Denk ich an Einwanderungsland…

Wie kann eine Gesellschaft mit Einwanderung ihre eigene Einwanderungsgeschichte erzählen - und welche Orte braucht es dazu? Die Schriftstellerin Asal Dardan versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Nach Hanau.

Einwanderungsland ist ein seltsamer Begriff. Gibt es Länder, in die nicht eingewandert wird? Gibt es Länder, die Einwanderung mehr befördern als andere? Sollte ein Einwanderungsland von Grenzen umgeben sein? 

Was ist ein Einwanderungsland? Ist es ein Land, das Arbeit zulässt, die es zwingend benötigt? Oder eines, das Hilfe bietet, die dringend benötigt wird? Beschreibt der Begriff Einwanderungsland reale Verhältnisse oder ein Selbstverständnis? Wie wird ein Einwanderungsland gemacht, wie macht es sich?

Am 19. Februar 2022, einem Samstag, stand ich auf dem Hanauer Marktplatz und schaute auf das Brüder-Grimm-Nationaldenkmal. Die Sonne schien darauf, der Himmel war blau, es war sehr kalt und windig. Neben dem Denkmal war eine große Bühne aufgebaut worden, auf der unterschiedliche Menschen kurze Reden hielten. Im Vorfeld war entschieden worden, dass Politiker*innen nicht teilnehmen würden, um den Freund*innen, Hinterbliebenen und Aktivist*innen den Raum zu lassen. Es sprachen einige sehr junge Menschen, sie klangen kämpferisch und klar. Sie gaben mir Kraft.

Böll.Thema Verantwortung: Kerzen werden auf einer Gedenkfeier angezündet

Wenige Minuten zuvor hatte ich noch an anderer Stelle gestanden, hatte anderen Menschen zugehört. Auf dem Hanauer Heumarkt sprachen sie über getötete Familienmitglieder, waren wütend, wirkten viel zerbrechlicher als in den Videoclips, die ich von ihnen kannte. Ihre Bühne war kleiner, befand sich neben einem viel kleineren Denkmal: Ein kahler Stadtbaum, noch recht jung, an seinem Stammschutz lehnten mehrere Kränze und Blumensträuße. Um ihn herum waren Porträts von neun Menschen auf Augenhöhe angebracht, unter jedem Bild ein Name: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. Noch vor einigen Monaten hatten sich diese Bilder am Sockel des Brüder-Grimm-Denkmals befunden. 

Doch Hanau braucht nun ein anderes Denkmal, das daran erinnern soll, womit sein Name für lange Zeit verbunden sein wird. So wie die Namen von Mölln, Solingen, Dessau, Rostock-Lichtenhagen, Halle (Saale). Was wussten wir, die dort nicht lebten, vor diesen Morden über diese Städte? Gibt es ein anderes Land, in dem so viele Städtenamen mit rassistischer Gewalt verbunden werden? Wo kann man die Reste dieser Gewalt finden, wenn man diese Städte besucht? 

In Hanau hat man nach einer Antwort gesucht. Von den 118 Einreichungen aus dem In- und Ausland wurden fünf Entwürfe ausgewählt, um den Opfern der Gewalt ein Mahnmal zu errichten. Die Namen der Finalist*innen sind: Matthias Braun, Carla Mausch, Susanne Lorenz, Heino Hünnerkopf, Stephan Quappe Steffen.

In den Jahren 2020 und 2021 ereigneten sich täglich mindestens drei bis vier antisemitisch, rassistisch oder rechtsextrem motivierte Gewalttaten in Deutschland. Wie viele Menschen betrifft so eine Tat direkt? Wie sehen sie aus, wie heißen sie? Wie viele wurden verletzt, traumatisiert, entwürdigt, gedemütigt, versehrt oder sogar ermordet? Wie viele wurden zu Beistehenden, die nicht sehen, hören, helfen wollten? Wie viele weitere sind eingebunden in die Umstände, die Verfolgung, die Aufklärung? Die Verwischung, die Unsichtbarmachung? Wie viele betreffen diese Taten, wie sind sie verbunden?

Statt von innerer Zerrissenheit und äußerer Spaltung zu sprechen, könnten wir diese Verbindungen sichtbar machen: Man stelle sich ein Kartennetz vor, das sich aus den vielen Linien ergibt, die sich von einem Tatort zum anderen ziehen lassen. Offensichtlich wäre, dass es keinen Einzelfall gibt in diesem Netz. Nach und nach würde es alle miteinander verbinden. Vielleicht würde es, wie Peter Weiß formulierte, „spüren lassen, wie unzureichend schon die Beschreibung der kürzesten Wegstrecke wäre, indem jede eingeschlagene Richtung ihre Vieldeutigkeit eröffnete“. 

