Die Suche Europas nach Gasressourcen in Afrika

Kommentar

Europäische Gaszukäufe werfen neue Dilemmata in den Beziehungen mit dem afrikanischen Kontinent auf.

Erdgas

Der senegalesische Präsident Macky Sall ist seit Anfang Februar 2022 Präsident der Afrikanischen Union (AU). Bereits in seiner Antrittsrede kritisierte er die Erklärung der COP 27 in Glasgow, in der führende Industrienationen und einige Entwicklungsbanken sich verpflichten, die öffentliche Finanzierung fossiler Energien inklusive Gas im Ausland bis Ende 2022 zu beenden, als „unilateral“.

Wenn Sall Gas als „sauberen Energieträger“ bezeichnet, spricht er nicht nur für Senegal, das kurz davorsteht, Erdgas in Höhe von über 425 Millionen Kubikmeter vor seiner Küste zu erschließen, sondern auch für einige seiner afrikanischen Amtskolleg*innen.  Die Unterzeichner der Glasgower Erklärung sollten, so der Präsident, erst einmal vor ihrer eigenen Haustür kehren und die Nutzung von Öl und Kohle einstellen, bevor sie Afrika die Finanzierung der Gasförderung verweigern.

Die „Zeitenwende“ in Westafrika

Kurz nach Salls Amtsantritt als Präsident der AU begann der Ukrainekrieg und damit die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ – auch in Energiefragen.

Was bedeutet Energiewende angesichts der durch den Krieg offensichtlich gewordenen massiven Abhängigkeit Deutschlands und Europas von russischem Gas? Wird der Krieg dem Ausbau Erneuerbarer Energien mittelfristig den überfälligen Aufschwung verleihen – so wie es das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima mit seinem ehrgeizigen „Osterpaket“ verspricht? Notgedrungen zeigt sich die Zeitenwende konkret bisher vor allem in neuen Im- und Exportvereinbarungen für fossile Brennstoffe und im Bau dazugehöriger Infrastrukturen.

Eine Realität, die Timipre Sylva, Staatsminister für Erdölressourcen in Nigeria, große Zukunftshoffnung für seinen Sektor beschert. Vergangen sind die Tage im März 2020, als Afrikas größter Erdölproduzent verzweifelt nach Abnehmern für sein gefördertes Öl und Gas suchte, nachdem die Weltwirtschaft zu Beginn der Pandemie zum Stillstand gekommen war. Der Krieg in der Ukraine hat seither die Preise von Öl und Gas auf den höchsten Stand seit der Weltwirtschaftskrise 2008 getrieben. Mit der Absicht, sich schnellstmöglich von russischem Öl und Gas unabhängig zu machen, sind die Europäer derzeit weltweit auf Einkaufstour nach den kostbaren Brennstoffen. Bereits Ende März 2022 traf sich eine Delegation von europäischen Botschafter*innen, angeführt von Samuela Isopi, der EU-Botschafterin für Nigeria, mit Sylva, um eine Erhöhung nigerianischer Gasexporte nach Europa anzubahnen. Auch bei der Afrikareise von Bundeskanzler Scholz im Mai standen Gasimporte ganz oben auf der Agenda. Im Senegal besprach Scholz mit Präsident Macky Sall eine Zusammenarbeit für die Erschließung der Gasressourcen des westafrikanischen Landes, das bisher in Europa eher für Kulturexporte wie die Musik von Youssou N’Dour bekannt ist, denn als Exporteur fossiler Brennstoffe.

Die ZEIT begrüßte die Zusage Scholz‘ mit der Überschrift „Olaf Scholz will Senegal bei der Gasförderung unterstützen“. Senegalesische Medien dagegen titelten am gleichen Tag „Deutschland will seinen Anteil am senegalesischen Gas“.

Senegal steht, anders als der Erdölgigant Nigeria, noch ganz am Anfang seiner Förderung von Öl und Gas. Bis vor kurzem hatte das Land angesichts der Folgen der Pandemie, im Zuge derer selbst große Erdölkonzerne wie BP ein Ende der fossilen Energie angekündigt hatten, Schwierigkeiten, auf den internationalen Finanzmärkten hinreichendes Investitionskapital für seine Öl- und Gasförderung einzuwerben. Die nun gestiegene Nachfrage der Europäer hat hier die Karten völlig neu gemischt.

Klimagerechtigkeit heißt Finanzierung von Gasprojekten in Afrika?

