In Erinnerung an Rechtsanwalt Zhang Sizhi

Nachruf

Die Heinrich-Böll-Stiftung trauert um den chinesischen Rechtsanwalt Zhang Sizhi, Träger des Petra-Kelly-Preises 2008 und langjähriger Freund der Stiftung. Er wird als Vorkämpfer für die Herrschaft des Rechts erinnert werden, dem sich auch die Mächtigen beugen müssen.

Zhang Sizhi
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Zhang Sizhi.

Die Heinrich-Böll-Stiftung trauert um den chinesischen Rechtsanwalt Zhang Sizhi, Träger des Petra-Kelly-Preises und langjähriger Freund der Stiftung. Am 24. Juni 2022 ist er in Peking gestorben, er wäre im November 95 Jahre alt geworden. Zhang Sizhi wird im Gedächtnis bleiben als Vorkämpfer für die Herrschaft des Rechts, dem sich alle beugen müssen - auch die Mächtigen.
In seinem langen Leben hat er sich nie dem Unrecht unterworfen, sondern klug und mutig seine Überzeugungen vertreten. Noch vor Gründung der Volksrepublik China studierte er Rechtswissenschaften und trat der kommunistischen Partei bei, die damals noch Revolutionspartei war. 1956 wurde er beauftragt, die Rechtsanwaltschaft in Peking aufzubauen, und war damit der erste in einer neuen Generation von Anwälten. Doch mit seinem Eintreten für Demokratie, Transparenz und Gerechtigkeit eckte er an, und schon im folgenden Jahr wurde er Opfer der Kampagne gegen „Rechtsabweichler.“ Fünfzehn Jahre lang wurde er in einem Lager außerhalb Pekings interniert und musste Zwangsarbeit verrichten.

Als nach dem Tod Maos Zedongs und dem Ende der Kulturrevolution die „Viererbande“ um Maos Frau in öffentlichen Prozessen zur Verantwortung gezogen werden sollte, befahl man Zhang, dabei mitzuwirken. Das Justizwesen und die Hochschulen waren während der Kulturrevolution zusammengebrochen, es gab nur noch wenige Juristen. Zhang weigerte sich zunächst, übernahm dann aber doch die Leitung der Verteidigung. Er hoffte, dass diese Prozesse ein erster Schritt von einer rechtlosen Gesellschaft zu einem Rechtsstaat sein könnten.

Diesen Weg beschritt Zhang Sizhi konsequent weiter. Er entschied sich gegen eine Karriere im Justizministerium, um als unabhängiger Anwalt zu arbeiten. Er gründete Chinas ersten Rechtsanwaltsverband und verfasste Lehrbücher für angehende Jurist*innen. Bald war er als „Gewissen der Anwälte“ Chinas bekannt, vor allem wegen seines Mutes, diejenigen zu verteidigen, die sonst niemand verteidigen wollte: Aktivist*innen für Demokratie und Religionsfreiheit, Menschenrechtsanwält*innen, in Ungnade gefallene Parteikader und einfache Bürger*innen, die in die Mühlen des Machtmissbrauchs geraten waren.

Er förderte die jüngere Generation der Anwält*innen und Rechtswissenschaftler*innen, wurde von ihnen als Vorbild und Mentor geliebt und geschätzt. Offizielle Auszeichnungen hat er im eigenen Land nie erhalten. Und auch mit internationalen Ehrungen wurde er nicht überhäuft. Als er 2008 für den Petra Kelly Preis für Menschenrechte der Heinrich-Böll-Stiftung vorgeschlagen wurde, war zunächst nicht klar, ob er den Preis akzeptieren würde. Wegen der politischen Sensitivität seiner Fälle hat Zhang Sizhi internationale Aufmerksamkeit eher gemieden, er hat immer sorgfältig abgewogen, welche Strategie seinen Mandant*innen am besten dient.
Bei einem ersten Treffen in Peking im Jahr 2007 mit Vertreter*innen der Heinrich-Böll-Stiftung wurde daher zunächst ausführlich über alles andere als über eine Preisverleihung geredet. Es ging um Überzeugungen, Ziele, Visionen und Strategien. Zhang Sizhi interessierte sich für die Arbeit der Stiftung überall in der Welt. Er war nicht nur ein begnadeter Redner, sondern auch ein außergewöhnlich guter Zuhörer. Über seine eigene Arbeit sprach er mit großer Bescheidenheit: Als Anwalt habe er gar keine andere Wahl, als sich für die Menschenrechte einzusetzen. Alle Anwälte seien schließlich Menschenrechtsverteidiger. Und besonders erfolgreich sei er ja nicht gewesen.

Tatsächlich hat Zhang Sizhi keinen seiner politischen Fälle „gewonnen“, seine Mandanten wurden immer verurteilt. In China, wo in politischen Prozessen bereits im Vorfeld klar ist, wie der Schuldspruch ausfallen wird, bleibt dem Anwalt nicht mehr, als in einem Plädoyer die Rechtslage darzulegen. Damit kann er vorführen, wie in chinesischen Gerichten das Recht gebeugt wird. Die Öffentlichkeit oder Medienvertreter*innen sind dabei meist ausgeschlossen.

Gerade aus diesem Grund hat Zhang entschieden, den Preis anzunehmen, stellvertretend für die chinesischen Rechtsanwält*innen. In seiner Rede zur Preisverleihung gab er der Hoffnung Ausdruck, dass 140.000 chinesische Anwält*innen eine Kraft seien, die für die Errichtung eines chinesischen Rechtsstaats eintreten werden. 

Zhang Sizhi war ein Optimist, obwohl er wenig Hoffnung auf baldige politische Reformen hegte. Sein scharfer analytischer Verstand erlaubte ihm keine Illusionen. Dennoch war er nicht verbittert, nahm Gefahren und Rückschläge nicht als Vorwand, nachzulassen in seinem Streben für Gerechtigkeit. Er ermutigte und unterstützte die Anwält*innen, die zu ihm kamen. Er ermahnte sie auch zur Vorsicht, zum Selbstschutz, in einem System, in dem Anwält*innen häufig für ihre Arbeit bestraft werden. Viele seiner Weggefährten verloren ihre anwaltliche Lizenz, oder wurden selbst angeklagt und verurteilt. Noch im hohen Alter setzte er sich immer noch aktiv für diese Menschen ein, bis ihn seine Gesundheit verließ.

Zhang Sizhi hinterlässt eine Lücke. Die, die ihm nahestanden, haben nicht nur einen Mentor verloren, sondern auch einen warmherzigen und großzügigen Freund. Sein Vermächtnis sind 70 Jahre Kampf für Recht und Gerechtigkeit. Er bleibt Vorbild und Inspiration für alle, die sich dafür einsetzen.