Glimmerland: Weiterhin Kinderarbeit in illegalen Minen für das Mineral „Mica“

Recherche

Eine auf Satellitenbildern basierende Untersuchung von Vertical52 zeigt das Ausmaß der Kinderarbeit in illegalen Minen in Indien, die Mica produzieren, ein wichtiges Mineral für die Tech-Industrie. Die Untersuchung veranschaulicht die Notwendigkeit strengerer Regeln für Unternehmen, wie sie die EU in ihrem Richtlinienvorschlag zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette vorsieht. Die Recherche zeigt auch, dass umfassende Lösungen über Importverbote und Unternehmenshaftung hinausgehen müssen.

Hände mit Glimmer (Mica)

Global tätige Unternehmen stehen unter Druck, ihre Lieferketten zu säubern, doch der weltweite Hunger nach Rohstoffen hat das Risiko von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung erhöht. Mica (Glimmer) ist ein wichtiges Material für die Technologie- und Autoindustrie und wird auch in Kosmetika und Farben verwendet. Ein Viertel des Glimmers auf dem Weltmarkt stammt aus Indien, und Schätzungen zufolge stammt ein Großteil davon aus illegalen Minen, in denen auch Kinder arbeiten.  Die "Glimmerland"-Untersuchung - ein Projekt mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, DC und Brüssel, Europäische Union - zeigt, dass mehr gemeinsame Anstrengungen von Regierungen, Industrie und Zivilgesellschaft erforderlich sind, um Lösungen zu finden.

Auf Basis der Analyse von Satellitendaten und journalistischen Recherchen vor Ort zeigt diese Untersuchung von Vertical 52, dass sich das Gebiet der illegalen Glimmerminen in Indien trotz der Bemühungen von Industrie, Politik und Zivilgesellschaft in den letzten Jahren ausgeweitet hat. Kinderarbeit ist dort nach wie vor eine gängige Praxis und hat nach Beobachtungen lokal tätiger Nichtregierungsorganisationen weiter zugenommen, als während der Covid-19-Pandemie Schulen geschlossen wurden.

Kinderarbeit hat in der Covid-Pandemie zugenommen

Die von Vertical52 durchgeführte Analyse von Daten des Landsat-Satelliten der NASA ergab eine hohe Konzentration von Oberflächenglimmer im indischen Bundesstaat Jharkhand. Eine genauere Untersuchung anhand von Maxar-Daten, die auf Google Earth angezeigt werden, zeigt, dass sich die Fläche der offiziell stillgelegten Minen im Vergleich zu 2016 verdreifacht hat. Eine indische Journalistin reiste in die Region und fand Kinder wie das Teenagermädchen Nazneen, die die glitzernde Substanz von den Wänden schlecht gesicherter Minenschächte abkratzen, anstatt zur Schule zu gehen. Tödliche Unfälle sind häufig, wie indische Medienberichte zeigen.

Im Jahr 2017 verpflichtete sich die Responsible Mica Initiative, ein Zusammenschluss von mehr als 75 globalen Unternehmen, bis 2023 "inakzeptable Arbeitsbedingungen zu beseitigen und Kinderarbeit auszumerzen". In der Zwischenzeit hat die Gruppe dieses Ziel auf das Jahr 2030 verschoben. Der Initiative gehören die Automobilhersteller BMW, Daimler und Porsche, die Chemie- und Pharmaunternehmen BASF und Merck sowie die Kosmetikhersteller und -händler L'Oreal, Shiseido und Sephora an, daneben eine Reihe chinesischer und koreanischer Technologieunternehmen, aber auch die Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes.

EU drängt darauf, Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen

Weltweit versuchen die politischen Entscheidungsträger*innen, über freiwillige Selbstverpflichtungen zur sozialen Verantwortung von Unternehmen hinauszugehen, um Menschenrechte und ökologische Nachhaltigkeit in den Lieferketten zu verbessern. In ihrem Richtlinienvorschlag zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette will die Europäische Kommission Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeiter*innen und einem Jahresumsatz von mehr als 150 Millionen Euro zur Rechenschaft verpflichten und unter bestimmten Bedingungen rechtliche Sanktionen für Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung verhängen - eine Schwelle, die über das deutsche Lieferkettengesetz von 2021 hinausgeht, das derzeit erst für Unternehmen ab 3.000 Mitarbeiter*innen gilt. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission wären 13.000 Unternehmen in der EU und 4.000 Nicht-EU-Unternehmen von dem neuen Gesetz betroffen.

