Wie TikTok Swipe für Swipe die US-Demokratie verändert

Analyse

TikTok ist das neue Facebook für die Kandidat*innen der Zwischenwahlen. Für Wähler*innen der Generation Z wird die Unterhaltungsplattform so zum Forum für politische Debatten. Ihr Erfolg macht die App zur Zielscheibe für Kritik. Es gibt Berichte über einen Wildwuchs von Fehlinformationen sowie Sicherheitsbedenken, weil die App in chinesischem Besitz ist.

Das Logo von Tiktok ist auf einem Bildschirm zu sehen.
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US-Nutzer*innen verbringen täglich rund 80 Minuten auf TikTok.

Hunde kommen in sozialen Medien immer gut an. Auch John Fetterman weiß das. Fetterman ist Kandidat der Demokraten für den Senat im US-Bundesstaat Pennsylvania, einem wichtigen „Swing State“, der über den Ausgang der Kongresswahlen im November entscheiden könnte. Mehmet Oz ist Fettermans Republikanischer Gegenkandidat ‒ und er hat ein Problem mit niedlichen Hündchen.

In Medienberichten wurde dem Mediziner vorgeworfen, unter seiner Leitung hätten an einem Labor an der New Yorker Columbia University missbräuchliche Tierversuche stattgefunden. Die Kampagne von Fetterman ließ dieses Thema nicht ungenutzt an sich vorbeiziehen. Auf Fettermans TikTok-Konto sahen Zehntausende ein Video von „Dr. Oz“ mit einem Golden Retriever überlagert von einem Artikel über die Tierversuche und dem Sound „I wanna go home“ – ein Ausschnitt aus einem Lied der nigerianischen Gospel-Band Destined Kids.

Auch Oz hält sich auf TikTok nicht zurück. Er bezeichnete Fetterman als verantwortungslosen Mann, der bis weit in seine Vierziger hinein auf dem Sofa seiner Eltern lebte. Seine Kampagne ging so weit, eine SMS-Hotline einzurichten, über die Nutzer*innen das Wort „LAZY“ an eine Nummer texten können. Als Antwort erhalten sie ein Meme von Fetterman als Riesenbaby sowie einen Spendenlink für seinen Wahlkampf.

Niemand kommt an Tiktok vorbei

Der TikTok-Krieg zwischen den Senatskandidaten von Pennsylvania zeigt, dass die beliebte App in den Mittelpunkt politischer Kampagnen gerückt ist. TikTok ist im Jahr 2022 das, was Facebook für die Obama-Ära war – ein Kanal, um mit jungen Wähler*innen in Kontakt zu treten oder an der Basis Spenden zu sammeln. Dieser Trend ist weltweit zu beobachten. Die liberale FDP – die beliebteste Partei unter jungen Wähler*innen bei der Bundestagswahl 2021 – war im Vorfeld der Wahl auf TikTok besonders präsent. Bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen 2022 setzte sich der populistische Kandidat Rodolfo Hernández überraschend knapp gegen den linken Spitzenkandidaten Gustavo Petro durch – nachdem er eine massive TikTok-Kampagne geführt hatte.

Dass TikTok so intensiv als Wahlkampfinstrument genutzt wird, ist ironisch für eine App, die sich in erster Linie als Unterhaltungsplattform versteht. Doch die Politik kommt um diese App, eine der beliebtesten und am häufigsten heruntergeladenen Social-Media-Apps der Welt, einfach nicht mehr herum. Dies gilt umso mehr, weil das Videoformat so viele kreative Möglichkeiten für die Vermittlung politischer Inhalte eröffnet.

Zumindest bei jungen Nutzer*innen stellt TikTok den Erfolg etablierter Akteure wie Facebook in den Schatten. Im Jahr 2021 feierte das Unternehmen nach eigenen Angaben 1 Milliarde monatliche Nutzer*innen weltweit. Nach Angaben des Webanalyseunternehmens CloudFlare verzeichnete sie im selben Jahr mehr Besucher*innen als die Suchmaschine Google. Die größte Nutzerbasis hat die App mit 137 Millionen in den Vereinigten Staaten, gefolgt von Indonesien und Brasilien. Sie erreicht ein großes junges Publikum – zwei Drittel der US-Teenager nutzen sie regelmäßig. Für die Generation Z ist der Dienst, der für Tanz- und Musikvideos bekannt wurde, zu einer Quelle für alle Arten von Informationen geworden, einschließlich Politik.