Bis noch vor wenigen Monaten war Gas auch in den Beziehungen zwischen Nigeria und Europa vor allem eher eines: Reizthema. Bei dem Treffen mit der EU-Delegation im März 2022 forderte der nigerianische Vizepräsident Yemi Osinbajo die Europäer*innen selbstbewusst dazu auf, von der Einstellung der öffentlichen Finanzierung von Gasprojekten in Nigeria und anderen Ländern des Globalen Südens während des Übergangs in eine Zukunft mit Netto-Nullemissionen abzusehen. Genau wie Macky Sall begründete Osinbajo seine Forderung damit, dass nur mit Hilfe von Gas als Brückentreibstoff eine gerechte Wende, eine „just transition“, möglich sei, die es Nigeria und anderen Ländern des Globalen Südens erlaube, sich zu industrialisieren, rasch Zugang zu moderner Energie für seine Bevölkerung und Wohlstand zu schaffen. Das Argument der Klimagerechtigkeit, das sonst eher unter Klimaaktivist*innen verbreitet ist, wird auch von Sall angeführt, wenn er eine Förderung von Gasprojekten für weitere 20 bis 30 Jahre als „saubere“ Energie fordert.

Nigerias Staatsminister Sylva hofft nun, dass der Bedarf der Europäer*innen nach neuen Gaslieferanten Großprojekten wie den Gaspipelines nach Algerien oder entlang der westafrikanischen Küste nach Marokko neue Flügel verleihen wird. Auch wenn deren Realisierung weiterhin ungewiss erscheint, befördert Europa derzeit genau jene Aspekte der nigerianischen Vision für seine reichhaltigen Erdgasvorkommen, von denen die breite Masse der Bevölkerung in Nigeria und anderswo auf dem Kontinent wohl am wenigsten profitieren dürfte: das altbekannte extraktive Exportmodell, das wenig zur Entwicklung des eigenen Landes beiträgt.

„Stranded assets“ durch deutsche Investitionen?

Umweltschutzorganisationen und Klimaaktivist*innen in Afrika mobilisieren derweil konsequent gegen jeglichen Ausbau fossiler Energien. Mohamed Adow, Gründer des Think Tanks Power Shift Africa in Nairobi und Träger des Climate Breakthrough Preises 2020, kritisiert in einem Gastbeitrag für die ZEIT im Anschluss an Scholz‘ Afrikareise „Deutschland will uns eine fossile Infrastruktur aufdrücken“.

Ein extraktives Exportmodell, das zudem zunehmend auf Sand gebaut ist: Europas Bedarf für Gas wird, sofern die Länder der EU ihre ambitionierten Ausbaupläne für erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff auch umsetzen, mittel bis langfristig stark zurückgehen. Damit drohen Teile von heute gebauter Gasinfrastruktur, deren Kosten sich häufig erst über Jahrzehnte decken, sogenannte „stranded assets“ zu werden. Davor hat auch Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck kürzlich gewarnt. Adow wirft den internationalen Öl- und Gaskonzernen vor, „Profite aus einer umweltschädigenden und scheiternden Industrie herauszuschlagen, die verlorenen Investitionen während des unvermeidlichen Übergangs auf Afrika abzuwälzen, und Afrikas Klimanöte komplett zu ignorieren.“

Kritische Auseinandersetzung zur Gas als Brückentreibstoff dringend nötig

Diese sich derzeit entfaltende, hektische Dynamik der Suche Europas nach Gasressourcen in Afrika ist auch deshalb bedauernswert, weil eine offene und kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten Salls und Osinbajos zur Rolle von Gas als Brückentreibstoff für die Schaffung von Zugang zu Energie und Entwicklung in Senegal, Nigeria und anderen Ländern des Kontinents durchaus angebracht ist.

Die von Osinbajo viel zitierte Einführung „sauberer“ Kochtechnologien ist in der Tat ein gutes Beispiel dafür, dass Gas eine relevante Rolle in diesem Jahrzehnt zu spielen hat, um schnellst möglich die Emissionen Nigerias zu verringern. 65% aller nigerianischer Haushalte benutzen nach wie vor Biomasse - hauptsächlich Feuerholz - zum Kochen. Lediglich knapp 60% der Bevölkerung haben Zugang zu Strom, den weniger als 1% zum Kochen benutzt. Der Ausbau von Kochen mit Flüssiggas ist bei Betrachtung derzeitiger Ausgangsbedingungen ein kaum verzichtbares Instrument, um einen zügigen Übergang zu einer Zukunft mit weniger Emissionen und Abholzung zu schaffen.    

Osinbajos Argumente und Ambitionen und die seiner Amtskolleg*innen in verschiedenen Ländern des Kontinents gehen jedoch weit über diesen Sektor hinaus. In Vorbereitung des kommenden Klimagipfels in Ägypten wappnen diese sich bereits für den Widerstand. Die Argumente dafür finden sich in dem kürzlich veröffentlichen Papier „On the Road to COP27 – Making Africa’s Case in the Climate Debate“ der Mo Ibrahim Foundation, die sich für ihren Einsatz für gute Regierungsführung in Afrika international einen Namen gemacht hat.