In den Vereinigten Staaten ist ein vergleichbarer umfassender gesetzlicher Ansatz nicht in Sicht. Die US-Regierung ist dabei, ihren Nationalen Aktionsplan für verantwortungsbewusstes Handeln in der Wirtschaft auf der Grundlage der in den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen und den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte festgelegten Grundsätze zu aktualisieren. Das Arbeitsministerium und andere Behörden stellen Leitlinien und Finanzhilfen zur Verfügung - von 4,5 Millionen Dollar zur Bekämpfung der Kinderarbeit im Micabergbau in Madagaskar bis hin zu einer behördenübergreifenden Initiative zur Förderung der weltweiten Arbeitnehmerrechte. Die Biden-Regierung hat jedoch eine führende Rolle bei der verstärkten Durchsetzung der Arbeitsbestimmungen des Handelsabkommens zwischen den USA, Mexiko und Kanada und des Einfuhrverbots für Produkte, die in der chinesischen Provinz Xinjiang in Zwangsarbeit hergestellt wurden, übernommen.

In ihrer Rede zur Lage der Union 2021 verkündete die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ein Verbot für die Einfuhr von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, einführen zu wollen. Das Europäische Parlament hatte zuvor die Schaffung eines "wirksamen Mechanismus zur Rückverfolgbarkeit von durch Zwangsarbeit hergestellten Waren" gefordert, der "den Weg für ein vollständiges Verbot der Einfuhr von Waren in die EU ebnen könnte, die durch moderne Formen der Sklaverei oder Zwangsarbeit hergestellt wurden, insbesondere durch Zwangsarbeit gefährdeter Gruppen, die unter Verletzung grundlegender Menschenrechtsstandards erpresst wurden".

Solche Instrumente sind eine extreme Maßnahme, um Länder für systematische Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. Für die meisten anderen Fälle, in denen Unternehmen nicht überprüfen, ob sie ein Produkt von einem verantwortungsvollen Hersteller beziehen, sind Gesetze zur Sorgfaltspflicht erforderlich. Im Fall von Glimmer aus Indien deuten die Exportstatistiken darauf hin, dass viele Importeure lieber nicht so genau hinschauen. Laut einer Open-Source-Dokumentenrecherche von Vertical52 findet sich weniger als ein Drittel der 150.000 Tonnen Glimmer, die laut indischer Exportstatistiken jährlich das Land verlassen, in den vom Indian Bureau of Mines (IBM) veröffentlichten Produktionsstatistiken wider. Der Glimmer aus illegal betriebenen Minen wird demnach nicht erfasst.

Satellitendaten zur Verfolgung von Lieferketten

Die Satellitendatenanalyse von Vertical52 zeigt, wie Bilder aus dem Weltraum bei der Verfolgung von Lieferketten in einer Reihe von Branchen eine Rolle spielen könnten. Doch die Interviews mit Arbeiter*innen in den Mica-Minen erinnern daran, dass eine echte Lösung weitaus komplexer ist als die Verfolgung von Verstößen und die Eliminierung problematischer Importe. Es gibt synthetische Alternativen für Glimmer, die sich für Kosmetika und Farben eignen, aber die Technologie- und Autoindustrie kann das kritische Mineral aufgrund seiner einzigartigen Eigenschaften wie hohe Hitzebeständigkeit und Leitfähigkeit nicht so einfach ersetzen.

Das Leben im verarmten indischen Bundesstaat Jharkhand würde sich nicht verbessern, wenn seine Glimmerminen vom Weltmarkt abgekoppelt würden. Deshalb fordert die Organisation Terre des Hommes, diese Minen zu legalisieren - unter der Bedingung, dass die lokalen Behörden für sichere Arbeitsbedingungen und faire Löhne sorgen - und Kinder wie Nazneen in die Schule zu schicken. Gleichzeitig steht der steigende globale Appetit auf Glimmer im Widerspruch zu dem ökologischen und sozialen Gebot, den Abbau, den Verbrauch und die Verarbeitung von Rohstoffen zu reduzieren. Aus diesem Grund müssen nachhaltige, längerfristige Lösungen auch alternative Lebensgrundlagen für die Bevölkerung von Jharkhand schaffen.

Die vollständige Untersuchung wurde in der ZEIT am 6. Mai 2022 veröffentlicht.