Das heißt, immer noch besuchen die meisten Kinder mit einem Förderbedarf keine allgemeinbildende Schule – trotz der Landesschulgesetze zur Inklusion.

Sozialatlas Infografik: Wie anderswo in Europa Barrieren aus dem Weg geräumt werden
Statt auf Sonderlösungen für einzelne Gruppen setzt man in anderen Ländern auf das Prinzip „Eine Lebenswelt für alle“ – für Behinderte wie Nichtbehinderte.

Andere Länder, andere Förderwege

Diese Förderschulen verlassen nur 28 Prozent mit einem Hauptschulabschluss. Die Absolventenquote für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf in allgemeinen Schulen liegt dagegen bei 46,6 Prozent. Jedoch trägt dieser Vergleich nur bedingt, denn er sagt zu wenig über den Bedarf, die Art, Quantität und Qualität der nötigen oder gewährten Förderung aus.

Fest steht aber: Ohne Abschluss bleibt diesen Heranwachsenden in der Regel nur eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung als nächste Station. 316.000 Menschen arbeiten derzeit in einer. Andere EU-Länder gehen neue Wege: Irland und Finnland zum Beispiel haben sich gegen ein Werkstattmodell entschieden. Behinderte, die bei uns ein „klassisches“ Werkstattprofil aufweisen, bringt man dort möglichst in normale Jobs. 

Doch auch und gerade im Alltag steht einer echten Inklusion viel im Weg. Während in den USA der „American with Disabilities Act“ seit 1990 die Gleichstellung von Behinderten vorschreibt und so zumindest rechtlich die Diskriminierung durch Unternehmen und öffentliche Institutionen untersagt, fehlen vergleichbare Rechtsgrundlagen in Deutschland. Die Folge ist für Behinderte tagtäglich spürbar: In einer Umfrage der „Aktion Mensch“ von 2021 gaben 65 Prozent aller Befragten an, in Alltagssituationen auf Barrieren zu stoßen. Zu den am häufigsten genannten zählen: gesperrte oder zugestellte Wege, schlechter Straßenbelag, schwierig auszufüllende Formulare, Treppen im öffentlichen Raum sowie schlecht nutzbare Internetseiten. Nicht einmal der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist im Jahr 2021 flächendeckend barrierefrei.

Garantien statt Optionen

Neben den offensichtlichen Barrieren gibt es verborgene. So scheitern die 6,2 Millionen Analphabeten und Analphabetinnen in Deutschland an Alltäglichem: dem Verstehen von Fahrplänen, Lesen von Etiketten auf Lebensmitteln oder Beipackzetteln von Medikamenten. Das daraus folgende Problem, die eigene Gesundheit zu schützen, führt laut dem AOK-Bundesverband zu einer niedrigeren Lebenserwartung. Hier wie überhaupt wäre eine bessere Datenlage zur Situation Behinderter Voraussetzung, um bessere Maßnahmen zu ergreifen. Momentan zahlen Arbeitgeber, die – je nach Betriebsgröße – nicht eine Mindestanzahl an Schwerbehinderten beschäftigen, monatlich eine Ausgleichsabgabe an die Integrationsämter.

Wünschenswert wäre eine verpflichtende Gesetzesfolgenabschätzung, wie man sie aus dem Kampf gegen den -Klimawandel und der darauf reagierenden Wirtschafts- und Umweltpolitik kennt. Das könnte die Rechte der Behinderten stärken. Denn noch gelten Zugänge zu Gebäuden, Bildung oder Berufen sowie zur Entfaltung der Persönlichkeit nur als karitative Elemente. Vieles kann, wenig muss. Garantien und Verpflichtungen, wie im Umweltrecht, würden das ändern. Doch in den deutschen Parlamenten sind nur wenige Abgeordnete mit einer Behinderung vertreten.