Bei der Hanauer Gedenkfeier am 19. Februar 2021, einem Freitag, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner online übertragenen Rede: „Jeder einzelne Mensch, um den wir trauern, war einerseits ein zufälliges Opfer, weil er gerade dort war, wo der Täter seinen mörderischen Plan umsetzen wollte. Andererseits waren die Opfer alles andere als zufällig: Weil sie in der hasserfüllten Vorstellung des Täters nicht hierhergehörten, gerade deshalb waren sie das präzise Ziel seines tödlichen Plans. Auch deswegen hat diese Tat ein solches Entsetzen ausgelöst, nicht nur, aber gerade unter allen Menschen mit Einwanderungsgeschichte.“ 

Millionen einzelner Geschichten, geeint in einer Geschichte des Entsetzens und der Angst, nicht einzeln gesehen zu werden. Als Masse, in der nichts mehr zählt und auch erzählt werden kann. Teil einer Masse ohne Namen, Hoffnungen, Vorher und Nachher, ohne Liebe, ohne Leben.

Eine Masse kann man nicht erinnern. Wir haben uns dennoch Erinnerungsorte gebaut. Einige von ihnen stehen in Mölln und Solingen, in Dessau und Rostock-Lichtenhagen, in Hanau und Halle (Saale). Wir haben an einer Topografie gebaut, die uns zeigt, wo wir uns befinden. Wir haben Straßen umbenannt und versucht, Namen zu erlernen. Mit jedem Jahr machen wir weniger Fehler bei der Aussprache: Wir sagen Ayşe Yılmaz, Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü, Mehmet Kubaşık und betonen den Buchstaben ş nun richtig. Wir sagen Oury Jalloh und wissen, dass das der Name eines Mannes war. Wir sagen Habil Kılıç oder Saime Genç und wissen, wie ein ç ausgesprochen wird. 

Böll.Thema Verantwortung: Kerzen und Blumen auf einer Gedenkfeier

Manche dieser Namen gehörten zu den zehn Millionen Namen von Menschen mit deutschem Pass, die man durch den Begriff Migrationshintergrund kennzeichnet. Andere waren Teil der Zahl 10,6 Millionen, mit der Menschen ohne deutschen Pass gemeint sind. Diese Zahlen weisen auf eine Gesellschaft hin, in die eingewandert wird. Das ist Realität. Um dem Selbstbild als Einwanderungsgesellschaft zu entsprechen, bedarf es einer Politik für solch eine Gesellschaft. Diese Politik würde gute Lebensbedingungen und Teilhabechancen für Eingewanderte bieten, würde sich keinem Fonds für Opfer rassistischer Gewalt widersetzen, keine Abschiebungen in der Nacht durchführen, würde glaubwürdig rechtsradikale Tendenzen in den Sicherheitsbehörden bekämpfen, würde Frontex nicht mit der abendländischen Kultur legitimieren. Würde nicht zulassen, dass ein Viertel der Bevölkerung bloß zehn Prozent im öffentlichen Dienst und sechs Prozent im Lehrdienst vertritt. Würde Eingewanderte nicht nur als Objekte der Migration behandeln, sondern als Subjekte im eigenen Land. Würde Einwanderungsland als Praxis verstehen.

Als ich am Nachmittag des 19. Februar 2022 in Hanau stand und fror, fragte ich mich, weshalb dem Bruder und Hinterbliebenen Çetin Gültekin auch zwei Jahre nach dem Anschlag nur Worte der Wut für die schwarz-grüne Landesregierung Hessens blieben. Fragte ich mich, weshalb die Mutter und Hinterbliebene Emiş Gürbüz wenige Stunden zuvor bei der Veranstaltung auf dem Hanauer Hauptfriedhof feststellen musste, dass dieselbe Landesregierung die Gedenkstunde an ihre neun ermordeten Familienmitglieder vereinnahmt hatte. Fragte ich mich, weshalb dieselbe Landesregierung es abgelehnt hatte, interne Verfassungsschutzakten zur NSU-Mordserie offenzulegen. Fragte ich mich, weshalb der Landesvorsitzende der hessischen Grünen Philip Krämer erst im Nachhinein feststellte, dass Abschiebungen nach Afghanistan ein Fehler gewesen waren. Fragte ich mich, wann endlich diese Opfer, die wir an diesem Tag betrauerten, auch von allen betrauert werden würden als unsere Opfer. Wann wir uns gemeinsam als uns erzählen würden.


Asal Dardan, geboren 1978 in Teheran, wuchs nach der Flucht ihrer Eltern aus dem Iran in Köln, Bonn und Aberdeen auf. Sie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund. Als freie Autorin schreibt sie u.a. für Zeit Online und Die Presse. Für ihren Text „Neue Jahre“ wurde sie mit dem Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik ausgezeichnet.

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