Aufgrund seines Erfolgs gerät TikTok nun auch stärker in den Blick der breiteren Öffentlichkeit. Wie bei Facebook, Instagram, Twitter oder Youtube bemängeln kritische Stimmen die personalisierten Inhaltsempfehlungen und die fehlende Inhaltsmoderation. Die Tatsache, dass der Dienst in chinesischem Besitz ist, wirft zusätzliche Bedenken auf hinsichtlich Datensicherheit, Zensur kontroverser Themen und der Möglichkeit ausländischer Einflussnahme.

Politische Entscheidungsträger*innen, Fachwelt und Zivilgesellschaft kritisieren die App aus verschiedenen Gründen. Viele der Bedenken sind bekannt von anderen führenden Plattformen, wie etwa der Einsatz undurchsichtiger Empfehlungsalgorithmen. TikTok überwacht die Aktivitäten der Nutzer*innen auf der Plattform bis ins letzte Detail. Das Unternehmen speist diese Daten dann in einen Algorithmus ein, der den Nutzer*innen binnen Minuten Beiträge entsprechend ihrer persönlichen Vorlieben anzeigt. In Kombination mit dem ansprechenden Videoformat macht die App daher extrem süchtig. US-Nutzer*innen verbringen täglich rund 80 Minuten auf der Plattform, mehr als auf Facebook und Instagram zusammen.

Offene Schleusen für schädliche Inhalte

Wie bei Facebook oder Twitter öffnet der Personalisierungs- und Empfehlungsmechanismus Hassreden und Falschinformationen Tür und Tor. Die Medienaufsichtsbehörde Newsguard fand vor Kurzem bei einer Stichprobe von Suchanfragen zu prominenten Nachrichtenthemen heraus, dass fast 20 Prozent der angezeigten Videos Fehlinformationen enthielten, und dass falsche und irreführende Informationen in den Top-20-Ergebnissen weit häufiger auftauchten als bei Google-Suchen. Neben Videos, die das Narrativ der amerikanischen Rechten von den gestohlenen Präsidentschaftswahlen 2020 verbreiten, fanden die Ermittler leicht zugängliche Fehlinformationen über falsche Heilmittel für Covid-19 und über Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Da TikTok mit der Moderation von Inhalten ohnehin kaum hinterherkommt, stellen nicht-englischsprachige Inhalte eine besondere Herausforderung dar. Alle Social-Media-Plattformen berichten von Problemen bei der Bekämpfung von Fehlinformationen in spanischer Sprache vor den Wahlen in den Vereinigten Staaten, wo spanischsprachige Amerikaner*innen eine wichtige Wählergruppe darstellen.

TikTok hat nun, wie die anderen Plattformen auch, seine Sicherheitsmaßnahmen für die Wahlen verbessert. Die Plattform verbietet schon länger politische Inhalte in Werbeanzeigen. Kürzlich wurde das Spendensammeln durch politische Kandidat*innen oder Parteien verboten. Derzeit testet TikTok eine neue Regel, nach der politische Konten überprüft werden müssen.

Das Unternehmen gab außerdem seine Zusammenarbeit mit den Wahlbehörden bekannt, um zuverlässige Informationen in mehr als 45 Sprachen bereitzustellen. Sechs Wochen früher als noch bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen des Jahres 2020 begann TikTok damit, Posts über die Zwischenwahlen mit einem Label zu versehen, das zu einem App-internen „Elections Center“ führt. Dort können Nutzer*innen sich über die Wahlverfahren der einzelnen Bundesstaaten informieren und irreführende Informationen melden. Tiktok versprach auch, keine Beiträge mehr zu empfehlen, die aktuell von Moderator*innen geprüft werden. Wie Facebook und Twitter setzt auch TikTok auf eine Kombination aus menschlicher und automatisierter Moderation, um die Verbreitung schädlicher Inhalte zu kontrollieren.

Doch wer definiert, was ein schädlicher Inhalt ist? TikTok wurde beschuldigt, Inhalte zu politisch kontroversen Themen in den Vereinigten Staaten zu unterdrücken, von Hinweisen auf die Black-Lives-Matter-Bewegung bis hin zu Inhalten für sowie auch gegen Abtreibung.

Ein chinesisches trojanisches Pferd?

