Eröffnungsrede: Kyjiwer Gespräche 2022

„Keine echte Ukraine-Kompetenz ohne Kenntnisse der Sprache, Geschichte und Kultur des Landes (…) Die Ukraine hat immer noch keine volle kulturelle Selbständigkeit und Handlungskompetenz (agency) im deutschen öffentlichen Raum!“ eröffnete Andrii Portnov die Kyjiwer Gespräche am 12. Oktober, er ist Inhaber der einzigen Professur in Deutschland, die „Geschichte der Ukraine“ im Titel trägt.

Andrii Portnov, Professor für Entangled History of Ukraine, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder
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Andrii Portnov, Professor für Entangled History of Ukraine, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder

Доброго вечора! 

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst möchte ich mich bedanken. Ich danke den Organisatorinnen für die Gelegenheit, hier sprechen zu können. Ich danke der deutschen Regierung für ihre Entscheidung, die schutzbedürftigen Ukrainerinnen und Ukrainer vor dem von Russland entfesselten Krieg aufzunehmen und ihnen zu helfen. Zu diesen Hunderttausenden von Menschen gehören auch meine Eltern aus Dnipro, denen ich in ihrem Namen meinen Dank ausspreche. Die deutsche Regierung hat viel getan, aber sie kann noch mehr tun. Und damit komme ich zum Hauptteil meiner kurzen Rede.

Wenn wir von der Zeitenwende sprechen, sollte der Stand der deutschen Ukraine-Expertise ernsthaft diskutiert werden. Auf verschiedenen Ebenen. Für mich ist klar, dass echte Ukraine-Kompetenz ohne Kenntnisse der Sprache, Geschichte und Kultur des Landes nicht möglich ist. Deshalb arbeiten wir mit meinen Kolleginnen mit Hochdruck an unserem Lehrstuhl „Entangled History of Ukraine“ an der Europa-Universität Viadrina in Farnkfurt an der Oder – die einzige Professur in Deutschland mit „Geschichte der Ukraine“ im Titel und die wahrscheinlich kleinste in Deutschland, was die Finanzierung angeht. Echtes Fachwissen ist also systematisches, sinnvolles Wissen. Es geht auch um den Mut und die Verantwortung, Dinge zu sagen, die nicht immer angenehm sind.

Wir alle beobachten die deutsche Debatte über die Ukraine. Ich erlaube mir, zwei Beispiele anzuführen, die meines Erachtens eine eingehende Betrachtung verdienen. Beispiel eins. Nach wiederholten homophoben Äußerungen von Präsident Putin und nach der nachgewiesenen Folterung und Ermordung homosexueller Männer in Tschetschenien veröffentlichte eine Gruppe deutscher Feministinnen einen Pro-Putin-Appell. Beispiel zwei. Putin schloss seine jüngste Rede über eine weitere Zerstörung der territorialen Integrität der Ukraine mit einem Zitat des russischen Publizisten der Zwischenkriegszeit, Iwan Iljin. Und dies ist nicht das erste Mal, dass er Iljin zitiert. Wer war Iljin? In den 1930er Jahren begrüßte er Hitler, und bereits 1928 veröffentlichte er ein Artikel „Über den russischen Faschismus“. So war Putins „Lieblingsphilosoph“ selbst stolz darauf, sich einen „russischen Faschisten“ zu nennen. Nun die Frage. Warum beginnt fast keine deutsche Diskussion über die russische Geschichte oder Kultur mit einer Auseinandersetzung mit dem Faschisten Iljin, aber in fast jeder Diskussion über die Ukraine ist das Thema Bandera präsent? Warum war es für deutsche Faschisten neulich in Leipzig so einfach, Menschen mit ukrainischen Fahnen zuzurufen: „Nazis raus!“?..

