Hans Geske, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Geschlechterverhältnisse und Sexualmoral bei Robert Michels. Eine Entwicklung vom politischen Aktivismus der Frauenemanzipation zur wissenschaftlichen Distanz des Soziologen (AT)

Robert Michels ist wahrscheinlich einer der am selektivsten rezipierten Autoren aus dem Bereich der politischen Theorie und Ideengeschichte – sowohl, was sein Werk, als auch, was Fakten zu seiner Biografie angeht. Eine „biographische Illusion“ attestiert Timm Genett der bisherigen Forschung zu dem Soziologen, Parteienforscher und Elitetheoretiker. Was er damit meint, ist die Tendenz, Michels Biografie als ein Kontinuum zu betrachten und so spätere Ereignisse – insbesondere die Wende des früheren Sozialisten Michels zum italienischen Faschismus – zur Erklärung seiner früheren Handlungen und Schriften heranzuziehen. Wenn auch im Detail unterschiedlich, vollführen doch alle Michels-Interpretationen vor Genett im Grunde genau diese Figur. Genetts materialreiche Dissertation setzt diesen Erzählungen einer Kontinuität, die in Michels' frühen Schriften bereits Ansätze des späteren Faschismus erblicken wollen, ein Narrativ der Brüche im Lebenslauf entgegen und plausibilisiert diese Sichtweise anhand vieler neuerer Informationen aus Archivfunden.

Um der biografischen Illusion zu entkommen, ist es unerlässlich, nicht nur den Gedanken an eine kontinuierlich erzählbare Lebensgeschichte, in der ein Abschnitt logisch aus dem anderen folgt, ad acta zu legen, sondern auch den Blick auf das Werk Robert Michels' zu weiten. Michels wird – basierend auf einer schon an sich unter dem Vorzeichen der biografischen Illusion stehenden Rezeption seines Hauptwerks Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie – gewöhnlich als Demokratiekritiker und Elitetheoretiker gelesen. Seine Veröffentlichungen zu anderen Forschungsbereichen werden kaum rezipiert. Nur aus diesem Umstand ist es zu erklären, dass Michels' Verwurzelung in einem „liberaldemokratischen Wertekosmos“ – und damit auch die Frage nach dem Verbleib dieser Werte in seinen späteren Werken – bislang kaum Erwähnung findet und damit die These vom prädestinierten Faschisten vor Genett weitestgehend unwidersprochen blieb.

So bilden etwa Michels' Schriften zu den Bereichen Geschlecht und Sexualität vor dem ersten Weltkrieg einen seltsamen Kontrast zu der Vorstellung eines Menschen, der sich auf geradem Weg in Richtung Faschismus befindet. Gerade die Parteiensoziologie gilt ja mit ihrer schonungslosen Aufdeckung oligarchischer Tendenzen in den Strukturen einer sich selbst als demokratisch verstehenden Partei (SPD) als deutliches Zeichen einer Abkehr von der Demokratie an sich und von ihren Werten. Wie ist es dann aber zu erklären, dass im gleichen Jahr mit den Grenzen der Geschlechtsmoral ein Buch von Michels erscheint, das universelle Menschenrechte, die Selbstbestimmung des Individuums und die Gleichberechtigung der Frau zum Inhalt hat?

Ich möchte mit meiner Dissertation ein alternatives Angebot machen, wie Michels' Weg vom Sozialisten zum Faschisten gedeutet werden kann – ein Angebot, das im Gegensatz zu bisherigen Arbeiten den Feministen und Sexualreformer in den Mittelpunkt stellt und so explizit den demokratisch-progressiven Zug in seinem Wirken untersucht. Die Frage lautet also nicht wie üblich: „Wo kommt der Faschist Michels her?“, sondern vielmehr: Was wurde aus dem demokratischen Feministen Michels? Kern meiner Untersuchung sollen daher all diejenigen Texte und Bücher von Michels sein, in denen er sich mit Geschlecht und Sexualität auseinandersetzt. Dabei identifiziere ich anhand inhaltlicher Merkmale verschiedene Phasen in seiner Behandlung der betreffenden Themen und arbeite deren Charakteristika heraus, um beobachten zu können, welche Elemente eines Sozial- bis liberaldemokratischen Weltbildes beim jungen Michels vorliegen und wie sich diese im Laufe der Zeit entwickeln.


Literatur:

Genett, Timm (2008): Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936. Berlin