Doch die Bedenken gehen noch weiter. Die Eigentümerstruktur der App, die sich im Besitz des chinesischen Unternehmens ByteDance befindet, wirft in den USA und anderen Ländern Fragen nach der nationalen Sicherheit auf. Befürchtet wird eine mögliche politische Einmischung Chinas – etwa durch die Verbreitung chinesischer Narrative oder durch die Herabstufung von Inhalten zu Themen, die von den chinesischen Behörden als sensibel angesehen werden.

Die andere Sorge ist die Frage, ob sich die Kommunistische Partei Chinas Zugang zu persönlichen Nutzerdaten von Amerikaner*innen verschaffen könnte. Im Juni berichtete BuzzFeed News, dass die Daten von US-Nutzer*innen zwar in den Vereinigten Staaten gespeichert werden, dass aber mehrfach von China aus darauf zugegriffen wurde. Im Oktober berichtete Forbes, dass das interne Audit-Team von ByteDance plante, mittels der App persönliche Standortdaten bestimmter amerikanischer Bürger*innen zu überwachen.

„Ich bin sehr besorgt über TikTok und darüber, wie China seinen Einfluss nutzen könnte, um auf die Daten von Amerikaner*innen auf der Plattform zuzugreifen“, sagte der Republikanische Senator Rob Portman aus Ohio bei der Anhörung von Vanessa Pappas, Chief Operation Officer des Unternehmens, durch den Ausschuss für Innere Sicherheit im September.

Die Fachwelt ist sich indessen uneins über die Gefahren der App. Manche bezeichnen sie als „trojanisches Pferd“ für chinesische Überwachung und Einflussnahme, zumal das Unternehmen die Möglichkeit eines Datenzugriffs aus China nie ausdrücklich ausgeschlossen hat. Andere sehen die Gefahren eher in den üblichen Risiken, die auch von großen US-Plattformen ausgehen, die persönliche Daten monetarisieren, wie z. B. beim Cambridge Analytica-Skandal von Facebook, bei dem Datensätze von Millionen Amerikaner*innen an die Beratungsagentur im Dienste Trumps verkauft und bei der Präsidentschaftswahl 2016 zur Beeinflussung von US-Wähler*innen verwendet wurden.

Klar ist, dass TikTok jetzt im Mittelpunkt der Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China steht – und somit auch im globalen Wettbewerb zwischen Demokratien und Chinas Einparteienstaat. Nach einem militärischen Scharmützel an der umstrittenen Grenze zu China hat Indien unter Berufung auf den Schutz der nationalen Sicherheit die App zusammen mit 48 anderen chinesischen Apps verboten. Matthias Döpfner, Chef des konservativen deutschen Medienkonzerns Springer, sagte: „TikTok gehört in jeder Demokratie verboten.“ In seinen Ausführungen auf der Vox Media Code Conference in Los Angeles im September kritisierte er die „Naivität“ des Westens im Umgang mit China.

In den Vereinigten Staaten spielt TikTok eine wichtige Rolle im innenpolitischen Wettbewerb um den inoffiziellen Titel des größten „China-Falken“. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte gedroht, die App zu verbieten, falls ByteDance sich nicht von TikTok trennt. Die Biden-Regierung erarbeitet gerade eine Sicherheitsvereinbarung, unter der TikTok weiterhin in den Vereinigten Staaten operieren kann, ohne dass sich die Eigentumsverhältnisse ändern. Berichten zufolge wird die Vereinbarung eine Bestimmung enthalten, wonach Daten von Amerikaner*innen auf sicheren Servern in den Vereinigten Staaten gespeichert und der Datenzugriff aus China unterbunden werden solle.

Die unterschiedliche Haltung von Trump und Biden könnte der Grund sein, warum sich einige Republikaner*innen von TikTok fernhalten. Ein anderer Grund wäre, dass es ihnen einfach schwerer fällt, eine Verbindung zum TikTok-Publikum herzustellen. Floridas Republikanischer Senator Marco Rubio veröffentlichte diesen Sommer einen Werbespot gegen seine ihm schwer zusetzende Demokratische Herausforderin Val Demings, in dem er sie als verantwortungslos beschimpfte, weil sie TikTok benutzt. Ein Sprecher der Demings-Kampagne antwortete mit dem entwaffnenden Argument: „Wir sind aus einem ganz einfachen Grund auf TikTok: Dort sind die Wähler*innen.“


Übersetzung aus dem Englischen: Kerstin Trimble