Obwohl die Region am wenigsten zur Klimakrise beigetragen hat, ist sie bereits heute am stärksten von seinen Folgen betroffen. Vor diesem Hintergrund unterstreicht das Papier das Engagement afrikanischer Staaten für und die Wichtigkeit von Klimaschutz. Allerdings gelte es eine tragfähige Balance zwischen Entwicklung und Klimazielen zu finden. Mehr als 600 Millionen Menschen auf dem Kontinent haben nach wie vor keinen Zugang zu Strom. Zwar erkennt der Bericht die weitreichenden Potentiale des Kontinents für Solar und Windenergie an, betont aber, dass trotz steigender öffentlicher Investitionen seitens afrikanischer Staaten nur ein kleiner Bruchteil davon erschlossen sei. Kurz- und mittelfristig sei damit auch der enorme Bedarf nach Strom nicht zu decken, da die Technologien zur Energiespeicherung nicht weit genug fortgeschritten seien, um die erneuerbare Energieerzeugung zu maximieren und Unregelmäßigkeiten in der Versorgung auszugleichen. Hier könnten Gas-zu-Strom-Projekte wesentlich sein, um eine stabile Versorgung zu gewährleisten und den Ausbau von Erneuerbaren Energien zu ergänzen. Selbst wenn Sub-Sahara-Afrika insgesamt (Südafrika ausgenommen) seinen Stromverbrauch ausschließlich durch die Nutzung von Gas verdreifachen würde, so rechnet das Papier vor, würde dies die globalen Emissionen um nicht mehr als 0,6% steigern. Konkret: der durchschnittliche Stromverbrauch pro Kopf pro Jahr liegt in Nigeria bei 145 Kilowattstunden, in Senegal bei 221 kWh und in Deutschland bei rund 6.500.

Wie stichhaltig die aufgeführten Argumente im Einzelnen und welche Schlussfolgerungen genau zu ziehen sind, gilt es im Kontext eines jeden Landes genau abzuwägen. Nigerias Ausgangsposition als Erdölstaat mit einem insgesamt dysfunktionalen Stromsektor und einer schnell wachsenden Bevölkerung von 200 Millionen Menschen unterscheidet sich stark von der des Senegal mit knapp 18 Millionen Menschen, das die erste Gasförderung überhaupt für 2023 ankündigt. Bisher existiert im Land kaum eine kritische Debatte zur bevorstehenden Öl- und Gasförderung. Lediglich einzelne NROs stellen die allgemein verbreiteten großen Hoffnungen auf Wohlstand durch Öl- und Gasförderung in Frage und fordern den verstärkten Ausbau Erneuerbarer Energien anstelle von Investitionen in Öl- und Gasinfrastruktur, angesichts der im Land bereits spürbaren Klimakrise.

Senegal ist Kandidat für eine Just Energy Transition Partnership, ein zentrales Instrument der klima- und energiepolitischen Kooperation Deutschlands. Aktuell laufen die Verhandlungen dafür in Dakar, in Vorbereitung auf den G7-Gipfel Ende Juni in Deutschland, und es bleibt abzuwarten, welchen Stellenwert Gas hier haben wird, insbesondere für die Energieversorgung des Senegal und nicht Europas. Angesichts der Tatsache, dass die Gasförderung in Senegal erst am Anfang steht, gilt es ebenfalls bereits jetzt zu diskutieren, wie gewährleistet werden kann, dass Gas wirklich als „Brückentechnologie“ dient und der fossile Brennstoff nicht bis zuletzt ausgebeutet wird und so die dringend nötige Energiewende verzögert wird.

Genauso wie in Deutschland sollte bei der Prüfung jeglicher Investitionen in Gasinfrastruktur die Frage im Zentrum stehen, wie kurzfristiger Nutzen maximiert und langfristige „lock-in“-Effekte minimiert werden können. Eine exportorientierte Gas-Bonanza, wie sie derzeit eher befördert wird, gilt es zu vermeiden. Dilemmata zwischen der Verpflichtung von Glasgow und den Ansprüchen afrikanischer Staaten werden bleiben und sollten offen diskutiert werden.

Wer sich jedoch in Europa einer offenen Debatte zum Thema Gasnutzung in Afrika verschließt und gleichzeitig afrikanisches Gas importiert, um den eigenen Wohlstand nicht zu gefährden, darf sich nicht wundern, dem Vorwurf der Doppelmoral ausgesetzt zu sein. Deutsche und europäische Außenpolitik gegenüber Afrika beansprucht für sich, Partnerschaften auf Augenhöhe voranzutreiben. Dies  sollte dann selbstredend auch für Europas Klimaaußenpolitik gelten.