Warum sind wir da so nachsichtig? Meine Antwort liegt im Bereich der Kulturpolitik und der historischen Stereotypen. Die Ukraine hat immer noch keine volle kulturelle Selbständigkeit und Handlungskompetenz (agency) im deutschen öffentlichen Raum! Wie Lia Dostlieva, eine Künstlerin aus der ukrainischen Stadt Donezk, treffend feststellte: «A unique amount of attention to Ukraine after the full-scale Russian military invasion does not necessarily come with ability to hear and to understand».  Wenn ich wieder einmal ein Gespräch über Bandera höre, dann ist mir klar, dass es sehr oft nur ein Vorwand und eine Ausrede für mangelndes Empathie ist, für den Unwillen, die Ukraine zu verstehen und als gleichwertigen Partnerin zu akzeptieren. Und auch: die fehlende Bereitschaft zu wissen und anzuerkennen, dass die Ukraine Dmytro Čyževs`kyj, Lesja Ukrainka, Jurij Klen, Oleksandr Dowschenko, Roman Rosdolsky, Viktor Petrov und viele, viele andere ist. Ich habe absichtlich die Namen der Schriftsteller, Philosophen und Regisseure genannt, die ihre Werke auch auf Deutsch veröffentlicht haben! Fangen wir endlich an, über sie zu sprechen, fangen wir an, ihre Werke systematisch zu übersetzen! Lassen wir uns mehr über die ukrainische Menschenrechtstradition sprechen, über Menschen wie Alla Horska, Mustafa Dschemiljew, wie Maksym Butkevych. Maksym – eine erstaunliche Persönlichkeit, ein konsequenter Kämpfer für die Rechte von Migrantinnen und Migranten und ein Gegner jeglichen Nationalismus, der sich seit Juni in russischer Gefangenschaft befindet – verdient unsere spezielle Aufmerksamkeit.

Ein aufrichtiger Wissensdurst ist die wichtigste Voraussetzung für den deutsch-ukrainischen Dialog. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Faktor Russland bzw. die historisch bedingte Trägheit der Haltung gegenüber Russland und die Unfähigkeit, die Ukraine als von Russland komplett unabhängig zu betrachten. Mir scheint, dass die Metapher a la „ungleiche Brüder“ in der heutigen Debatte über die russisch-ukrainischen Beziehungen nicht mehr ausreicht. Es ist an der Zeit, auch in Deutschland, ernsthaft über die De-kolonialisierung Russlands zu sprechen. Und über das Recht der Ukraine auf eine postkoloniale Perspektive. Es ist wichtig zu betonen, dass dies nicht bedeutet, dass die gesamte komplexe Geschichte der russisch-ukrainischen historischen Beziehungen ausschließlich durch eine koloniale Brille erklärt werden kann. Es geht darum, diese Optik auch in der deutschen Auseinandersetzung mit dem Russländischen Reich und der Sowjetunion voll anzuerkennen. Dies gilt umso mehr, als es in den letzten Jahrzehnten daran gefehlt hat. Übrigens haben wir diese Themen schon vor zehn-fünfzehn Jahren in Gesprächen mit den bemerkenswerten russischen Intellektuellen Boris Dubin und Dmitrij Furman angesprochen. Ein komplettes Umdenken in der Geschichte impliziert nicht nur ein Bewusstsein für die sogenannte „deutsche historische Verantwortung“ gegenüber der Ukraine, sondern auch ein tiefes Verständnis dafür, dass die Sowjetunion nicht Russland war und das moderne Russland die Russländische (und nicht Russische) Föderation ist.

Ein wichtiges Problem im Zusammenhang mit unserem Forum ist das Deutschlandbild in der heutigen Ukraine. Leider lässt dieses Bild aufgrund von Kommunikationsfehlern und der Vernachlässigung des Kontextes viel zu wünschen übrig, um es gelinde auszudrücken. Ihre Korrektur ist eine Aufgabe für die deutsche Politik, und kann das Ergebnis einer angemessenen Expertise zur Ukraine sein.

Ich möchte daran erinnern, dass es die deutsche Geschichtsschreibung war, die in den 1980er und frühen 1990er Jahren eine innovative Rolle beim intellektuellen Umdenken über das Wesen des Russländischen Reiches und der Sowjetunion spielte. Ich denke dabei vor allem an die bemerkenswerten Forschungen von Andreas Kappeler und Gerhard Simon. Ich würde es sehr begrüßen, wenn diese Tradition heute fortgesetzt würde. In enger Zusammenarbeit mit unseren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen – mit denen, die die Ukraine verlassen mussten, und denen, die zu Hause geblieben sind.

Kurze Schlussfolgerungen.

Zeitenwende? Wie meine Freunde aus der jüdischen Gemeinde Dnipro sagen: Ja und nein. Ich denke, wir sind im Prozess. Wir sehen oft nur Bedrohungen und verpassen es, die Chancen zu erkennen. Zum Beispiel eine Chance für ein neues Europa, in dem Deutschland, die Ukraine und Polen strategische Partner sein werden. Eine Chance für einen neuen akademischen Diskurs, für eine neue Sprache, um den Osten Europas zu beschreiben. Ich wünsche uns sehr, dass wir keine Angst vor dieser Neuheit haben, dass sie mit Kompetenz, Wissen und Verantwortung einhergeht. Und dass wir keine Angst vor dem Bösen haben. Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihre Heimat und Europa verteidigen haben sich nicht davor gefürchtet, und die verdienen unseren Respekt und unsere Dankbarkeit.